Guten Tag allerseits,
wir sprechen heute über etwas scheinbar ganz Einfaches, ganz Simples. Wir sprechen über einen nahezu selbstverständlichen Alltagsbegriff von scheinbarer Allgemeingültigkeit und scheinbarem Ewigkeitswert. Der Begriff heißt: HEIMAT.
Ich kann aber gleich zu Anfang versprechen: Wir werden feststellen, dass an diesem Begriff gar nichts einfach, selbstverständlich, allgemeingültig oder gar ewig ist.
Betrachten wir heutige Bewohnerstatistiken von Städten oder ländlichen Regionen, fällt rasch ins Auge:
a) der Anteil der Zugezogenen ist relativ groß,
b) der Anteil derjenigen, die einen Teil ihres Lebens in anderen Städten verbracht haben oder als Pendler arbeitend dort verbringen ist ebenfalls ziemlich hoch.
Im historischen Vergleich ist das eine ziemlich junge Erscheinung, die sich allmählich erst im Laufe des 20. Jahrhunderts herangebildet hat. Erst in dessen später Phase hat sie die heute dominierende Form angenommen. Die sieht auf dem Land so aus: Die Dörfer sind Schlafplätze und teils privater Lebensraum, die Städte sind Arbeitsplätze und teils privater Freizeitraum. Das wirkt sich in Koblenz so aus: Morgens Stauverkehr hinein, abends Stauverkehr hinaus.
In den urbanen Ballungsräumen wie Rhein-Main oder Ruhrgebiet sieht die Sache ein bisschen anders aus: Das ist morgens und abends Stauverkehr in ALLE Richtungen. Man könnte meinen, halb Frankfurt arbeitet in Wiesbaden und Mainz, halb Wiesbaden und Mainz in Frankfurt.
Das mag etwas überspitzt sein, trifft aber doch die aktuelle Situation recht gut: Wohn- oder private Lebensorte und Arbeitsorte sind heute vielfach voneinander getrennte Orte. Noch im 19. Jahrhundert war die Lage völlig anders. Die Mehrheit der Bevölkerung lebte und arbeitete in IHREM Ort.
Wer damals seinen HEIMATort verließ, (Koblenz oder irgendein Dorf auf den Höhen) um im Ruhrgebiet als Arbeiter einen Broterwerb oder in Übersee ein besseres Leben zu suchen, der kehrte in der Regel nie mehr zurück. Wer damals beispielsweise seiner westerwäldischen HEIMAT freiwillig oder meist gezwungenermaßen den Rücken kehrte, der musste anderwärts eine neue Heimat gewinnen oder sich aufbauen.
Im 18. mehr noch im 19. Jahrhundert hatten Hunderttausende Menschen aus der Pfalz, aus dem Nahe-Raum und nicht zuletzt aus dem WW wegen wirtschaftlicher Not ihre hiesige Heimat verlassen. Sie suchten vor allem in Nord- und Südamerika sowie an der Wolga eine neue Lebensperspektive.
Sie alle haben immer einen Teil der alten Heimat mit sich genommen. In Form von
– Sprache
– Kleidung
– Arbeitstechniken
– typischen Gerichten
– Festgebräuchen etc.
Die meisten von ihnen haben sich in der Fremde anfangs zu Gemeinschaften mit Ihresgleichen zusammengeschlossen. Sie haben eigene Siedlergruppen, teils eigene Dörfer, Gemeinden oder Ghettos gebildet.
Wie bei allen Auswanderern davor und bis heute, wirkte auch bei den Pfalz- oder WW-Auswanderern des 19. Jahrhunderts der Wunsch nach Vertrautheit einer persönlichen, sozialen und kulturellen Umgebung sehr stark.
Wir müssen wohl davon ausgehen, dass dieses Bedürfnis nach Vertrautheit und Geborgenheit ein urmenschliches ist. Freilich steht dieses Bedürfnis bald im Wettbewerb mit einer anderen urmenschlichen Eigenschaften: Neugierde, Anpassungsdrang an die neue Umgebung, Fähigkeit und Lust zur Veränderung.
Alle Untersuchungen über Auswanderer/Einwanderer früherer wie auch heutiger Zeiten haben ergeben: Die Bindung und Erinnerung an ihre erste Heimat ist für die erwachsene Generation der Weggezogenen sehr stark und mit intensiven Gefühlen belegt. Doch schon bei den anderwärts aufwachsenden Kindern schwächen sie sich Bindungen an die Heimat der Eltern schnell und deutlich ab. Diese Heranwachsenden wollten zB im Falle der deutschen Auswanderer nach Amerika bald keine Deutschen in der amerikanischen Fremde mehr sein. Sie verstanden sich vielmehr sehr bald als echte Amerikaner – allenfalls mit deutschen Wurzeln.
