Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Das bisschen Bevölkerungsrückgang in den Industrieländern ist ein Segen

Wider die Hysterie in der gegenwärtigen deutschen Familiendiskussion

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Unkorrigiertes Manuskript eines Vortrags, den ich erstmals im März 2006 gehalten habe.

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Meine sehr verehrten Damen und Herrn,

neue Hiobsbotschaften von der deutschen Geburtenfront versetzten Mitte März die Republik neuerlich in Aufregung. Anlass war die Publikation einer Studie des „Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung“. Danach sei die Zahl der in Deutschland geborenen Kinder pro 1000 Einwohner die niedrigste weltweit. Nur noch 1,36 Kinder bringe eine Frau hier zu Lande zur Welt.

Die Zahl stimmt, die damit verbundene Zuweisung der Weltspitze durch das Berlin-Institut ist allerdings falsch. Laut Deutsche Stiftung Weltbevölkerung liegt die so genannte „Gesamtfruchtbarkeitsrate“ beispielsweise fast in allen Ländern des ehemaligen Sowjetblockes niedriger, vorneweg im katholischen Polen mit 1,2 Kindern pro Frau. Die ebenfalls überwiegend katholischen und bekanntermaßen besonders kinder-närrischen Italiener und Spanier gebären seit Jahren weniger Kinder als die Deutschen: In beiden Ländern liegt die Rate bei 1,3 Kindern pro Frau. Das nur der Korrektheit halber.

In der Tat aber sind solche Geburtenraten viel zu niedrig, um die Bevölkerungszahl in den betreffenden Ländern – auf der Basis eigenen Nachwuchses – auch nur stabil zu halten, von Wachstum ganz zu schweigen. Die Nachrichten von Mitte März für Deutschland sind im Grundsatz jedoch nicht neu, denn die „Gesamtfruchtbarkeitsrate“ nimmt bei uns schon seit rund 40 Jahren kontinuierlich ab.

Die Wissenschaft hat ausgerechnet, dass das so genannte „Ersatzniveau“ – also die Zahl der Geburten, die notwendig sind, um die bestehende Größe einer Population zu halten – bei durchschnittlich 2,1 Kindern pro Frau liegt. 2,1! Wir haben derzeit 1,36; Tendenz: weiter abnehmend. KATASTROPHE – DEN DEUTSCHEN GEHEN DIE KINDER AUS, DIE DEUTSCHEN STERBEN AUS schreit da die Zeitung mit den großen Buchstaben, und beileibe nicht nur die. Was sich indes bei genauerem Betrachten der Fakten als Panik- und Stimmungsmache erweist. Hochgerechnet, ergibt sich aus einer Fruchtbarkeitsrate von 1,3 Kindern pro Frau, dass die Einwohnerzahl Deutschlands von heute 82 Millionen bis zum Jahr 2050 auf etwa 75 Millionen sinken könnte. Ein Minus von 7 Millionen also, oder, anders ausgedrückt: Berechnet man die künftige Bevölkerungszahl allein auf Basis der biologischen Reproduktion, so könnte/würde sie bis 2050 um rund 8 Prozent abnehmen. Minus 8 Prozent! Mit Verlaub, 8 Prozent weniger Berufspendler würde Ihnen morgens die Zubringerstraßen nach Koblenz, Wiesbaden oder Mainz nicht gerade leer fegen; Sie würden dieses Minus vermutlich gar nicht merken.

Ich will hier die Probleme, die sich aus einem Bevölkerungsrückgang in Deutschland ergeben (könnten), keineswegs klein reden. Aber betrachtet man die alarmistische öffentliche Diskussion im Land während der vergangenen zwei bis drei Jahre, gelangt man leicht zu dem Schluss, an der Gebärfront stünde Ragnarök, die letzte Götterschlacht vor dem Untergang bevor. Bisweilen greift eine Stimmung um sich, als bestünde die Gefahr, dass schon morgen etwa Diez oder Mayen Geisterstädte werden, auf der A3 Pilze wachsen und Hirsche grasen. Man soll doch bitte die Kirche im Dorf lassen: Von einer Entvölkerung der Republik, gar einem Aussterben der Deutschen kann überhaupt keine Rede sein!

