ape. Es sind große Worte gefallen 2008. Vom Ende des Neoliberalismus war die Rede, gar von der Geburt eines dritten Weges zwischen Sozialismus und Turbokapitalismus. Im Zuge der Finanzkrise signalisierten Begriffe wie Zeitenwende oder Paradigmenwechsel einen grundstürzenden Wandel der öffentlichen Meinung. Das traditionelle Neujahrsessay beleuchtet die Abkehr von den Glücksverheißungen der staatsfreien Märkte, die einhergeht mit der Hoffnung auf die Rückkehr des Staates als dominante Ordnungskraft im Interesse des Gemeinwohls.
Das Besondere des Jahres 2008 war – wird es auch 2009 bleiben – die Gleichzeitigkeit von vier Weltkrisen: Finanz- und Wirtschaftskrise, Klimakrise, Ernährungskrise sowie planetare Übervölkerung. Alle vier stehen in mannigfachen Wechselwirkungen miteinander. Allen vieren ist gemeinsam: Sie sind Ergebnis scheinbar grenzenlosen Wachstums. Eine Weltbevölkerung, die rasend schnell auf acht Milliarden Menschen anschwillt, will ernährt sein. Die gewaltigen Völkerschaften der Schwellenländer sind angetreten zur Aufholjagd in Richtung Erstwelt-Lebensstandard. Die alten Industriemächte wollen ihre Vormachtstellung behaupten und weiter wachsen.
Aus diesen Faktoren resultiert tendenziell steigender Verbrauch von Ressourcen jedweder Art, seien es Ackerfläche oder Wasser, seien es Erze, Holz, Kohle, Gas oder Öl. Eine der Folgen: Im Wettlauf zwischen Befeuerung des Klimawandels und dessen Begrenzung hat Ersteres deutlich die Nase vorn. Über all dem schwebt ein Paradoxon: Ein Weltwirtschaftssystem, das, erstens, ohne permanentes Wachstum nicht funktioniert; das, zweitens, kaum nach dem Nutzwert-Ergebnis von Investitionen fragt, sondern bloß nach Rendite.
Über Jahre galt offiziell als ausgemacht, dass solches Gewinnstreben positiv sei, weil es letztlich doch irgendwie zu rechtem Nutzen und Wohlstand führe – wenngleich auf manch schmerzhaften Umwegen. Weshalb auch Privatisierung rundum als probates Mittel galt zur Senkung öffentlicher Ausgaben bei zugleich angeblich verbesserter Erfüllung der vormals öffentlichen Aufgaben. Ob Post, Bahn oder Müllabfuhr, ob Stromnetz, Wasserversorgung oder Straßenbau, ob Gesundheitsdienst, Universitäten oder Altersvorsorge: „Liberalisierung“ wurde als allfälliges Heilsversprechen mit schier religiöser Inbrunst aufgegriffen.
Traumprofit ohne Arbeit?
Dem Versprechen erlagen zuletzt auch jene Bürger, die nach Abzug der Lebenshaltung noch etwas beiseite legen konnten. Sie folgten gutgläubig oder blind vor Gier dem Vorbild und dem Locken der Finanzwirtschaft, steckten ihr Geld in allerlei Supergewinn verheißende Abenteuer. Das frühe 21. Jahrhundert war wie im Fieber von einer absurden Illusion durchtränkt: Geld arbeite – und zwar profitabler als es Menschen je könnten. Vergessen die Grunderkenntnis allen Wirtschaftens: Neuen Wert, echten Mehrwert, schafft am Ende nur menschliche Arbeit!
Das Resultat ist bekannt. Es darf derzeit als schwerste Finanzkrise seit 1929 bestaunt, in den nächsten Jahren womöglich als harte Wirtschaftskrise durchlitten und nachher von überschuldeten Folgegenerationen ausgebadet werden. Wie dieser Einschnitt das Denken der Menschen verändert, lässt sich vollends noch nicht überschauen.
Unverkennbar ist indes schon dies: 2008 platzte nicht nur eine weitere Spekulationsblase, sondern erlitt vor aller Augen die Heilslehre vom beglückenden Wirken ungehemmter Marktkräfte völligen Schiffbruch. Der Markt und seine großmächtigen Akteure haben ihr Ansehen verspielt. Kaum einer mag ihnen noch vertrauen: die Arbeiter nicht, die Mittelschicht nicht, selbst manch mittelständischer Unternehmer sieht sich von Spekulanten, Bankern und Konzernmogulen mit dem Löffel barbiert.
