ape. Folgt man dem Volksmund, ist Frühling eine zwiespältige Sache. Danach schiebt sich zwischen Frühlingserwachen und Frühlingsgefühle ein Hemmschuh namens Frühjahrsmüdigkeit. Wen die befällt, der ist übel dran. Was nutzt Goethes Jubel über vom Eise befreite Bäche, wenn einer ermattet zu Bette liegt, statt bei Osterspaziergang, Tanz, Angrillen sich inmitten frisch reckender und saftender Natur zu verlustieren. Frank Wedekind schrieb 1891 das Schauspiel „Frühlings erwachen”. Darin wird vom Frühling des Erwachsenenlebens erzählt: jenem in der Pubertät losbrechenden Begierdenstrom aller Geschlechter, den Shakespeare schon 300 Jahre zuvor mit dem schillernden Wort „Love” bezeichnet hatte. Die Liebe ist eine Himmelsmacht. Sie entflammt den Leib, bewegt das Herz und schickt den Geist auf Urlaub; ganz doll im Lebensfrühling und noch immer doll genug in jeder jahreszyklischen Aufbruchsphase.
„Hör mir uff!”, plärrt Walter vom Kanapee herüber. Auf dem liegt er mit geschwollenen Augen und blubberndem Rotz; verfluchend die von Zeugungstollheit strotzenden Pflanzen jedweder Art. Der Freund gehört, wider Willen, zu den bedauernswerten Frühjahrsmüden. Just in April und Mai mag er gar nicht mit auf die Gass‘, weigert sich sogar, zu mir ins Auto zu steigen. Wobei das weniger mit seinem Heuschnupfen, mehr mit dem Vorwurf gegen mich zu tun hat: „Im Frühling bist du verkehrstechnisch unzurechnungsfähig und in der Öffentlichkeit zum Fremdschämen blamabel.” Seine Anklage: Kein Auge mehr hätte ich für den Straßenverkehr, kein Gespür mehr für gutes Benehmen – vor lauter Glotzen und Stieren nach dem Weibsgeschlecht.
Solch üble Nachrede kann ich nicht gelten lassen. Welcher Heteromann, kreuzgewitter, könnte den Blick abwenden von frühlingshaft erblühenden Frauen. Die Mäntel abgelegt; die Garderobe in Richtung farbig, leicht, körperbetont gewechselt; Gesichter von Sonne erleuchtet; blitzende Augen; der Gang wieder stolz aufgerichtet und beschwingt. Es ist die ewige Natur, die des Mannes Blick auf die in seinen Augen ästhetische Krone der Schöpfung zwingt. Ach, ihr Gattinnen und Freundinnen! Lasst sie doch schauen, die Burschen an eurer Seite. Wie dumpf, stumpf, arm wären sie, würden sie diesen natürlichen Impuls nicht mehr kennen. Nehmt, ihr Frauen, euch das gleiche Recht, schaut wie es euch gefällt und was ihr wollt. Auf dass Freiheit der wesentliche Unterschied sei zur Kasteiung der Vorfahrinnen!
Gutes Benehmen, Freund, besteht nicht aus Wegschauen, erst recht nicht aus heimlichem Begaffen. Die Art des Blicks macht auch für die Betrachteten den Unterschied – den die Damen spüren, je reifer umso deutlicher. Nur der kultivierte und vom Machismo emanzipierte Mann weiß frauliche Schönheit in bewundernder wie freundlicher Achtung zu genießen. Derart zu schauen, kann Kompliment sein. Dem giergeilen Bock ist das alles fremd; er ahnt nicht einmal, was er versäumt in seinem sabbernden Bemühen, den Frauen stieläugig im Geiste bloß immer die Kleider vom Leib zu reißen. Wie schändlich, wie geistlos, wie unachtsam! Rechne du, Walter, mich nicht zu den Böcken, das ist beleidigend.
Da blinzelt er in einem Mix aus Staunen, Skepsis und Bedauern hinter seinem Taschentuch hervor: „So lass mich hier im Elend zurück und geh‘ in die Sonne – Frauen schauen.” Nicht nur, aber doch auch, und das in wohlgemuter Anständigkeit. Denn es ist Frühling.
(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 12./13. Woche im März/April 2015)