Wir können diese Form der Assimilation der zweiten und dritten Generation in der neuen Heimat seit den 1950er-Jahren auch bei den meisten Einwanderern nach Deutschland beobachten. Auch die sog. „Gastarbeiter“ aus Italien, Jugoslawien , Griechenland etc. haben zuerst Ghettos gebildet. Doch schon deren Kinder waren und fühlten sich primär als hiesige Kinder.
Für die Enkel der ursprünglichen Migranten sind die Erzählungen der Großeltern über ihre einstige Erstheimat meist nur noch hübsche Familienfolklore.
Den Nachgeborenen der ursprünglichen Auswanderer wird bald auch klar, dass die Erinnerungen der Alten recht unzuverlässig sind. Die Wissenschaft hat ermittelt, dass gar zu wohlige Rückbesinnung auf die Kindheits- und Jugendzeit oft mehr mit Verklärung als mit einstiger Realität zu tun hat. Behalten werden die schönen Momente, die unangenehmen verdrängt. So verwandelt sich Heimat in der Vorstellung zum Ideal, zum Paradies, zugleich zu einer Art utopischem Sehnsuchtsort oder -zustand.
Nostalgie nennt sich dieser idealisierende Mechanismus. Der brachte etwa im 19. Jahrhundert eine allgemeine Schwärmerei für die vermeintlich „goldene Zeit“ des ritterlichen Mittelalters hervor. In ihrer banalsten Form findet diese Nostalgie ihren Ausspruch in dem Satz: „Früher war alles besser“ oder „Früher daheim war alles besser“.
Es gibt da interessante Parallelen zu den jüngsten zwei Jahrzehnten der Gegenwart hierzulande. Ich denke an die Lobpreisungen der „schönsten Stadt der Welt“ bei Tourismuswerbern und Einheimischen – in jeder Stadt. Ich denke an die Liebeserklärungen für die „einmalige und schönste Region der Welt“ – in fast jeder Gegend. Koblenzer und Mittelrheiner sind Meister in dieser Art der Selbstbeweihräucherung,
Wir beobachten seit rund drei Jahrzehnten hierzulande eine kontinuierliche Vermehrung und Ausbreitung des Phänomens „Verbundenheit mit dem lokalen Heimatraum“ – oder anders und etwas spitz bezeichnet: des Phänomens „Lokalpatriotismus“.
Interessanterweise verläuft die Ausbreitung dieses Phänomens in zeitgleicher Parallelität zur fortschreitenden globalen Vernetzung, zum explosionsartig aufwachsenden globalen Massentourismus, zur medialen und kulturellen Öffnung sämtlicher Erdteile füreinander.
So ist heute verbreitet die auf den ersten Blick eigentümliche Erscheinung anzutreffen, dass sich ansonsten weltläufig orientierte Zeitgenossen zugleich in lokaler Heimatverbundheit ergehen.
Der Patriotismus der Moderne ist der Lokalpatriotismus. * Schmunzelton * Er hat gegenüber den alten Nationalpatriotismen einen entscheidenden Vorteil: Es wird nicht gleich geschossen.
Geburtsheimat, Erstheimat, Kindheitsheimat, Zweitheimat, Wahlheimat: SIE merken schon jetzt, wie der Heimat-Begriff beginnt, sich in verschiedene Bedeutungen aufzufächern. Bedeutungen, hinter denen sehr unterschiedliche Lebensentwürfe, Lebenswege, Lebensarten, Schicksale und Gefühlswelten stecken können.
Lassen Sie mich als weiteren Beleg für die Ambivalenz, die Vielgesichtigkeit des Heimatbegriffes ein paar Aspekte meines eigenen Lebensweges anführen:
Ich verstehe mich heute als WÄLLER MITTELRHEINER. Ich empfinde die Mittelrheinregion als meine Heimat – bei gleichzeitig besonderer Bindung meiner privaten Lebensart an den Westerwald. Mein berufliches Kernarbeitsfeld, wie auch mein privates kulturelles Lebensumfeld sind allerdings deutlich größer: Es erstreckt sich von Köln bis Frankfurt. Ich nenne diesen Raum „den südlichen Westen der Republik“ und begreife ihn als meine regionale Heimat. Wohingegen Koblenz, der Mittelrhein, der Westerwald und das Dorf im Unterwesterwald, wo ich lebe, mir als lokale Heimat gilt.