Gott sei Dank formiert sich inzwischen gegen diese Notstandshysterie auch eine Gegenbewegung. In deren publizistischem Zentrum steht im Moment, wenn ich richtig orientiert bin, vor allem die Wochenzeitung „Die Zeit“. Dort schimpfte unlängst meine verehrte Berufskollegin Iris Radisch: „Es vergeht kein Tag, an dem nicht irgendein neuer älterer Herr die jungen Frauen an ihren Auftrag für Vaterland, Rentenkasse und Kulturnation erinnert.“ In der gleichen Zeitung erschien die Woche darauf ein bemerkenswerter Artikel von Mitherausgeber Josef Joffe unter der provokanten Überschrift: „Kinderschwund – na und?“. Die Anmoderation zu diesem Artikel spricht gar vom „überbevölkerten Deutschland“.

Es ist beruhigend, zu wissen, dass doch noch ein paar namhafte Journalisten Statistiken lesen können und gegen die allgemeine Meinungshysterie in der Familienfrage bei Verstand geblieben sind. Joffe bedient sich derselben Datenquellen wie ich. Das sind in erster Linie UN-Erhebungen aus den Jahren 2003 bis 2005 sowie Faktenmaterial der EU und des Statistischen Bundesamtes. Danach leben zurzeit in Deutschland 231 Menschen auf den Quadratkilometer Landesfläche. In Frankreich sind es 110, in den USA 52, in Finnland 15. Wer will uns denn da noch weiß machen, ein weniger dicht besiedeltes Deutschland sei eine Katastrophe. Joffe jedenfalls meint, ein paar Millionen Bewohner weniger könnten uns und unserer Natur nicht schaden.

Ich will es pointierter sagen: Ein gewisser Bevölkerungsrückgang wäre eine Wohltat! Allerdings bin ich ziemlich skeptisch, ob das hochgerechnete 8-prozentige Minus bis 2050 überhaupt eintreten wird. Nicht etwa, dass der biologische Faktor, die Fruchtbarkeitsrate also, sich in größerem Umfang wieder aufwärts bewegen würde. Daran zu glauben, darauf zu hoffen oder dieses zu befürchten, ist müßig. Die Zeiten, da Frauen in unseren Breiten im Durchschnitt 3, 4 oder mehr Kinder zur Welt brachten, sind vorbei, endgültig vorbei. Kein noch so opulentes Förderprogramm, auch keine staatlich organisierte Ganztagsversorgung kann das Räderwerk der historischen Gesellschaftsentwicklung rückwärts laufen lassen. Alles, was in Hinsicht Familiepolitik derzeit vollmundig angekündigt und geplant wird, kann höchstens dazu dienen, das weitere Sinken der Geburtenrate abzubremsen.

Wobei, wie schon gesagt, Deutschland mit dieser Entwicklung keineswegs alleine steht. Im EU-Durchschnitt liegt die Fruchtbarkeitsrate derzeit bei 1,4 Kindern. Genau genommen weisen sämtliche Industrieländer sinkende Geburtenraten unterhalb des Ersatz-Niveaus aus. Das gilt sogar für die immer mal wieder als Gegenbeispiel angeführten USA, wo Familienidylle – unterstützt durch propagandistisches Dauerbombardement aus Hollywood – zu einer Art Staatsreligion hochstilisiert wird. Während übrigens zugleich die Zahl der Singlehaushalte nirgendwo auf der Welt schneller wächst, als in den amerikanischen Metropolen. In den USA beträgt die Fruchtbarkeitsrate derzeit 2,0 Kinder pro Frau. Womit sie erstens auch dort unter dem Ersatzniveau (2,1) liegt. Zweitens hängt die Geburtenrate in den Vereinigten Staaten wesentlich ab von der Gebärfreude ihrer hohen Bevölkerungsanteile mit Migrationshintergrund. Insbesondere bei den Latinos liegt die Geburtenrate weit über dem amerikanischen Durchschnitt.

