ape. 2016 war, pardon, ein Scheiß-Jahr. Eines Morgens bist du aufgewacht und meintest, im Schlafe weit in die Vergangenheit gerutscht zu sein. Der Kalte Krieg ist wieder da, die Türkei ein Sultanat und Britannien ein externes Inselreich. Überdies tönt ringsumher ein Wehgeschrei und Krakeel, die Welschen, also die Fremden von draußen, würden unsere Vorräte plündern und den roten Hahn auf die Kirchdächer setzen. Das jammert und schwadroniert wie anno 1794, als die „Froschschenkelfresser” in Koblenz einrückten. Damals musste der Kurfürst mitsamt Bagage Fersengeld geben. Dann hatten eine Weile erst die Revolutions-, nachher die Napoleonsfranzosen – jedenfalls der ”Erbfeind von drüben” – am Rhein-Mosel-Eck das Sagen.
Hat die Auffrischung hiesigen Blutes durch französisches den Koblenzern geschadet? Wohl kaum. Schließlich hat die grenzübergreifende Mesalliance ein gar edles Völkchen gezeugt: die „Schängel”. So nennen sich bis in unserer Tage stolz die Nachfahren damaliger Liebesfrüchte zwischen Heimischen und Welschen. Hat die Vertreibung des kurtrierisch-fürstbischöflichen Hofes die Stadt in kulturelle Finsternis gestürzt? Ach was, das republikanisierte Bürgertum am dazumal halt Französischen Eck nahm die kulturellen Angelegenheiten in die eigene Hand. Es setzte so manches Kulturding in die Welt, das bis heute Bestand hat und es dem Oberbürgermeister erlaubt, regelmäßig auszurufen: „Koblenz ist eine Kulturstadt!”
Und es ist eine Abendsausgehstadt. Das aber nur, weil sich hier Italiener, Griechen, Jugoslawen, Spanier, Türken, Südamerikaner, Asiaten, Afrikaner, ja sogar Saarländer, Schwaben und Bayern niedergelassen und Wirtshäuser eröffnet haben. Wie sähe sie denn aus, die Stadt an Rhein und Mosel, ohne all die Neu-Schängel? Au weh, dann hätte ein rein angloamerikanisch orientierter Markt die Sache geregelt und das kulinarische Nachtleben wäre eine Wüstenei aus Bouletten- und Hühnerflügelbratereien. Was für Koblenz gilt, gilt für alle anderen Städte auch, selbst die kleinen im Wald und auf der Höh‘: Simmern, Mayen, Bad Ems, Montabaur, Hachenburg, Altenkirchen e tutti quanti wären nicht nur gastronomisch längst tot ohne die frischen Kräfte von draußen.
„Deutschland den Deutschen”: welch gruselige Vorstellung – the walking dead. Die Städte kulinarisch und kulturell Einöden, weil uns nicht nur die Wirtshäuser fehlen würden. Den Orchestern, den Opern- und Ballettensembles etwa würde ein beträchtlicher Teil ihres Personals wegbrechen. Denn die sind alle so international wie die Rock- und Popszene, die Kinolandschaft, das Fernsehprogramm, die Wissenschaft …. Aber mit „dem Fremden kommt das Böse”, sagt leichtgläubiger Volksmund. Schon anno 1287 wurde über eine vom Rhein bei Bacharach angeschwemmte Jungenleiche die Mär erlogen, Juden hätten den Buben zu Ritualzwecken ermordet. Ergebnis: Hunderte Juden an Mittelrhein, Mosel und Niederrhein vom Mob totgeschlagen. Den Franzosen wurde später angedichtet, sie würden alles verzehren – Katzen, Hunde, kleine Kinder inklusive.
Gauner und Lumpen: Das sind für die Selbstgerechten stets nur die Anderen. Ach, Kinners, es ist so einfach, für jeden Verdruss jenen die Schuld zu geben, und darüber das simple Faktum zu verdrängen: Wo immer eine größere Zahl von Menschen beisammen ist, findet sich auch ein kleiner Anteil schlechter darunter – Hiesige und Zugereiste, Weiße und Farbige, Christen, Muselmanen und Gottlose …
(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website Woche 51/52 im Dezember 2016)
Infoanmerkung für Ortsfremde:
Schängel ist eine mundartliche Bezeichnung (Ortsneckname) für die in der Stadt Koblenz Geborenen (heute oft auch für langjährig hier Lebende). Der Begriff Schängel stammt aus der 20-jährigen Zugehörigkeit (1794–1814) der Stadt Koblenz zu Frankreich. Gemeint waren damit ursprünglich die von den Franzosen abstammenden Kinder deutscher Mütter. Der gängigste Name war damals Hans oder Johann, was dem französischen Jean entspricht. Die Koblenzer hatten aber Schwierigkeiten, Jean französisch auszusprechen, und in der Mundart der Koblenzer wurde daraus Schang. Hieraus entwickelte sich schließlich Schängel, eigentlich ein Diminutiv mit der Bedeutung Hänschen. Anfangs galt dies als Schimpfwort. Heute jedoch wird Schängel als Ehrenname verstanden.