Definitorisch mag da der eine oder andere Einwände erheben. Die wären aber völlig sinnlos, weil nunmal ich als Individuum und aus meiner individuellen Lebensweise heraus, die genannten Sphären für mich als heimatlich empfinde.
Mit besagtem „südlichen Westen der Republik“ bin ich bestens vertraut. In den Ballungsräumen Köln/Bonn und Rhein-Main kenne ich mich aus, besser als sonst irgendwo in Deutschland. Ich bewege mich dort sicher durch örtliche Eigenheiten, weiß über örtliche Kultur und Tradition Bescheid, kenne die Stärken und Schwächen dieser Ballungsräume.
Wenn ich heute nach Mainz, Wiesbaden, Frankfurt, nach Bonn oder Köln fahre, fühle ich mich dort nicht mehr als Besucher oder gar Fremder, sondern als Dazugehöriger, quasi als Fast-Einheimischer. Dieses Gefühl der Vertrautheit, der Verbundenheit, der Beheimatung in den beiden urbanen Nachbarmetropolen ist während rund vier Jahrzehnten allmählich herangewachsen.
In Mainz, Bonn und Köln leben inzwischen sogar einige meiner nächsten und liebsten Verwandten. Das sind allesamt jüngere Leute, die vor Jahren des Studiums und/oder des Berufes wegen ihre Geburts-, Kindheits- und Jugendheimat verlassen haben. Sie sind aus dem Westerwald, aus Braubach am Rhein, aus Münstermaifeld und aus Gerolstein wegzogen. Sie haben in Mainz und Köln Arbeitsstellen, Lebenspartner, Wohnsitze gefunden; haben Familien gegründet und Kinder bekommen – sind mithin in einer neuen, einer zweiten Heimat angekommen.
Und keineswegs außerordentlich ist es heutzutage, wenn die eine oder andere der jungen Familien nach ein paar Jahren weiterzieht, um in Skandinavien, Amerika, Australien oder sonstwo auf der Welt eine dritte oder im Alter gar eine vierte Heimat zu finden.
Städter landen in der Provinz, häufiger Dörfler in Städten. Pfälzer verschlägt es nach Norddeutschland, Rheinländer nach Bayern, Deutsche ins Ausland, und alles auch umgekehrt. Dies ist der Zahn der Zeit in unserer Mobilitätsepoche – und er bliebe es, selbst wenn es keine Flüchtlinge gäbe.
Der Anteil derer, die ihr Leben im oder nahe am Geburtsort verbringen und sich dort zu Grabe tragen lassen, wird zusehends kleiner. Der Nachwuchs geht seine eigenen Wege, will sie gehen oder muss sie gehen. Wege, die vermehrt von der ersten Heimat wegführen.
Was mich betrifft, so ist der besagte südliche Westen mit dem Mittelrhein und dem Westerwald als meinem persönlichen Kern schon meine dritte. Heimat. Meine Geburts- und Kindheitsheimat war ein Kleinstädtchen im Odenwald. Meine zweite, die urbane jugendliche Sturm-und-Drang-Heimat: Heidelberg, Mannheim und Koblenz.
Dass meine Frau und ich vor 40 Jahren dann im Westerwald landeten, war allerdings purer Zufall. Es hätten ebensogut Taunus, Hunsrück, Eifel sein können. Doch fanden wir eben in einem Westerwald-Dorf jenes schön gelegene kleine Häuschen nahe am Wald, wo wir bis heute leben und privat eine halbe gärtnerische Selbstversorgungswirtschaft betreiben.
Als wir damals dort einzogen, wusste ich gar nichts vom Westerwald, außer dass da angeblich der Wind so kalt sei. Die neue dritte Heimat wollte erst erkundet, angenommen, gewonnen sein.
Assimilation oder Integration in die neue Heimat funktioniert unter einer Bedingung nur schlecht oder gar nicht: Wenn die alteingesessene Mehrheitsgesellschaft die Neuankömmlinge dauerhaft isoliert, diskriminiert, unterprivilegiert. Wenn den Zugezogenen quasi verwehrt wird, eine positive Beziehung zur neuen Umgebung und ihren Menschen einzugehen.
Blicken wir noch einmal in die USA, wo wir das Phänomen der Intergrationsverhinderung in großem Maßstab gut sehen können: Es war und ist teils noch die von der weißen Gesellschaftsdominanz ausgehende Diskriminierung, die auf Seiten der Afroamerikaner sowie der lateinamerikanischen und asiatischen Einwanderer zu andauernder sozialer und kultureller Ghettobildung führte.