Die Geburtenrate in den Industrieländern sinkt also reihum. Warum zweifle ich dennoch an dem besagten 8-Prozent-Minus in Deutschland bis 2050? Weil der biologische Faktor nur einer unter mehreren ist. Ein entscheidender zweiter Faktor ist die Migration, sind Einwanderung und Auswanderung. Sollte es tatsächlich irgendwann gravierende Probleme aufgrund des heimische Bevölkerungsrückganges in Deutschland geben: Was glauben Sie denn, wie schnell dann Wirtschafts- und Sozialverbände eine offensive Einwanderanwerbung fordern würden, und wie schnell die politischen Parteien jedweder Couleur die Grenzen aufreißen und Deutschland ganz regulär zum Einwandererland machen würden?! Wenn die Not, sprich der Menschenmangel (insbesondere Arbeitskräfte) wirklich einmal groß würde, die Bedenkenträger in Sachen Überfremdung würden rasch verstummen. Wie sie verstummten, als im 19. Jahrhundert Fremdarbeiter nebst Familien aus ganz Europa ins Ruhrgebiet strömten. Wie sie verstummten, als später nacheinander Polen und Jugoslawen, dann Italiener und Griechen, nachher die Türken und zuletzt (vergeblich) studierte Inder als Arbeitskräfte ins Land gerufen wurden. Sollte sich Kindermangel je zu einer tatsächlich – oder auch nur spintisiert – existenziellen Frage für das Land auswachsen, wird es kein langes Zögern geben, vor allem gebärfreudige Landsmannschaften als Einwanderer anzuwerben.

Und es wird nicht schwer sein, sie hierher zu bekommen, denn im Großteil der übrigen Welt entwickeln sich die Bevölkerungsverhältnisse nach wie vor genau andersherum als in den Industrieländern. Zwar sinkt – von einigen wenigen Landstrichen wie den Palästinensergebieten einmal abgesehen – die Geburtenrate auch in den Entwicklungsländern und in den Schwellenländern schon seit etlichen Jahren. Dennoch liegt die Fruchtbarkeitsrate dort anhaltend weit über dem Ersatzniveau. Im Schnitt aller Entwicklungsländer werden 3 Kinder pro Frau geboren. Rekordhalter ist der afrikanische Kontinent mit 5,1, mit großem Abstand folgen Lateinamerika (2,6) und Asien (2,5). Wobei die erstaunlich niedrige Rate in Asien sich aus dem ziemlich rasch zunehmenden Bildungsstandard in Japan und den „Tigerstaaten“ erklärt, vor allem aber aus der chinesischen Ein-Kind-Politik. Den gesamten Erdball in den statistischen Blick genommen, ergibt sich eine globale Fruchtbarkeitsrate von durchschnittlich 2,7 Kindern pro Frau. Das entspricht 21 Geburten pro 1000 Erdenbewohnern im Jahr, dem stehen 9 Todesfälle pro 1000 gegenüber. Mithin wächst die Menschheit immer weiter, zurzeit um 1,2 Prozent pro Jahr.

Ich quäle Sie mit all diesen Zahlen, weil sie den Blick auf die eigentliche Problematik lenken, die in der hysterischen deutschen Nabelschau völlig untergeht: Die größten Herausforderungen der Gegenwart und der nächsten Zukunft rühren nicht von Unterbevölkerung in einigen Gegenden des Erdballs, sondern von gravierender Überbevölkerung in den meisten Teilen der Erde. 6,5 Milliarden, also 6500 Millionen Menschen leben derzeit auf dem Globus. Das biblische „wachset und mehret euch“ hat in erschreckendem Maße gut funktioniert – genau genommen allerdings erst ab der industriellen Neuzeit. Die Historiker gehen für die Zeit um Christi Geburt von einer Weltbevölkerung zwischen 200 und 400 Millionen Menschen aus. Die Zahl stieg bis ins Jahr 1804 extrem langsam auf 1 Milliarde an. Von da an ging es dann rasant aufwärts: Binnen nur 123 Jahren bis 1927 hatte sich die Menschheit auf 2 Milliarden verdoppelt; als ich 1955 geboren wurde, waren es knapp 3 Milliarden, bei Geburt meines Sohnes 1981 wurden 4,8 Milliarden gezählt; heute sind es 6,5, spätesten 2013 werden es 7 Milliarden sein. Für 2050 rechnet man im günstigsten Fall mit etwa 8,5, wenn´s schlecht läuft mit mehr als 10 Milliarden Menschen auf der Welt.

