ape./Wiesbaden. Auf zum Staatstheater Wiesbaden: Dort wird Friedrich Schillers „Kabale und Liebe“ in einer Art gezeigt, die als kleines Wunderwerk gelten darf. Regisseurin Johanna Wehner hat heftig in die Vorlage eingegriffen, hat vieles weggelassen, hat manche Sprechpassage auf einen Ausruf, bisweilen ein einziges Wort verkürzt, hat auch ein bisschen Eigenes hinzugefügt. Mehr noch: Sie hat den strukturellen Aufbau des Stückes von 1784 verändert. So sehr der gut zweistündige Abend sich damit vom Original zu entfernen scheint, bleibt am Ende doch der Eindruck, seinem Schiller’schen Wesen kaum je so nahe gekommen zu sein.
Volker Hintermeiers graue Bühne besteht aus nach hinten in versetzter Treppenartigkeit ansteigenden, rechteckigen, leeren Plattformen. Das sind gegeneinander völlig offene Spielstätten, quasi mehrere kleine Bühnen auf der großen. Und so verhält es sich auch mit dem Spiel: Die im Stück örtliche und/oder zeitliche Szenentrennung wird weitgehend aufgehoben; Geschehnisse, Gespräche, Gedanken treten in direkte Beziehung zueinander, durchdringen einander, verschmelzen miteinander. Doch geht die Gesamtstory dabei keineswegs verloren.
Es streiten auf einer Plattform die kleinbürgerlichen Millers über eine Liebelei zwischen ihrer Tochter Luise (Mira Benser) und dem adligen Präsidentensohn Ferdinand (Tobias Lutze). Die Mutter (Evelyn Faber) spekuliert auf gesellschaftlichen Aufstieg. Der Vater (Benjamin Krämer-Jenster) fürchtet, der hochgestellte Bursche möchte die zarte Tochter nur als Wegwerfkonkubine missbrauchen. Parallel hofft auf einer anderen Plattform der Präsident (Janning Kahnert) im Gespräch mit seinem Diener Wurm (Atef Vogel) auf genau solch ruchlose Ambitionen seines Sohnes und fürchtet den eigenen gesellschaftlichen Schaden, der aus einer ernsten Verbindung Ferdinands mit einer Bürgerlichen entstehen würde.
Die im Original getrennten Szenen stehen sich hier wie leicht verzerrte Spiegelbilder gegenüber. Ihre Akteure benutzen teils die gleichen Sätze, werfen einander sich ergänzende Worte und Satzteile zu, treten in ein dialogisches Verhältnis zueinander – bis aus zwei Szenen, auch räumlich, eine einzige geworden ist. Und wenn sich dazu noch auf einer dritten Plattform sowie in den Zwischenräumen das zarte Liebesspiel der beiden jungen Leute entfaltet, hat Wehners Inszenierung die aufeinander wirkenden Kräfte der verschiedenen Ebenen von Schillers Konstellation zur selben Zeit in einen Raum gepackt.
Diesem Prinzip, das ein extrem genaues Sprech- und Bewegungstiming voraussetzt, folgt der gesamte Abend. Es werden dem aufmerksamen Zuseher dadurch Beziehungen und Hintergründe im Schiller-Stück augenfällig, die sonst erst langwierige Textanalysen zutage fördern. Was diese handelnden Personen tun und sagen, ist für jene gedankliche Bedrohung des eigenen Handelns und umgekehrt. Die Intrige von Wurm und Präsident, Misstrauen und Eifersucht ins Verhältnis zwischen Ferdinand und Luise zu säen, wird diskutiert, während der junge Mann noch unverbrüchliche Liebe schwört, dem Mädchen aber schon schwant, dass man sie nicht lieben lassen wird.
Aus der tiefgründigen Ernsthaftigkeit der Stückbearbeitung ergibt sich fast zwangsläufig, dass die Scheidung zwischen Gut und Böse hinter das Getriebensein aller und ihre reihum bald erreichte lebenstragische Ratlosigkeit zurücktritt. Der Satz „Ich muss … was? Was muss ich tun? Was kann ich tun?“ wandert von einer zugespitzten Situation zur nächsten in den Mund einer anderen verzweifelten Figur. Lady Milford (Karoline Reinke), die sich nach Befreiung sehnende Mätresse des Herzogs, ringt mit ihm. Ferdinand verliert sich in ihm, Luise kämpft zwischen Hellsicht und Weinen mit ihm.
Die Inszenierung zwingt in jeder Rolle zu hoch konzentriertem Spiel, verlangt zugleich von allen intensive charakterliche Ambivalenz und emotionale Entwicklung. So wird dieser Abend – den Felix Strüven als Hofmarschall Kalb mit harmlos-launigem Geplauder ins Publikum eröffnet – auch zu einem Exempel bemerkenswerter Schauspielkunst. Andreas Pecht