Die anhaltende Unterdrückung der Schwarzen in den USA löste bei diesen eine große Bewegung zur Rückbesinnung auf ihre afrikanischen Wurzeln aus. Die verlief gerade in den 1960-/70ern derart radikal, dass viele US-Schwarze ihre eigentliche Heimat wieder in Afrika sahen/fühlten. Sie distanzierten sich himmelweit von einem American way of life, der ihnen die Teilhabe als gleichberechtigte Amerikaner verwehrte.
Ich denke, es ist bis hierher bereits deutlich geworden: Wenn wir über Heimat sprechen, müssen wir uns klar darüber sein, dass wir über einen vielfarbig schillernden Begriff reden – dem heute fast jeder eine andere Bedeutung zumisst.
„Wo meine Lieben sind, meine Familie lebt, da bin ich daheim“. Mein Dorf, meine Stadt, mein Westerwald, oder Hunsrück oder Mittelrheintal, mein Koblenz „ist für mich der schönste Ort auf Erden und meine Heimat“. „Wo ich mich wohlfühle, auskenne, aufgenommen bin, das ist Heimat für mich“. Solche, vorwiegend auf das kleinräumige persönliche Lebensumfeld bezogene Antworten erhalten Demoskopen hierzulande seit Jahren jeweils von riesigen Mehrheiten auf die Frage: „Was ist/bedeutet für sie Heimat?“
Der große Raum, Deutschland, wird bei solchen Umfragen stets hinter den persönlichen Umfeldern eingeordnet. Und gar die „Nation“ landet dabei regelmäßig abgeschlagen auf den hinteren Plätzen. Ich werde den nationalen oder nationalistischen Heimatbegriff nachher noch etwas genauer beleuchten.
Deutschland ist landschaftlich, landsmannschaftlich, kulturell, ja teils sogar sprachlich zu vielgestaltig, um insgesamt als persönlicher Raum der Vertrautheit, Geborgenheit, Beheimatung empfunden werden zu können.
Ich mag das Münsterland, die Haide, die Landschaften der norddeutschen Tiefebene und die Küstenlande von Nord und Ostsee sehr. Liebend gerne verbringe ich dort zwei, drei Wochen Urlaub. Aber dauerhaft im Flachland zu leben, ist mir ebenso unverstellbar wie in einer Gegend ohne weitläufige Wälder oder ein Leben in der Großstadt. Wenn ich nach Schleswig-Holstein fahre oder auf die Insel Rügen, fühle ich mich immer als Fremder, Besucher, Urlauber, Tourist.
Jedoch habe ich Landschaften in Bayern, Österreich und der Schweiz, in Italien und Frankreich, in Tschechien und Slowenien erlebt, wo ich mich ganz schnell heimisch fühlen könnte. Und ich kenne Landschaften in Deutschland, wo ich mich niemals heimisch fühlen würde.
Oder auch anders betrachtet: Die voralpinen und alpinen Bayern sind landschaftlich und kulturell mehr mit Österreichern, Böhmen, Slowaken verwandt als mit Kölnern, Münsterländern oder Friesen. Die Niedersachsen und die Schleswig-Hollsteiner verbindet landschaftlich, historisch und kulturell mit Dänen, Schweden, Norwegern mehr als mit Rheinländern, Hessen, Kurpfälzern oder Schwaben.
Man muss, um das zu verstehen, gar nicht das deutsche Kleinstaatenerbe bemühen. Meist genügt es, sich die diversen Landschaften anzuschauen und ein bisschen die Traditionen dort zu betrachten. Dann erkennt man, warum diese oder jene Gegend zum eigenen Heimatgefühl dauerhaft nicht passen würde – Deutschland hin oder her.
Es gibt auf die Frage „ was ist für sie Heimat?“ witzige Antworten. Etwa die: „Wo die Rechnungen hinkommen, da ist meine Heimat.“ Und es gibt Antworten, die den meisten Zeitgenossen auf den ersten Blick recht ungewöhnlich erscheinen. Vom Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki ist der Spruch überliefert „meine Heimat ist die Literatur“.
Ähnliche Aussagen kennen wir von vielen Künstlern. Vorwiegend von solchen, die fahrendem Volk gleich, mit ihrer Kunst ständig von einem Ort zum andern ziehen. Etwa Dirigenten und bedeutende Musiker, die ständig weltweit unterwegs sind. Oder Theaterschauspieler, Tänzer, Sänger, die oft nur für wenige Jahre am selben Haus bleiben, gar von Saison zu Saison an andere Theater verpflichtet werden.