Frage: Wann ist das Boot voll? Bei welcher Kopfstärke säuft das Schiffchen Erde ab? Im Jahre 1741 veröffentlichte der Denker und Wissenschaftler Johann Peter Süßmilch in Berlin eine Schrift, in der er vorrechnete, dass die maximale „Tragfähigkeit der Erde“, wie er es nannte, 14 Milliarden Menschen umfasse. Zu Süßmilchs Zeit lebten über 90 Prozent der Bevölkerung in und von der Landwirtschaft. Das würde so nicht bleiben, wusste er: Und setzte eine enorme Produktivitätssteigerung in Landwirtschaft und Handwerk voraus, spekulierte auf die Urbarmachung von Wüsten, Sümpfen und Urwäldern, auf eine zu jener Zeit noch kaum vorstellbare Ausdehnung des Welthandels und der manufakturmäßigen Arbeitsteilung. Süßmilch war ein kluger, weit vorausschauender und fantasievoller Mann. Immerhin erkannte er, dass die Belastbarkeit des Planeten letztlich begrenzt ist.

Aber dieses Limit lag für Süßmilch in schier unendlicher Ferne. Wir erinnern uns: zu seiner Zeit lebten noch nicht einmal eine Milliarde Menschen auf Erden. Für ihn war der Globus vorderhand ein gigantischer Entwicklungs- und Wachstumsraum. Grenzen des Wachstums, Verknappung der Ressourcen, Umweltverschmutzung bis hin zur Klimabeeinflussung, schmelzende Polkappen, verdunstende Meere, versteppende Äcker etc pp. – das ganze Problemszenario heutiger Zeit entzog sich seiner Vorstellungskraft ebenso wie der Sachverhalt, dass es einmal Milliarden Menschen geben könnte, von denen jeder direkt und indirekt 1000 mal mehr Luft, Boden, Wasser, Energie und Rohstoffe verbraucht als der Zeitgenosse des mittleren 18. Jahrhunderts.

Angesichts der heutigen Realitäten bei noch nicht einmal halb so vielen Menschen auf Erden, erweist sich die 14-Milliarden-Größe als unhaltbar. Dennoch gibt es auch heute wieder ein paar Leute, Gen-Wissenschaftler und religiöse Fundamentalisten in der Hauptsache, die die Größenordnung von Süßmilchs „Tragfähigkeit der Erde“ für durchaus annehmbar halten. Viele andere tun einfach so, als existiere das Überbevölkerungsproblem einfach nicht: Beispielsweise die gesamte Weltwirtschaft, insofern ihr quasi ur- oder eigengesetzliches Streben vollständig auf Wachstum ausgerichtet ist.

Um Wachstum zu generieren gibt es drei Möglichkeiten. Erstens: Die vorhandenen Menschen konsumieren immer größere Mengen von produzierten Gütern, so dass in der Folge immer mehr Güter produziert und verkauft werden können. Zweitens kann Wachstum generiert werden, indem die absolute Zahl der Menschen wächst, so dass immer größere Mengen von Gütern gebraucht werden. Die dritte Möglichkeit schafft kein Wachstum, sie lagert es nur um: Man konkurriert den Mitbewerber in Grund und Boden, jagt ihm Märkte ab oder übernimmt ihn gleich vollends. Die bisherige Menschheitsgeschichte zeigt ein ebenso lebhaftes wie unter sozialen Gesichtspunkten problematisches Nebeneinander aller drei Möglichkeiten.

