Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Zum anstehenden Tag des Kusses (6.7.): Ein Verzählche vom ersten Mal

ape. Kirmeswochenende, ungefähr anno 1968/69. Da ist unser Mann noch ein Bub, doch bereits ein, zwei Schrittchen unterwegs zum Jüngling. Auf dem Festplatz des kleinen Neckarstädtchen hat man ein Festzelt errichtet, so ein großes nach bayerischer Manier mit langen Tischreihen, an denen feierwütiges Volk hüben und drüben auf Holzbänke gequetscht hockt. „Kinder- und Jugendnachmittag“ ist ausgerufen, weshalb sich unter den Planen alles aus nah und drumherum tummelt, von Windelschissern bis Oberlippenflaumern und BH-Ausstopferinnnen.
Vorne auf dem Tanzboden toben die Kleinen durch allerhand animierte Spielchen. Eltern und Großeltern stehen aufmunternd bis stolz oder besorgt am Rande. „Die Jugend“ hat sich im hinteren Zeltdrittel auf den Bänken breit gemacht, spielt pallavernd, rumorend, gockelnd, gickelnd ihre Spielchen, während sie auf die „Pop-Disco“ wartet, die am späteren Nachmittag die Kinderbelustigung ablösen soll. Eines der Spielchen geht so: Auf den Tischen stehen Cola- und Limoflaschen, drunter kreisen zwischen den Beinen die Halbliterkrüge mit schäumendem Kirmesbier. Wer weiß, woher die verbotener Weise stammen? Niemand – jede/r. An etlichen Stellen qualmt es von unten rauf unter immer wieder tief geneigten Köpfen hervor.
Der Meinungsaustausch unter Mädchen, unter Jungs, bald auch zwischen beiden wogt lebhaft. Es geht um Musik: Beatles oder lieber Stones? Hippies oder Schickies? In dieser Stunde nicht so sehr um Krieg und Frieden in Vietnam, mehr um die neusten News aus der Bravo über das Liebesleben derer, die da unterm Zeltdach gerade einander interessiert beäugen. Und urplötzlich überfällt unseren Buben die neben ihm sitzende, vielleicht ein Jahr ältere Maid mit der Frage: „Weißt du wie Knutschen geht?“
Au weh. Gegen den Wechsel der Gesichtsfarbe lässt sich wohl ebenso wenig machen wie gegen die Hitzewallung vom Fußzeh bis zur Haarspitze. Was sagt man(n) da? „Ich hab‘ keine Ahnung“, wäre die Wahrheit – aber auch eine arge Blamage. Andererseits könnte das im Bubenkreis sonst übliche Erfahrenheitsgetue hier zum Hochkrisiko werden. Denn das Mädchen sitzt gar zu nahe und möcht‘ am Ende sofortemang die reale Probe aufs Exempel einfordern. Weshalb unser Kerl rumstottert, verlegen lacht und geschwind seinen Kopf unter den Tisch steckt, um an der Overstolz zu ziehen.
„Aha“, stellt darauf sie unerbittlich fest, „du weißt es nicht, hast es noch nie gemacht.“ Gleich setzt sie die vom Magisterpersonal an der Schule her bekannte Miene auf – so eine Mischung aus Mitleid, Fürsorglichkeit, wissendem Selbstbewusstsein und erklärt unversehens mit Nachdruck: „Kein Problem, ich zeig es dir.“ Und schon packt sie unseres Buben Kopf mit beiden Händen, zerrt sein Gesicht in Schrägstellung Nase an Nase vor das ihre und kommandiert: „Mach den Mund auf!“ Zugleich öffnet sie den ihren sperrangelweit, stülpt ihn buchstäblich nassforsch gänzlich über den seinen – und schiebt ihm ihre heftig rotierende Zunge bis tief in den Hals.
Kurze Atempause. Feststellung ihrererseits: „Gut, gell!“ Und schon zerrt sie unser sprachloses und von der Oberlippe bis zum Kinn tropfnasses Kerlchen zur nächsten Runde an sich. Was mag er gedacht haben? Wahrscheinlich etwas in die Richtung „Küssen wird maßlos überschätzt“. Aber wie das eben so ist im frühen Sturm-und-Drang-Alter: Mit dem eben Gelernten will anderweitig Eindruck geschunden werden. Die „Lehrerin“ verliert gleich nach der Lehrstunde das Interesse an ihrem Knutschschüler, weshalb der dann im Verlauf der Pop-Disco ein anderes Mädchen mit seinen neuen Kenntnissen „beglücken“ will.
Doch dieses Girl tritt ihn gewaltig vors Schienbein: „Stop, stop, stop! So geht das nicht. Das ist ja eklig.“ Weil sie aber ein kluges, tatsächlich verständnisvolles, tatsächlich selbstbewusstes Mädchen ist, lehrt sie ihn an diesem Spätnachmittag die zarten Anfangsgründe des echten Kuss-Himmelreiches. Einige Wochen werden sie dann „miteinander gehen“ und anbei versuchen, testen, üben, was den Anfang vergessen lässt, der auch hätte zum Kuss-Trauma werden können.  Andreas Pecht
Andreas Pecht

Kulturjournalist i.R.

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