Solche Menschen empfinden Heimat erstmal nicht als örtliche Bindung, und wenn sie etwa keine eigene Familie am Ort haben, nichtmal als soziale Bindung. Sie finden Heimat in ihrem künstlerischen Tun.
Ein Großteil der jungen Deutschen hat heute eine ziemlich unverkrampfte Beziehung zum Begriff Heimat. Die ist dort, wo sie leben, wo sie ihre Freunde, Familie etc. haben. Wenn Fußball-WM ist, ergreifen sie Partei für ihre Mannschaft, feiern die Kicker-Fete auch mal mit Fahnenschwenken und Schminkung in Nationalfarben. Wenn aber Rock am Ring ist, schwenken sie Fahnen und Embleme ihrer liebsten Stars aus aller Welt – oder schwofen einfach nur zu Musik aus aller Welt.
Genau besehen, sind unsere jungen Leute, was ihre kulturellen Vorlieben und ihre zentrale Kulturtechnik angeht, WELTBÜRGER. Das gilt heutzutage auch für die Jugend auf dem Land. Musik, Mode, Freizeittrends, Lebensart, neuerdings selbst politisches Umweltbewusstsein: Auf all diesen Gebieten sind sie vor allem Kinder einer zeitgenössischen Weltkultur. Und das Instrument zu deren Verbreitung ist die mediale Globalvernetzung primär durch das Internet – die heute selbst in den abgelegensten Dörfern angekommen ist (wenn auch oft mehr schlecht als recht).
Damit überspringen gerade die Jüngsten eigentlich die analoge Phase, ihr EUROPÄERTUM entdecken zu müssen: Sie sind in einem Ausmaß und mit einer Selbstverständlichkeit Europäer, die bei der Kriegsgeneration noch völlig undenkbar gewesen wäre. Die Eltern oder Großeltern sind noch geprägt vom Ringen um dieses Europäertum. Für meine Generation war in den Jugendjahren der 50er, 60er, 70er die Beendigung der Erbfeinschaft mit Frankreich sowie die Überwindung anderer binneneuropäischer Ressentiments von überragender Bedeutung.
Ich selbst habe mich schon in der Jugend mehr als Europäer denn Deutscher gefühlt, weil: a) ich munter sämtliche Länder Nord-, West-, und Südeuropas bereiste und b) bald eine Menge Leute aus all diesen Ländern zu meinen guten Bekannten oder Freunden zählte.
Und schließlich, c), empfand ich mich mehr als Europäer denn Deutscher, weil der Heimatbegriff und das Heimatgefühl belastet, vergiftet, verdorben war durch den Nationalsozialismus. Wie sollte man eine Heimat schätzen, gar lieben können, in deren Namen die schrecklichsten Verbrechen begangen wurden? Und wenn dann ausgerechnet die alten NS-Parteigänger uns, der damaligen Jugend, vorhielten, Heimatliebe zu Deutschland und deutscher Patriotismus stünden über „einer für Deutschland schlecht gelaufenen historischen Phase“ (Mückenschiss), dann konnte uns seinerzeit nur die Galle hochkommen.
Das Ergebnis ist bekannt: Die linken und liberalen Milieus in Deutschland haben den Heimatbegriff mehrere Jahrzehnte den Konservativen und den Rechten überlassen. Erst in jüngerer Zeit hat die Rückeroberung wieder begonnen. Und allmählich wird erkennbar, dass es zwei grundlegend verschiedene Deutungsströmungen von Heimat gibt, die im Wettstreit miteinander stehen: eine weltoffene und eine hermetisch geschlossene.
Das ist genaugenommen nichts neues. Der Kampf zwischen beiden Heimatbegriffen dauert nun schon rund 150 Jahre. Um das zu verdeutlichen, muss ich noch einmal zurück in die Geschichte.
„Da draußen, stets betrogen / Saust die geschäft’ge Welt / Schlag noch einmal die Bogen / Um mich, du grünes Zelt!“ Mit diesen Versen umreißt Joseph von Eichendorff 1810 jenen Gegensatz, der die Bindekraft des Begriffs Heimat wesentlich prägen sollte: Auf der einen Seite die schnöde, hektische, ja betrügerisch undurchsichtige Welt der modernen Zivilisation; auf der anderen Seite das Sehnen nach Rückkehr ins Aufgehobensein, in die Vertrautheit und Geborgenheit der natürlichen Gefilde altbekannter „O Thäler weit, o Höhen, / O schöner, grüner Wald“.