Eigentlich sind die Grenzen des quantitativen Wachstums längst überschritten. Und zwar jene Grenzen, unterhalb derer die Spezies Mensch noch leben konnte, ohne ihren Lebensraum so sehr zu schädigen, dass der eigene Bestand gefährdet ist. Das Wachstum der globalen Population und ihres Konsums lappt seit geraumer Zeit sehr deutlich über ihre natürlichen Grenzen hinaus – doch der ökonomische Mainstream betreibt Business as usual, als gelte noch immer die Berechnung des Herrn Süßmilch von 1741. Ich will bestimmt nicht die Anstrengungen und Errungenschaften des modernen Umweltschutzes wegreden. Aber ich befürchte, dass die schönen, allerdings vergleichsweise doch bescheidenen Fortschritte ökologisch orientierter Politik und Lebensweise vom globalkapitalistischen Gang der Dinge platt gewalzt werden. Denn zur gewohnten Raubbau- und Expansionsökonomie der alten Industrieländer kommt nun auch noch der durchaus begreifbare Drang der Schwellen- und Entwicklungsländer, nach Jahrhunderten endlich ihren Anteil am Wohlstand haben zu wollen.

Ich möchte dieses Plattwalzen am Beispiel der weltweiten Automobilisierung verdeutlichen, weil es den Irrwitz der Wachstumsideologie besonders augenfällig macht. (Das Beispiel fand bereits in meinem Essay vom > 2006-01-02 „Die Moderne in der eigenen Falle“ Verwendung). Nehmen wir den Traum der Automobilindustrie von der Motorisierung der bislang unterentwickelten Länder. Allein die Vorstellung, es könnte etwa in China ein Motorisierungsgrad wie in Deutschland erreicht werden, muss jedem, der nur ein bisschen ökologischen Verstand besitzt, den Angstschweiß auf die Stirn treiben. Die wahnwitzige deutsche Automobilrate (ein Auto pro zwei Bürger, Tendenz weiter steigend) auf China übertragen, hieße: Die globalen Ressourcen müssten 650 Millionen zusätzliche Verbrennungskraftwerke auf Rädern aushalten. Das wäre grob eine Verdoppelung des derzeitigen Weltbestandes von rund 750 Millionen Fahrzeugen.

Schon heute verursachen Automotoren ein Fünftel des weltweiten CO2-Ausstoßes. Nimmt man die Produktion der Autos sowie Herstellung und Erhalt der Infrastruktur für ihren Betrieb hinzu, ist es ein Drittel. Sämtliche Entwicklungs- und Schwellenländer weisen eine eindeutige Tendenz in Richtung Automobilgesellschaft nach westlichem Vorbild auf. Deshalb soll es in 25 bis 30 Jahren nach Experten-Hochrechnung etwa 2,5 Milliarden (!) Autos auf Erden geben; so viele, wie es 100 Jahre davor Menschen gab. Das ist jede Menge vom heiß ersehnten Wachstum. Das ist aber zugleich auch blanker Irrsinn.

Für jeden, der einen Blick auf und ein bisschen Verantwortungsgefühl für die Zukunft des Planeten hat, ist völlig klar: Jedwede Reduzierung der Geburtenrate ist eine kleine Zukunftshoffnung mehr. Deshalb begrüßt die UNO den Geburtenrückgang in Europa und die Wirkung der Ein-Kind-Politik der Volksrepublik China. Deshalb ist die Eindämmung, ja letztlich der Stop des globalen Bevölkerungswachstums eines der zentralen Ziele der Weltorganisation. Interessanter Weise gilt bei der UNO, bei Entwicklungshelfern und Bevölkerungswissenschaftlern neben Sexualaufklärung und Verbreitung von Verhütungsmitteln die Bildungsförderung vor allem für Frauen als wesentliches Instrument zur Senkung der Geburtenrate. Warum? Weil es einen eindeutigen statistischen und lebenspraktischen Zusammenhang zwischen der Schulbildung der Frauen und der Zahl der Kinder gibt, die sie zur Welt bringen. Ein Beispiel für viele: In Honduras gebären Frauen ohne Schulbildung durchschnittlich 7,1 Kinder, solche mit Grundschulbildung 5,3 Kinder und Frauen mit höherer Schulbildung 2,9 Kinder. Diese Gesetzmäßigkeit findet sich in jedem Erdteil wieder; nur dass in Afrika die Kinderzahl in allen Kategorien noch höher und in Europa insgesamt erheblich niedriger liegt. Doch generell gilt: Je höher der Bildungsgrad der Frauen, umso niedriger im Durchschnitt die Kinderzahl.