Das entfesselte Spiel des großen Geldes hat in seinem Furor gleich das ganze Casino zertrümmert und die Weltwirtschaft an die Wand gefahren. Niemand traut den Spielern zu, dass sie aus eigener Kraft die Malaise überwinden; nicht einmal die Spieler selbst. Leitmedien prangern „Das Kapital-Verbrechen“ an, fordern „Zivilisiert den Kapitalismus“. So böse Befunde gab es lange keine. Denn sie meinen nicht weniger, als dass das weltweit vorherrschende Wirtschaftssystem in seiner jetzigen Ausprägung die Zivilisation insgesamt unterminiere. Auf den Plan gerufen wird deshalb als letzter Retter in der Not der eben noch als antiquiert, unwirtschaftlich, überflüssig gescholtene „Hemmschuh des freien Marktes“: der Staat.
Plötzlich stellt sich heraus, es existiert jenseits vordergründiger Rentabilität, jenseits kurzfristiger Profitinteressen, jenseits des ökonomischen „Krieges aller gegen alle“ (Hobbes) noch ein Interesse höherer Kategorie: das Interesse am Überleben und Gedeihen der Gesellschaft als Ganzes – das Gemeinwohl. Wenn das regellose Kampfspiel der Marktkräfte unfähig ist, die Wirtschaft zum Nutzen aller am Laufen zu halten, muss eine übergeordnete Instanz eingreifen. Da es der liebe Gott nicht tut, bleibt nur der Staat. Kann der das? Gegenfrage: Wer sonst sollte den Job machen, wenn die hauptberuflichen Finanzjongleure entweder den Verstand verloren haben oder wie Goethes Zauberlehrling unfähig sind, die Geister zu bändigen, die sie riefen?
„O weh, der Bock wird Gärtner“, fürchtet da manch einer mit Verweis auf die unrühmliche Figur, die deutsche Staatsbanken in der Finanzkrise abgaben. Doch fatal sind nicht die staatlichen Banken selbst. Fatal ist, dass sie ihr ureigentliches Aufgabenfeld verließen, um sich gemein zu machen mit den Wall-Street-Zockern, dass sie wie diese nur noch im Sinn hatten: Geld scheffeln, um des Geldes willen – dabei jedes Risiko verachtend und im Rausch des großen Spieles ihre besondere Verantwortung als Staatseinrichtung vergessend. Es ist halt so: Wenn staatliche Institutionen die Marktmechanismen zur Maxime des eigenen Handelns erheben, dann droht der Staat zum lächerlichen Spielball dieses Marktes und der dort mächtigsten Akteure zu verkommen.
Auf diesem gefährlichen Pfad der Unterwerfung von Staat und Gesellschaft unter das Primat der Profitabilität wandelte nicht nur die deutsche Staatspolitik zuletzt in ungebührlicher Häufigkeit. Doch jetzt muss sie ihn verlassen, will sie das Gemeinwesen aus dem durchs Markttreiben verursachten Notstand retten. Was ist das eigentlich, der Staat, auf den sich nun alle Hoffnungen richten? Das obige Foto zeigt den Kopfteil der Titelillustration zu Thomas Hobbes‘ Schrift „Leviathan“ von 1651. Der Autor attestiert frei nach Plautus, dass „der Mensch dem Menschen ein Wolf ist“. Deshalb bedürfe jede Gesellschaft einer übergeordneten Instanz, die ihr Überleben sichert.
Der Staat sind wir
Zu diesem Zweck wird jene Instanz, der Staat, von der Gemeinschaft mit großer Macht ausgestattet, auf dass er sie zum Wohle aller einsesetze. Einiges am Modell von Hobbes ist mit moderner Demokratie kaum vereinbar. Grundlegend aber bleibt: Der Staat ist das Ergebnis einer Übereinkunft zwischen seinen Bürgern, getroffen zwecks Überleben, Frieden, Wohlfahrt und Schutz für jedermann. Dem heutigen demokratischen Staat fällt darüber hinaus die Rolle des Garanten möglichst weitgreifender Individual-Freiheiten zu.
In der Illustration zum „Leviathan“ setzt sich der Körper des Staates (den sich Hobbes vor 360 Jahren noch als aufgeklärte Monarchie wünschte) aus einer Vielzahl von Menschen zusammen. Das versinnbildlicht: Der Staat, das sind letztlich wir alle – mögen uns Finanzamt, Verkehrspolizei, Gemeindeverwaltung oder die Politik schlechthin im Einzelfall noch so sehr ärgern.