Je eiliger, komplexer, befremdender der Gang der technischen Zivilisation, umso dringender das Bedürfnis nach einem übersichtlichen Raum der persönlichen Geborgenheit.
Eichendorff beschreibt das Gefühl, das wir heute vielfach mit Heimat verbinden, ohne den Begriff selbst zu benutzen. Denn es gab das Wort in seinem später ideellen Sinne zu des Dichters Zeit noch gar nicht. Benutzt wurde das Wort Heimat seit dem Hochmittelalter vornehmlich als juristische Bezeichnung für die heimatrechtlichen Ansprüche der Bevölkerungsteile, die Grund und Boden besaßen. Nur sie durften ein Gewerbe ausüben und heiraten. Für besitzlose Mägde, Knechte, Tagelöhner, Bettler, Armeeveteranen musste „Heimat“ einen bitteren Beigeschmack haben: Sie waren von den Heimatrechten ausgeschlossen. Heimat = Besitz an Grund und Boden.
Weshalb von den Industrieproletariern bald nach ihrem Auftauchen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert als „heimatlose Gesellen“ gesprochen wurde. Von „heimatlose Gesellen“ zum Schimpfwort „vaterlandslose Gesellen“ für aufmüpfige Arbeiter und Sozialisten war der Weg nicht weit.
Er wurde gespurt vor allem von der kaiserlich-patriotischen Aufladung des Heimatbegriffs im Zuge der deutschen Reichsbildung um 1871. Heimat wurde von da an – erst von da an!! – gleichgesetzt mit Vaterland und Nation. Logisch, war Deutschland bis dahin doch gar kein Deutschland, sondern die betreffenden Gebiete nur ein Kleinstaaten-Teppich.
Die Menschen kannten in ihrer Masse nur Bindungen an Regionen, die oft von wechselnden Fürstenfamilien, gar mit unterschiedlichen Religionen regiert wurden. Der 1871 frisch aus der Taufe gehobene nationale Obrigkeitsstaat tat dann alles, um einen nationalen Heimatbegriff in die Welt zu setzen sowie ihn zu besetzen mit einer quasi naturrechtlichen Ideologie. Einer Ideologie, die fußt auf einem angeblich bis auf die Vorväter uralter Zeit zurückgehenden Deutschtum.
Diese Deutschtums-Ideologie sollte sämtliche Klassenunterschiede wie auch regionale Eigenheiten im landsmannschaftlichen Misch-Reich übertünchen. Heimatliebe sollte von nun an bedeuten: „Für Kaiser und Reich!“ – alle gemeinsam gegen die Fremden, vorneweg die französischen „Erbfeinde“. Später wurde daraus „Für Führer und Vaterland!“.
Beides war eine ganz andere Art Heimatliebe und Nationalbewegung als jene, die sich 1832 beim Hambacher Fest und 1848/49 mit revolutionärem Aufbegehren Ausdruck verschafft hatte. Für eine einige, freie, demokratische deutsche Nation in einem Europa freier Völker hatten die Redner auf dem Hambacher Schloss gesprochen. Für nationale Eigenständigkeit in demokratischen Ordnungen fochten 35 Jahre später Aufständische von Polen bis Portugal.
Für Kaiser, Könige, Fürsten, Bischöfe nebst deren nationalkonservativen Parteigängern indes galt ab den 1870ern als Heimatverächter und „Vaterlandsverräter“, wer die Herrschaftsverhältnisse ändern wollte und/oder um Verständigung zwischen Völkern und Kulturen warb.
Seitdem war der Heimatbegriff vergiftet vom Nationalismus. Der ließ ab 1914 Millionen jubelnde Soldaten ins Massengrab ziehen. Der bot er nachher den Nationalsozialisten den Humus, ihre „Volksgemeinschaft der aus Blut und Boden erstandenen Herrenrasse“ die Verbrechen des Holocaust begehen zu lassen und die Herrenrasse gegen den Rest der Welt in den Untergang zu führen. Kein Wunder, dass in der Bundesrepublik lange der Begriff „Heimat“ von vielen misstrauisch beäugt bis kategorisch abgelehnt wurde.