Auf breiter Front zu durchgreifender, die globale Geburtenrate messbar beeinflussender Wirkung kommt dieser Zusammenhang allerdings erst seit etwa 40 Jahren. Genauer: Seit Beginn des Siegeszuges der Antibabypille und damit der jüngsten Welle der Frauenemanzipation. Da beide, eng miteinander verwobenen, Prozesse in den Industrieländern zuerst begannen und dort am weitesten fortgeschritten sind, liegt folgerichtig die Geburtenrate dort auch am niedrigsten. In den 1960er-Jahren bekam die Menschheit erstmals in ihrer Geschichte effektive, massentaugliche Verhütungsmittel an die Hand, die die Zeugung verhindern, ohne dazu Sexualitätseinschränkung oder -verzicht zu verlangen. Und, ganz wichtig: Es waren/sind Verhütungsmittel, die der Anwendungshoheit der Frauen unterstehen, Verhütungsmittel, die der physischen Mitwirkung des Mannes nicht mehr bedürfen.

Seither gehen die Geburtenraten Zug um Zug zurück – in den Industrieländern eher als in der Dritten Welt, in Bevölkerungsschichten mit ordentlicher Schulbildung schneller als unter Ungebildeten und Armen, in weltlich geprägten Milieus effektiver als in religiösen, in den Städten durchgreifender als auf dem flachen Land. Sollte sich diese Tendenz fortsetzen, prognostiziert die Wissenschaft einen Umkehrpunkt in der Entwicklung der Weltbevölkerung bei einem Maximum von etwa 9 Milliarden Menschen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Geburtenraten nicht wieder steigen – auch in Deutschland nicht. Im Grundsatz lässt sich die These formulieren: Die Zukunft der Spezies hängt wesentlich davon ab, dass sie auch global möglichst rasch in eine längere Phase negativen Wachstums, also der zahlenmäßigen Schrumpfung eintritt.

Kehren wir in heimatliche Gefilde zurück, dorthin also, wo das im Ansatz bereits der Fall ist. Ich sage vorwitzig: Im günstigen Fall sinkt die deutsche Bevölkerung bis 2050 von 82 auf 75 Millionen. Josef Joffe erinnert in seinem „Zeit“-Artikel daran, dass das immer noch 30 Millionen mehr wären als bei der zweiten Reichsgründung 1871, und fünf Millionen mehr als zum Zeitpunkt der größten Ausdehnung von Hitlers Drittem Reich 1942. Nichts spricht dafür, die heutige Bevölkerungsstärke in Deutschland als Normalität, als absolute Messlatte oder als unverzichtbares Muss zu betrachten.

Dass Produktivität keine Frage der Kopf- oder Händezahl ist, lehrt uns die Arbeitsgeschichte, und lehrt uns ziemlich schmerzlich deren Gegenwart. Noch zur Mitte des 20. Jahrhunderts waren rund 50 Prozent der Deutschen Bauern nebst Angehörigen. Heute sind es noch zwei bis drei Prozent – und dennoch ist die deutsche Landwirtschaft eine der produktivsten weltweit. Gleiches gilt im Grundsatz für die Industrie: Trotz allfälligen Lamentierens gewinnt sie eine Exportweltmeisterschaft nach der anderen – dank steigender Produktivität bei sinkenden Beschäftigtenzahlen.

Warum dann eigentlich diese Kindernotstandshysterie? Wegen der Rentenkasse. Zu wenige Junge könnten zu viele Alte nicht mehr aushalten, geht die verbreitete Logik. Indes: Wir hätten diese und manch andere Diskussion gar nicht oder nur in sehr viel gelassenerer Form, stünden von unseren fünf Millionen Arbeitslosen vier Millionen steuer- und abgabenpflichtig in Lohn und Brot. Will sagen: Das Problem der Rentenkasse ist weniger ein Problem von zu geringer Kinderzahl, eher ein Problem der Beschäftigungsquote. Und das lässt sich nun mit mehr Kindern gerade nicht beseitigen!

