ape. Lassen Sie mich eine kleine Geschichte aus fernen Jugendtagen erzählen. „Och nöö!“, mault Freund Walter. „Nicht schon wieder eine Lehrparabel, bei der man den Hintersinn erst ergrübeln muss. Red‘ Tacheles!“ Das ist ein alter Streitpunkt zwischen uns. Denn ich bin der Ansicht, man darf den Lesern was zutrauen. Und je mehr eigene Schlussfolgerungen sie ziehen, umso größer der Reiz und umso nachhaltiger die Wirkung des Denkanstoßes. Walter sieht das anders und knurrt deshalb achselzuckend: „Mach doch, was du willst.“ Dann also die Story, die wie folgt geht:
Ich bin im vergangenen Jahrhundert in einer Kleinstadt von 7000 Seelen aufgewachsen. Um die Wende von den 1960ern zu den 70ern war ich 14 bis 17 Jahre alt und gehörte dort einer Clique Altersgenossen/innen an, von denen einige im nahen Heidelberg aufs Gymnasium gingen. Von dort brachten wir allerhand Einflüsse aus der damaligen Umbruchswelt der 68er-Studentengeneration mit ins provinzielle Hinterland des Neckartals. Logisch, dass unsere um die 20, an Wochenenden auch mal 50 und mehr Jugendliche umfassende Clique in besagter Kleinstadt bald zu einem, sagen wir: sehr ungewöhnlichen Faktor wurde.
Kein Mensch dort hatte so lange Haare wie wir und trug so eigentümliche Klamotten: die Jungs in verwaschenen bis zerrissenen Hosen, Opas Arbeitsmantel oder zerschlissene Militärparka übergezogen; die Mädels in Schlagjeans oder auch mal einem Minirock, dazu schwere Boots an den Füßen, obenrum Batik-Shirts, Palästinenser-Schals, bunte Flickerldecken und meist weithin „duftend“ nach Patschuli-Öl. Niemand hörte, sang, grölte so seltsame Musik so laut wie wir, tanzte gar an Straßenecken, auf dem Marktplatz, im Park dazu. Und noch niemals hatte dort jemand erlebt, was bei uns Usus war: Knutscherei in aller Öffentlichkeit. Das einzige Element, das wir aus der Väterkultur übernommen hatten, war die Liebe zu Bier und Tabak.
Wir waren per se eine Provokation für die Mehrheitsgesellschaft am Ort – selbst wenn wir keiner Fliege was zuleide taten. Sahen sie uns kommen, wechselten Altbürger die Straßenseite – beschimpften uns als Hippies, Gammler, Faulenzer, Kommunisten. Mancher wünschte uns „ins Arbeitslager“ oder „nach drüben“, einige zischten „Gaskammer“. Kurzum: Die etwas andere Lebensart eines Teils der eigenen Jugend war für viele der Kleinstädter die fremdeste Fremdartigkeit, die sie in der Heimat je erlebt hatten. Weit fremdartiger noch als die Aussiedler aus den ehemals deutschen Ostgebieten, die sie bis eben stets misstrauisch beäugt hatten; ja, fremdartiger selbst als die Gastarbeiter aus Italien, Jugoslawien, Griechenland, der Türkei.
Fertig. Das war meine Geschichte. Walter reißt die Augen auf: „Und den Rest soll man sich denken? Dann sag‘ mir wenigstens, was aus deinen Kumpanen geworden ist.“ Soweit mir bekannt, verdienen die meisten ihr Brot als Facharbeiter und Handwerker, sind Lehrer, Ärzte, Wissenschaftler, Musiker, Journalisten geworden oder leiten eine eigene Firma. Von zweien weiß ich, dass es das Schicksal nicht gut mit ihnen meinte, ein weiterer hat Suizid begangen. Statistischer Durchschnitt also; vom etwas erhöhten Anteil der Leute mit Hochschulabschluss mal abgesehen. „Und wie ticken die heute“, will Walter wissen. Weiß ich nicht, die Kontakte sind spärlich. Doch ich hoffe, dass sich alle daran erinnern, für die Mehrheit in ihrem Städtchen mal die fremdeste Fremdartigkeit gewesen zu sein.
(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 09. Woche im Februar/März 2018)