Städter sind bisweilen blind für die Phänomene der regionalen Natur. Wiese ist für sie nur Wiese, Acker Acker, Wald Wald. Vom Getier erfreuen sie die Vögel, ihr Verhältnis zu Insekten ist gespalten und Wildschweine machen ihnen vom bloßen Hörensagen schon Angst – auch wenn sie nie mit freien Schwarzkitteln konfrontiert wurden/werden. Freund Walter ist so ein blinder Stadtmensch. Ihn muss man beim Spaziergang durch Wald und Flur stets mit der Nase aufs Interessante stoßen, von alleine bemerkt er herzlich wenig.
Bei seiner jüngsten Fahrt von Koblenz zu mir herauf in den Westerwald fiel ihm indes alles aus dem Gesicht. Denn selbst der großstädtische Naturblinde kann DAS nicht übersehen. Verstört verlangt er erstmal nach einem Schnaps und grummelt: „Es ist gruselig, entsetzlich, katastrophal.“ Nach einer Weile räumt er ein: „Wir hören und lesen davon, sehen ja selbst in unseren Parks oder im Stadtwald, dass es mit vielen Bäumen nicht zum besten steht. Aber vom tatsächlichen Ausmaß der Katastrophe hier draußen in den großen Wäldern macht sich in der Stadt kaum jemand einen Begriff.“
Was wühlt Walter derart auf? Er kam bei seiner Fahrt über die Landstraßen an Notkahlschlag auf Notkahlschlag vorbei. Er durchfuhr triste baumlose Areale, die bis eben von Fichtenwald bestanden waren. Der Blick über Waldhorizonte zeigte ihm wie von braunen Pocken durchseuchtes Grün – diese unzähligen Krankheitsmale, das sind die sterbenden oder schon toten, aber noch nicht weggeholzten kleineren Fichtenbestände und Einzelfichten inmitten des Mischwaldes. Ich zeige ihm bei einer Rundfahrt von Ransbach-Baumbach über Montabaur nach Rennerod, via Bad Marienberg und Altenkirchen wieder zurück noch mehr davon und noch mehr und immer mehr.
Der Westerwald ist von Schad- und Kahlstellen durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Das Fichtensterben infolge zu weniger Niederschläge, zu hoher Temperaturen, abgesunkener Grundwasserspiegel und schließlich der Heimsuchung der geschwächten Bäume durch den Borkenkäfer ist hierorts ins finale Stadium eingetreten: In fünf Jahren wird es diese Baumart – die dereinst aus nördlicheren Gefilden eingeführt wurde, aber 200 Jahre lang mit dem hiesigen Klima ganz gut zurecht kam – heroben nicht mehr geben. In vielen anderen deutschen Waldlandschaften ist die Lage ähnlich oder noch schlimmer.
Bei den Fichten wird es nicht bleiben. Sie sind nur die ersten, weil genetisch für ein kühleres Klima gebaut, als wir es nun bekommen (haben). Wo noch einige Altbestände der inzwischen bereits von zwei Förstergenerationen verworfenen Quadratkilometer großen Monokulturen existieren, sind sie besonders empfindlich. Doch ich zeige Walter auch die bereits schwächelnden Ureinheimischen, deren Kränkeln das ungeübte Auge vorerst nur schwer erkennt: Buchen und Eichen mit zu geringer Blattdichte, zu vielen Trockenästen, Schädlingsbefall, zu früh herbstliches Braun annehmend. Schließlich ist auch deren Genetik in den letzten 10 000 Jahren von anderen Bedingungen geprägt, als der Klimawandel ihnen jetzt zumutet.
Freund Walter und ich sind eigentlich strikte Gegner von Katastrophen-Tourismus. In diesem Fall jedoch empfehlen wir, mal hinauszufahren in die Wälder – um selbst zu sehen, wie schlecht es um sie steht. Dann sage noch einer, Klimawandel gäbe es nicht, oder werde ein Problemchen erst irgendwann zu unserer Urenkel Lebzeiten. Wir stecken mittendrin.