Es gibt schon für die Lebenden nicht genügend ordentlich bezahlte Arbeit. Wieso sollte es die ausgerechnet für stärkere Geburtenjahrgänge geben? Es ist doch eher umgekehrt so, dass unter den gegebenen Bedingungen eine größere Population noch mehr Probleme hätte, ihre Menschen in Arbeit zu bringen. Schlussendlich würde „mehr Kinder“ bloß bedeuten, dass die Zahl derer, die staatliche Sozialzuwendungen bekommen müssen, zunimmt. Oder formulieren wir es in aller Schärfe: Es zynisch, nach mehr Kindern zu schreien, wenn man für diese Kinder keine Arbeit hat, wenn diese Kinder dann doch nur in die Perspektivlosigkeit hineingeboren werden. Keines der bestehenden Probleme, auch nicht dasjenige der Rentenkasse, wird durch „mehr Kinder“ gelöst. Im Gegenteil, es würden sich sämtliche Probleme eher noch verschärfen.

Gehen wir nun mal ganz weit herunter auf die regionale und lokale Ebene. 8 Prozent Bevölkerungsschwund könnte heißen: 8 Prozent weniger Schüler je Lehrer – das wäre ein kleiner Segen! Könnte heißen: 8 Prozent weniger Ressourcenverbrauch und Dreckerzeugung – längst nicht hinreichend, aber doch schön! Könnte heißen: 8 Prozent weniger Autos auf den Straßen – nicht eben die Welt, aber begrüßenswert! Könnte heißen: 8 Prozent weniger Flächenverbrauch und Landschaftszersiedelung – längst überfällig! Alles über alles gesehen: Die Lebensqualität, auch für die dann verbliebenen Kinder, dürfte zunehmen. Der Ökologie täte das Minus ohnehin gut.

Eine Schwierigkeit könnte freilich darin bestehen, dass die 8 Prozent Minus sich nicht gleichmäßig auf die Republik verteilen. Die Studie des Berlin-Instituts konstatiert ein erhebliches innerstaatliches Gefälle und prognostiziert erhebliche innerstaatliche Wanderbewegungen: Von wirtschaftsschwachen in wirtschaftsstarke Regionen, von Gebieten mit geringer Lebensqualität in solche mit hoher, vom Land in die Städte. Aber daran ist nichts neu – auch bei sinkender Geburtenrate würde sich einfach fortsetzen, was wir seit ewigen Zeiten und jüngst, seit dem Mauerfall, wieder augenfällig kennen: Die Menschen gehen dorthin, wo sie sich ein besseres Leben versprechen. Lediglich ein Trend scheint für unsere Gegenden neu: der verstärkte Zug vom Land in die Städte, der zurzeit beginnt und sich wohl noch verstärkt. Wobei damit eigentlich nur eine kurze Zwischenzeit unterbrochen wird, und auch die deutsche Gesellschaft quasi zum Normalzustand oder zur historischen Haupttendenz zurückkehrt: und die heißt Landflucht.

Häuslebauen und Hauptwohnsitz auf dem Land nehmen, diese starke Strömung ist gerade mal 30 bis 40 Jahre alt und nirgendwo so stark ausgeprägt wie in Deutschland. Eine Ausnahmeerscheinung also, sowohl regional wie zeitlich; und sie geht jetzt zu Ende. Die Welt tickt eben anders: In diesen Tagen werden erstmals in der Erdgeschichte mehr Menschen in Städten leben als auf dem Land. Diese Städte reichen von der 20 000-köpfigen Gemeinde bis zu teils unglaublichen Monstergrößen. 20 urbane Moloche mit mehr als 10 Millionen Einwohnern gibt es weltweit, Tendenz steigend. Der größte davon ist Tokio mit 35 Millionen Einwohnern, gefolgt von Mexiko City und New York mit jeweils knapp 20 Millionen. Daneben nehmen sich Koblenz, selbst Köln und Frankfurt wie Dörfer aus.