Das Ringen um die Deutungshoheit über den Begriff Heimat dauert, wie gesagt, schon 150 Jahre. Denn es wäre ein Irrtum, anzunehmen, dass den von deutschnationaler Seite verschrieenen „Heimatverächtern und Vaterlandsverrätern“ Heimatgefühle fremd seien. Das Gegenteil ist der Fall. Allerdings hat ihr Heimatverständnis wenig zu tun mit Kaiser, Führer, Volksgemeinschaft, deutschtümelndem Nationalethos oder gar faschistischer Rassenlehre.
„Heimwärts, heimwärts jeder sehnet zu den Eltern, Frau und Kind“ heißt es im Moorsoldatenlied, einst gesungen von überwiegend linkspolitischen Gefangenen im KZ Börgermoor. Und schon 100 Jahre zuvor hatte Heinrich Heine in Frankreich mit dem Exil-Gedicht „Nachtgedanken“ wunderbare Verse geschrieben über sein Heimweh – nicht etwa nach Deutschland, sondern nach seiner betagten Mutter in Deutschland.
„Denk ich an Deutschland in der Nacht / So bin ich um den Schlaf gebracht“. Den Doppelsinn der Anfangszeilen hat der deutsche Nationalkonservatismus dem Dichter so wenig verziehen wie etwa die Formulierung „Nach Deutschland lechzt ich nicht so sehr, / Wenn nicht die Mutter dorten wär“.
Heine wurde zu Lebzeiten als Netzbeschmutzer und Franzosenfreund geächtet und ins Pariser Exil getrieben. Noch bis in die späten 1960er-Jahre wehrten sich deutsch-reaktionäre Kräfte vehement gegen eine angemessene öffentliche Wertschätzung des großen Dichters aus Düsseldorf.
Denn es gibt kaum etwas, das Nationalisten mehr in Rage bringt, als das Bemühen um Entgiftung des Heimat-Begriffs. Entgiftung mittels dessen Loslösung von rassisch-politischer Deutschtums- und Nationalideologie. Entgiftung durch die positive Ausdeutung des Heimat-Begriffs als privat-menschlicher Gefühlsraum von Vertrautheit, Geborgenheit, Beheimatung in einem Familien- und Freundeskreis, einem Ort oder einer Landschaft.
Ist Heimat etwas Festgefügtes, etwas Ewiges, Unveränderliches? Wir haben gesehen: Nein. Wie sich die Welt als ganzes verändert, so auch der Heimatbegriff, das Heimatgefühl und ganz lebenswirklich der reale Heimatraum.
Schauen wir uns letzteren, den hiesigen Heimatraum und seine Entwicklung in den jüngsten Jahrzehnten mal etwas näher an.
Als wir uns vor 40 im Westerwald niederließen, gab es in unserem (Doppel)Dorf dort:
– 5 Gaststätten
– 1 Metzgerei
– 1 Bäcker
– 2 Minisupermärkte/Tante-Emma-Läden
– 1 Damenmoden-/Kurzwarengeschäft
– 1 Kolonialwarenladen (Spielzeug, Schulbücher, Gartenbedarf, Heimwerkerbedarf etc)
– 1Postfiliale
– 2 Bankfilialen
– 1 Schuhmacher
– 1 Friseur
– 1 Allgemeinmediziner
Was gibt es davon heute noch? Gar nichts mehr! Zuletzt hat vergangenes Jahr die Volksbank ihre Filiale geschlossen.
Diesen Prozess nenne ich Entheimatung der Heimat von dem jüngst so viel die Rede ist. Politisch interessierte Kreise beziehen diese Begrifflichkeit freilich vor allem gerne auf vermeintliche Überfremdung durch Migranten.
Da wird so getan, als sei Heimat ein unveränderliches Lebens- und Kulturgefüge – dem Gefahr NUR durch den Zuzug von Fremden drohe. Diese subjektive Vorstellung ist zwar ziemlich alt, hatte aber mit der Wirklichkeit seit jeher wenig zu tun.
Die umfassendsten Veränderungen der hiesigen Lebensweise gehen vielmehr in den vergangenen 100 Jahren aus von:
1. der Automobilisierung der Gesellschaft,
2. in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Fernsehen
3. in jüngster Zeit von der hemmungslosen Ökonomisierung aller Gesellschaftsbereiche und ihrer Digitalisierung.
4. von der Globalisierung
Keine der Einwanderungsbewegungen seit Kriegsende vermochte das Leben hierzulande objektiv derart grundlegend zu verwandeln wie diese Faktoren des „Fortschritts“. Nicht die Millionen Ostflüchtlinge und Vertriebenen; nicht die „Gastarbeiter“ aus Italien, Jugoslawien, Griechenland etc., schließlich der Türkei. Mittelfristig ist auch die Veränderungswirkung durch einige hunderttausend Migranten, Flüchtlinge, Asylbewerber der jüngsten Jahre nur eine Kleinigkeit im Vergleich zu den gewaltigen Umwälzungen, die etwa mit der Digitalisierung noch einhergehen werden.
