Monatskolumne Nr. 228 Juli 2024
„Erzähl’“, drängt neugierig Freund Walter nach meiner Rückkehr aus einem Urlaub an der Ostseeküste. Die meisten Zeitgenossen würden jetzt das Smartphone zücken, um allerhand Fotos von ihren Umtrieben an fernen Gestaden herzuzeigen. Walter sagt aber gezielt „erzähl’, nicht „zeig’“. Denn er weiß, dass ich nicht fotografiere, schon seit Jahrzehnten auch kein einziges Urlaubsfoto mehr mache.
Warum sollte ich nochmal knipsen, was schon millionanfach abgelichtet wurde? Den kleinen Hafen mit Leuchtturm in Timmendorf/Poel, Fischbrötchen vom Kutter am Kai, Dorsch mit Bratkartoffeln hier, Scholle mit Kartoffelsalat da, Pizza dort, die Welterbe-Altstadt von Wismar, das Schloss zu Schwerin, Ludwigslust, Sonnenuntergang über dem Meer … Ich weiß, Fotografieren ist für viele Leute ein schönes Hobby, und es sei ihnen gegönnt. Es irritieren mich indes jene, die mit Auto oder Radel an einem Plätzchen ankommen, sogleich das Smartphone zücken, losknipsen, das Ergebnis auf dem Minibildschirm prüfen, schnell ein Fischbrötchen mampfen, wieder wegfahren.
Wenn das jemanden glücklich macht, ist’s auch gut. Für mich wäre das nix, jede Gelegenheit primär auf Fototauglichkeit zu checken – um am Ende Welt und Leben in digitalen Kleinbildreihen zu dokumentieren. Ich will die Originale schauen, sie mit ihren Gerüchen, Geräuschen, Winden, Temperaturen, Stimmungen erleben und ins Gedächtnis aufnehmen. Die schönsten Momente bleiben so in ihrer Ganzheit unvergessen; den belanglosen Ballast sortiert das Hirn bald weg.
Deshalb drängt Walter „erzähl’“ und nicht „zeig’“. Obwohl er selbst zu den Fotografier-Talenten gehört, die atmosphärisch besonders dichte Motive nicht nur erkennen, sondern im Gegensatz zu mir auch „auf Platte“ bannen können. Bisweilen bringt er von Reisen nur ein Dutzend Fotos mit, darauf intensive Impressionen, wie du sie noch nie gesehen hast und die du statt auf dem Minibildschirm von Kamera oder Handy unbedingt in vernünftiger Vergrößerung sehen willst. Der Freund und sehr wenige Fotografierende in meinem Bekanntenkreis können das. Ich kann es nicht und, wie man an abertausenden Knipsereien sieht, die meisten anderen können es auch nicht. (Die Vorstellung stimmt mich etwas traurig, dass alle Menschen heutzutage via Internet zwar freien Zugang zu Werken, auch den bedeutendsten, etwa der Malkunst haben, sie aber doch nur im halben Postkartenformat auf dem Handy kurz begucken)
Also tue ich, was mir liegt: Ich erzähle Walter in Worten vom Urlaub. Vom Sonnenuntergang im Meer, den ich mit der Gattin im Arm von der Hafenmole aus betrachte, derweil uns ein eiskalter Seewind um die Ohren pfeift, während hinter uns diverse Boote an ihren Liegeplätzen knarzen, das Hafenwasser nach Hafenwasser riecht, das Nachtblinken des Leuchtturms anhebt, ufernah ein paar Schwäne und Enten auf der Dünung treiben, einige Möwen ihre letzte Runde fliegen und mich tiefe Ruhe erfasst.
Ich erzähle von meinem Staunen über Massen von Eltern und Großeltern, die Kleinkinder in Wägelchen hinter E-Bikes herziehen – bis bei genauerem Hinschauen deutlich wird: Ups, da hocken meist keine Kinder drin, sondern Hunde. Ich erzähle von unseren Autotouren weit ins mecklenburgische Hinterland, ohne Navi, gestützt nur auf eine gute Karte und Straßenschilder. So wird auf einsamen Kleinststraßen der Weg zum Ziel, genießen wir eine sanfte Mulden-, Hügel-, Seenlandschaft, einst von Gletschern geformt.