Man mag diese Urbanisierung bedauern, und ich selbst möchte um keinen Preis in solch einem Moloch leben. Aber man muss gedanklich doch akzeptieren, dass die Mehrheit der Menschheit heute aus Städtern besteht. Was im übrigen eine fast logische Folge der Mechanisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft ist. Ein moderner Bauer kann, rechnerisch, heute hunderte Menschen mit den notwendigen Lebensmitteln versorgen, aber vom Erlös kaum mehr als seine eigene Familie ernähren. Das ist Segen und Fluch zugleich der Produktivitätsentwicklung.

Wenn die Landflucht anhält, sinken in Gebieten wie etwa den rheinischen Schiefergebirgen die Mieten und Grundstückspreise. Das mag den einen oder anderen Einheimischen schmerzhaft treffen. Sollte die Abwanderung etwa aus dem Taunus und dem Westerwald sehr stark ausfallen, würden sich hier wieder Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Dieses Extrem steht nicht zu erwarten, u.a. weil mit den Ballungsräumen Rhein-Main und Köln/Bonn Boom-Regionen direkt nebenan liegen. Außerdem kann, wie wir vorhin gehört haben, ein Bevölkerungsschwund hier zur Erhöhung der Lebensqualität führen, die schon ein Jahrzehnt später einen Teil der Landflüchtigen wieder zurückbringt. Vielleicht. Denn die Launen der Menschen sind wandelbar, und die Motive von Wanderströmen bleiben oft rästelhaft. Klar sollte jedoch sein, dass mit dieser Situation nur zurecht kommt, wer ein gewisses Absinken der Bevölkerungszahl auch als Chance begreift. Global gesehen, ist das Bevölkerungs-Minus überlebensnotwendig für die Spezies; für Deutschland oder Europa betrachtet, ist es alles andere als eine Katastrophe.

Aber was ist nun mit der Rentenkasse? Ja was ist damit! Früher einmal hieß es, viele Kinder seien die beste Altersversorgung. Bis vor ein paar Jahren wusste die allgemeine Schulbildung noch, dass auf diese Weise vor allem ein ewiger Kreislauf der Armut in Gang gesetzt wird: Elend gebiert zu viele Kinder, und zu viele Kinder haben noch mehr Elend zur Folge. Diese Erkenntnis ist eigentlich schon ziemlich alt, aber die Deutschen scheinen sie in diesen Tagen vergessen zu haben. Denn ihnen fällt im Hinblick auf die Altersversorgung nichts besseres ein, als Propaganda für eine Steigerung der Gebärfreude zu machen.

Das Problem der Rentenkasse ist ein Problem von Arbeit und Produktivität, keines von mehr oder weniger Kindern. Brauchte es dereinst 9 Kinder, um einem greisen Elternpaar das Gnadenbrot zu sichern, mag heute eine junge, hochproduktive Arbeitskraft hinreichen um einen Rentner zu versorgen. Bei entsprechend gesteigerter Produktivität kann eine solche Arbeitskraft morgen vielleicht zwei oder drei Rentner durchbringen. Zumal, wenn diese selbst bis 67 oder länger arbeiten. Da Produktivität letztlich ein Kollektivfaktor ist – in den neben den betrieblichen Komponenten auch die gesamte gesellschaftliche und staatliche Infrastruktur vom Straßennetz über Bildung und Volksgesundheit bis hin zur öffentlichen Ordnung einfließt –, wäre es nur logisch, die Renten auf Steuerfinanzierung umzustellen. Sind genügend Arbeitsplätze vorhanden, ist das Renten-Problem damit weitgehend gelöst. Sind nicht genügend Arbeitsplätze vorhanden, wird das Problem durch mehr Kinder nur noch größer.

Die entscheidende Frage im Themenfeld Rente lautet also nicht: Wie kriegen wir unsere Familien, insbesondere unsere Frauen dazu, wieder mehr Kinder zu bekommen? Sondern sie lautet: Wie kommen wir zu genügend ordentlichen Arbeitsplätzen? Das aber ist ein völlig anderes Thema – allerdings auch eines, bei dem eine etwas kleinere Bevölkerung eher hilfreich als hinderlich wäre.

Andreas Pecht

Andreas Pecht

Kulturjournalist i.R.

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