Und der Prozess der rabiaten Umgestaltung heimatlicher Landschaften durch die Automobil- und Mobilitätskultur, durch die Ökonomisierung der Landschaft ist noch längst nicht abgeschlossen. Der Weiter- und Neubau von Umgehungsstraßen, Autobahnen, Parkplätzen, Autohöfen erreicht gerade einen neuen Temposchub. Ebenso der Flächenverbrauch durch immer neue Industrieansiedlungen, Gewerbegebiete und Wohngebiete. Und dazu obendrein die Umwandlung von Naturraum in Tourismus-Nutzfläche.
Das alles hat mit Zuwanderung nichts zu tun. Ebensowenig, dass die Dörfer veröden. In manchem Kleinststädtchen oder größerem Dorf ist man im Gegenteil froh, beim Türken einkaufen zu können oder beim Italiener einen Platz für Stammtisch, Skatrunde, Kappensitzung zu finden. Der Beerdigungskaffee wird beim Griechen, Spanier, Chinesen genommen, wo auch Familienfeiern unterkommen.
Man mache sich nichts vor: Auf dem Land erhalten über weite Strecken gerade zugewanderte Mitbürger letzte Bastionen der Infrastruktur; in den Städten sichern sie in Gastronomie, Handel und Kultur jene Vielfalt, die urbanes Leben erst ausmacht.
Heimat – sie verändert sich seit ewigen Zeiten immerfort. Stillstand war nie und das Paradies war auch nie, denn jede Veränderung wird seit jeher auch von Problemen begleitet. Doch während etwa der ländliche Raum durch Vernachlässigung und Ausblutung der dortigen Infrastruktur tatsächliche Entheimatung erfährt, sind andere Momente für die Heimat längst unverzichtbar geworden und bereichern sie: der kurdische Briefträger, die Kebabbude; das griechische Lokal im einen, das thailändische im anderen Nachbardorf; die Mitstreiter süd- und osteuropäischer sowie lateinamerikanischer Herkunft im Gesangs- und im Sportverein, die es beide ohne sie vielleicht gar nicht mehr gäbe; die deutsch-afghanisch besetzte Autowerkstatt, der Priester aus Kamerun, die Altenpflegerinnen aus Polen; das in Syrien geborene Lehrmädchen im Supermarkt, der aus dem Iran stammende Arzt im Krankenhaus …
Viele von ihnen finden hier eine zweite Heimat – und sehnen sich wie wir alle danach, dass diese gemeinsame Heimat ein Raum der Geborgenheit sein möge.
Zum Abschluss ein kurzer Blick auf jüngeres Bemühen, Heimat zu erhalten, zu schützen und womöglich auf gedeihliche Weise weiterzuentwickeln – gedeihlicher zumindest als die bedingungslose Auslieferung an die blindwütige Wachstums-Ökonomie. Zu diesen Bemühungen können wir fast alles rechnen, was irgendwie mit Natur- und Umweltschutz sowie Gemeinwohlwirtschaft zu tun hat.
Als direkten Heimatschutz möchte ich beispielsweise bezeichnen:
– Widerstand gegen Straßenneubau und andere Großbauprojekte
– Widerstand gegen Waldvernichtung
– Einsatz für Naturschutzgebiete
– für naturnahen sanften Tourismus
– für die Ökologisierung der Landwirtschaft
– Streiten für einen ÖPNV auch auf dem Land
– Einrichtung genosschaftlicher Läden, Wohnprojekte, Arbeits- und Bildungsprojekte.
Vor diesem Hintergrund darf man auch die Schülerbewegung Fridays for Future als eine Bewegung der Natur- und Lebensraumbewahrung, also auch der Heimatverbundenheit interpretieren. Wenngleich hier eine völlig neue Qualität der Heimatbindung erreicht ist, insofern der gesamte Planet als Heimat begriffen wird.
Nicht umsonst taucht in jüngster Zeit in einigen politischen Lagern die Klage über ein vermeintlich rot-grün und multikulti-versifftes Heimatverständnis auf. Für mich ist das ein gutes Zeichen. Weil der Heimatbegriff offenkundig zusehends der Deutungshoheit der Hermetiker entgleitet und als nationalistische Kampfvokabel unbrauchbar wird.