Geschimpft wird über den Staat seit eh und je. In den letzten 20 Jahren allerdings wurde er mehr und mehr als Ursache schlechthin für alles Übel ringsumher betrachtet. Wuchernde Bürokratie, steigende Steuern und Sozialabgaben, farblose bis haltlose Politiker, schlechte Politik . . . waren Öl ins Feuer der Staatsverdrossenheit. Derweil avancierten die Großakteure der Banken und Konzerne zu fürstlich honorierten Helden der Moderne. Fortschritt schien es bloß noch im Reich der Global Player zu geben.
Mehr noch: Die Mechanismen der globalen Ökonomie hatten bald die Statur unabänderlicher Naturgesetze angenommen. Denen haben wir Jahr um Jahr immer weitere Bereiche des Lebens unterworfen. Bis wir unser Sozialsystem kaum noch wiedererkennen. Bis Schulen und Universitäten gänzlich auf Berufszurichtung statt Menschenbildung verpflichtet sind. Bis Mitbestimmungsrechte und Sozialbindung des Kapitals vollends der Vergangenheit angehören. Bis mit den Ruhephasen der Sonn- und Feiertage auch der geregelte Feierabend verschwindet. Bis am Ende selbst Freizeit und Erholung, Familie und Freundschaft, ja sogar die Künste in den Dienst von „Wettbewerbsfähigkeit“ und „Standortentwicklung“ gezwungen sind.
Jetzt allerdings macht die große Krise des Finanzkapitalismus mit einem Mal deutlich: Die Mechanismen des Marktes sind keine Naturgesetze, denen man sich nur immer weiter anzupassen habe; vielmehr handelt es sich um menschliche Verkehrsformen, die folglich auch beeinflussbar, ja veränderbar sind. Demnach war es keine Altherren-Spinnerei, als Helmut Schmidt vor mehr als zehn Jahren forderte, die Staaten sollten der Wirtschaft ein Reglement aufladen, das zu vernünftigem Handeln zwinge. Der Ruf nach einem anderen, einem regulierten Kapitalismus ist übers Jahr 2008 allgemein geworden, wird markig vorgetragen von Linksaußen bis tief hinein ins rechtsbürgerliche Lager. Wer hat die Kraft und die Macht zu regulieren? Der Staat.
Politik kann und muss gestalten
Der Staat (die Staatengemeinschaft) allein kann den Kapitalismus davor bewahren, zum Totengräber seiner selbst zu werden. So weckt die Finanzkrise zugleich die Hoffnung, wir könnten wieder Herr unsrer Geschicke sein, statt nur den Diktaten einer vermeintlich naturgesetzlichen Globalökonomie zu gehorchen. Dazu muss der Staat aber auch regulieren wollen, muss die Politik Wille wie Mut aufbringen, vor allem den eben noch schier allmächtigen Konzernen Vernunft und Rücksicht auf die Allgemeinheit abzuverlangen, nötigenfalls abzuzwingen.
Die Gemeinschaft der Bürger wird sehr genau zu beobachten haben, ob die von ihr per Wahlurne beauftragten Funktionsträger des Staates so verfahren. Oder ob sie Abermilliarden unseres Geldes nur hergeben, um die Karre Kapitalismus aus dem Dreck zu ziehen: Auf dass sie nachher in gewohnter Manier flugs dem nächsten noch größeren Crash entgegen rase.
Mit unserem Geld wird nun der Kapitalismus vor unfreiwilligem Selbstmord bewahrt. Weshalb es nur recht und billig ist, Gegenleistungen einzufordern. Etwa: Sozialen Anstand, Mitverantwortung für das Gemeinwesen und angemessene Beteiligung an dessen Kosten, auskömmlichen Lohn für alle arbeitenden Menschen, Mitversorgung der Schwachen. Schließlich ein vernünftiges Wirtschaften, das auf einem lebenswerten Planeten unser aller kulturelles Menschentum um seiner selbst willen respektiert – statt es zum bloßen Humankapital herabzuwürdigen und profitabel zu verbrauchen.
Andreas Pecht
Erstabdruck 2. Januar 2009
Ergänzend zum Thema sei auf einen zeitgleich bei „zeit online“ erschienenen Artikel „Die Entstaatlichung stoppen“ von Erhard Eppler verwiesen: www.zeit.de/online/2008/52/Eppler-de