Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

NZSZ: Neue Zeiten – Schräge Zeiten

„Ich seh’ in dein Herz“ – und finde dort eine gewisse Unleidlichkeit gegenüber dem jetzigen Gang der Dinge. Die erinnert an den Roman „Der Ekel“ vom französischen Schriftsteller und Existenzialismus-Philosophen Jean-Paul Sartre, dessen 100. Geburtstag man im Juni hätte feiern können. Darin stellt einer fest, dass er in der eigenen Alltagsumgebung völlig fremd geworden ist. Nicht, dass früher alles besser gewesen wäre. Wenigstens aber durfte man früher noch hoffen, alles werde besser. Was haben wir stattdessen heute für einen Salat? Selbst die Sprache kaut faule Blätter: Das einst schöne Wort „Reform“ meint bloß noch „Retten, was zu retten ist“. Wenn also demnächst Angies Leute mit dem Shanty „Wir sind die besseren Reformer“ Gerds Crew auf der Brücke ablösen, dann weiß man auf den Ruderbänken, die Rettungsaktion für die Oberdeckpassagiere geht mit frischen Kräften weiter. An einen sicheren Schiffskurs, der alle Mann wohlbehalten heimbringt, denkt oben vermutlich längst keiner mehr.  
 
Anderes Beispiel. Was ist „Service“? Wenn lebendige Menschen, die sich auskennen, anderen Menschen (Kunden), die keine Ahnung haben, bereitwillig und professionell weiterhelfen. Und zwar, ohne sie über den Tisch ziehen oder blödschwätzen zu wollen. Was ist „Servicewüste“? Wenn das anonyme „Support-Team“ meines Internet-Providers nur per E-Mail-Formular oder mein „Mobilfunk-Partner“ nur über eine zifferngesteuerte Durchfragmaschine „ansprechbar“ sind.  Wenn sich hinter der Telefonnummer meiner Münchner Versicherung ein Hamburger Call-Center verbirgt, wo sich ahnungslose Jobber im Animateur-Ton melden: „Guten Tag, mein Name ist Kundhilf  Weißnichtwie, was kann ich für sie tun?“.  Jetzt fragen Sie mal einen Yuppie-Manager nach „Service“ oder „Servicewüste“. Der dreht Ihnen den Wortsinn glatt rum. Babylonische Sprachverwirrung allenthalben.

In Koblenzer Museen gibt es derzeit eine Reihe bemerkenswerter Sonderausstellungen. Die klügste beherbergt das Mittelrhein-Museum (bis 10.7.), weil dort die Leiden der Mittelrheiner am Weltkriegsende als Folge auch des heimischen Irrsinns während der Heil-Hitler-Zeit behandelt werden. Die verblüffendsten Blickwinkel eröffnet die Foto-Kunst von Wolfgang Horbert, bis 31.8. unter dem Titel „Impulse“ auf der Festung Ehrenbreitstein zu sehen. Die interessanteste Ausstellung hat das Ludwig-Museum mit seinen aktuellen Fotografien brasilianischer Künstler, zusammengefasst unter dem Titel . „Brazilian Art Projekt I“ (bis 31.7.).  Im gleichen Haus gibt es auch die derzeit schönste Ausstellung, weil schon ihr rehäugiger, schwanenhalsiger Gegenstand Schönheit pur ist: Audrey Hepburn, kunstsinnig und gefühlvoll abgelichtet (bis 14.8.).

Oft wurde die Schauspielerin, die so gerne bei Tiffanys gefrühstückt hätte, auch als süß bezeichnet. Was mir angesichts des Formats der Dame schon immer deplaziert schien,  verbietet sich dieser Tage in Koblenz vollends. Oder können Sie sich vorstellen, die großartig Audrey Hepburn mit demselben Adjektiv zu belegen wie Gummibärchen und Lakritzkonfekt? Womit wir bei Haribo wären und der momentan unzweifelhaft, weil im ursprünglichen Wortsinn „süßesten“ Koblenzer Präsentation, die bis 13.11. am Landesmuseum auf dem Ehrenbreitstein klebt.

Die appetitanregende Kultbären-Schau könnte man sich aber durchaus auch im frisch herausgeputzten Koblenzer Hauptbahnhof vorstellen. Das Süßgummi-Aroma würde drinnen wunderbar in die Geruchskomposition aus Frikadellenbrät, Backbrezel, Gourmet-Imbiss- und Cafébar-Düften passen. Die Goldbären-Parade dürfte auf dem spiegelblanken, weiträumigen Exerzierplatz zwischen Bahnhof und Landesbibliothek aufmarschieren. Haribo-Botschafter Thomas Gottschalk könnte derweil unter dem  properen Wellendach der neuen Eingangs-Esplanada zwischen den ausnehmend hübschen Blumenpyramiden flanieren. Natürlich müsste dort erst das Fahrrad-Parkverbot rigoros durchgesetzt werden. Kann ja sowieso nicht angehen, dass der Schlendrian, der früher unter großen Kastanien und auf ollen Kopfsteinen  herrschte, an diesem Glanzstück moderner Bahnhofsgestaltung gleich wieder einreißt.
 

Andreas Pecht

Kulturjournalist i.R.

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