Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Ich fotografiere, dann erst bin ich

ape. Als ich Bub war und mit Schwesterlein nebst Eltern missmutig Sehenswürdigkeiten heimsuchte, gab es eine Benimmregel: Wenn da einer mit dem Fotoapparat steht und Deutsches Eck, Heidelberger Schloss oder Zugspitze mit/ohne Verwandtschaft davor ablichten will, dann läuft man ihm nicht durchs Bild. Man wartet an der Seite, bis die Aufnahme gemacht ist. Neulich besuchte ich mit Gesponst den Rheinfall von Schaffhausen. Hätten wir uns dabei in diesem Sinne anständig verhalten, wir wären wohl erst nach Mitternacht auf der unteren Aussichtsplattform angelangt.

Wer die Kraft und Schönheit der stürzenden Wassermassen livehaftig erleben wollte, musste rücksichtslos Heerscharen knipsender Touristen vor die Optik latschen. Denn es gab nicht eine Ecke, nicht einen Winkel, nicht eine Blicklinie, die von Smartphone-bewehrten „Fotografen” unbehelligt geblieben wäre. Gewiss, schon früher hatte jede Familie einen, meist war’s der Vater, der mit Fotoapparat oder Filmkamera die obligaten Urlaubsschüsse machte. Dabei bremste ihn stets der Umstand, dass nachherige Filmentwicklung gehörig ins Geld geht. Heute indes hat jedes Mitglied einer Familie oder Reisegruppe seinen eigenen Bilddatenträger, auf den es die gesehene Welt in grenzen- und schier kostenloser Fülle bannen möchte.

Wobei „gesehen” der falsche Ausdruck ist. Ich habe in Schaffhausen sehr viele Leute beobachtet, die dem Wasserfall nur einen kurzen Blick widmeten, um dann sogleich eine ausschweifende Fotosession zu beginnen. Allfälliges Motiv: Die Lieben in jedweder Personalkombination und Positur groß vor kleinem Rheinfall-Hintergrund; vorneweg man selbst, abgelichtet mit langgestrecktem oder gar mittels Teleskopstängelchen verlängertem Arm. Jedes Bild wurde per Display eingehend geprüft. Waren die Ergebnisse zufriedenstellend, zogen die Herrschaften ab – ohne das Naturschauspiel eines weiteren Blickes zu würdigen.

Was also haben die Leute von den Schaffhausener Fällen „gesehen”? Noch am Ort selbst bereits die Knips-Erinnerung daran. Die wird aber für die Urlaubserzählung daheim wenig bringen, weil die Knipser das Echte nicht so betrachtet, erlebt, gefühlt haben, dass sie sich daran erinnern könnten. Dutzende, hunderte Abbildungen sind Gedächtnisschlüssel zu – nichts mehr. Und ich kann mir kaum was Langweiligeres vorstellen, als Fotoabende bei Müllers oder Facebook-Alben von ihnen nach der Devise „Guckt mal, Hilde vor Wasserfall, Hilde und ich vor Schloss, Hilde im Museum, Hilde und ich….” Freund Walter fügt mit diabolischem Grinsen hinzu: „Stell dir vor, Hilde lässt sich scheiden und der Müller kriegt ’ne Neue. Dann kann er all die Hilde-Fotos und Müllerpaar-Selfies nebst Wasserfall-, Schlösser-, Museums-Hintergründen in die Tonne treten.”

Es ist seltsam mit uns Menschen. Da fahren wir weiteste Wege, um die Welt zu sehen, um ihre Schönheiten und Wunderlichkeiten aufzusuchen. Sind wir dann dort, tun wir, als werde all das erst Wirklichkeit, wenn wir uns darinnen, davor oder damit fotografiert haben – und möglichst vielen Mitmenschen die Fotos unter die Nase gerieben. Walter hat schon vor Jahren das Knipsen aufgegeben; er schaut nur. Manchmal bringt er von Reisen Postkarten mit oder kleine Arbeiten örtlicher Künstler. Aber es gibt nichts Schöneres, als wenn er in gemütlicher Runde von den Erinnerungen an das Ferne und den selbst nach Jahren noch lebhaften Bildern im Kopf freiweg erzählt.

(Erstabdruck/-veröffentlichung in einem Pressemedium außerhalb dieser website 48./49. Woche 2015)

Andreas Pecht

Kulturjournalist i.R.

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