ape. Mainz. Im Hintergrund ein Müllberg: Kartons, blaue Säcke, ein paar Röhrenbildschirme. Davor ein zu den Zuschauern hin geöffnetes Rund aus Scheinwerfern am Boden und in halber Raumhöhe. Kniehoch eine Umlaufschiene, auf der ein riesiger Ventilator während der 70-minütigen Aufführung im Mainzer Staatstheater vom linken zum rechten Bühnenrand wandert. Hoch oben hängt zentral ein kleiner Kreis aus Lichtflutern um eine weiteren Ventilator. Ascon de Nijs‘ Bühne für die jüngste, schlicht „4” betitelte Produktion von tanzmainz erinnert an eine Manege beim Zirkus oder Rodeo.
Auftritt des Showmasters in knallrotem Cowboy-Kostüm zu Countrymusic. Er demonstriert Machogestus, den pomadigen Habitus des allzeit dominanten Herzenbrechers. Er ist ein Dompteur, weist den 16 hinzutretenden Tänzern/innen mal arrogant, mal schleimig lockend ihre Plätze zu. Dem einen hier, dem andern dort, aber stets so, dass ein jeder für sich alleine steht – wie es dem neoliberalen Zeitgeist entspricht.
Abgang des Showmasters. Akustisch hebt ein gewaltiges Brausen an, das bald in rhythmisches Wummern übergeht; die Ventilatoren entfesseln ein Stürmen. Keiner der 16 mag, kann angesichts der Gewalten so vereinzelt bleiben, wie vom Cowboy aufgestellt. Es beginnt, was dieses neue Werk des niederländischen Choreografenpaares Guy Weizman und Roni Haver prägt: Das Suchen aller nach Gemeinschaften, in denen jeder Geborgenheit findet.
Dieser Prozess ist kompliziert, denn er führt ganz unterschiedliche Charaktere in ständig sich veränderndes Miteinander. Ungewöhnlich für Weizman/Haver: Mit dieser Choreografie haben sie sich vom Tanztheater entfernt und dem puren zeitgenössischen Ballett zugewandt. Jedem Akteur ist tänzerisches Ausformen eines Indivuums aufgegeben. Spannend, wie unterschiedlich die Spielräume genutzt werden, ohne dass das Ganze stilistisch auseinanderfällt. Klassische Elemente werden kurz gestreift, Techno-Stile scheint auf, freies Ausschweifen des Contemporary Dance greift Platz, Auflösungen des Schönen bis hart an die Grenze zu Forsythe’scher Brechung inklusive.
Da ist die strenge Frau auf hochhackigen Schuhen, die Haltsuchende um sich schart. Hier sind die athletisch auftrumpfenden Typen, dort die eher zaghaften. Dazwischen zwei kühl in sich gekehrte Mädchen oder die melancholische Blauhaarige im Miniröckchen, die fast den Anschluss an alle verliert. Wer passt zu wem? Gibt es eine Idealkonstellation? Die Choreografie läuft nicht etwa auf die Paarbeziehung zu, sonder auf die titelgebende „4”, das Quartett. In Anlehnung an dieses verbreitete Ordnungsprinzip – vier Jahreszeiten, vier Himmelsrichtungen, die vier klassischen Temperamente – finden auch die Tänzer immer öfter und nachhaltiger zu Vierergruppen zusammen.
Fast unmerklich verändert sich dabei die Kostümierung (Slavna Martinovic). Herrschte anfangs bei den rock- und hemdartigen Flattergewändern Hellblau vor, schleicht sich nachher zunehmend Weiß ein. Wenn zum Schluss hin vier Quartette sich zu einer hochdynamischen Vier-Himmelsrichtungen-Formation vereinen, schließlich in eine zarte, dem Licht zustrebende Großgemeinschaft auflösen, erstrahlt diese in reinem Brautkleid-Weiß.
Am Ende sitzt der Cowboy mutterseelenallein frustriert am Bühnenrand. Er hatte zwischendurch zweimal versucht, die seiner Herrschaft entgleitenden 16 wieder unter Kontrolle zu bringen. Doch die Kunst des Dompteurs scheitert an der Sehnsucht nach harmonischer Gemeinschaft unterschiedlichster Menschen. So deuten wir „4” – als ideelle Utopie, die man gerade dieser Tage nicht aufgeben darf. Bedenkenswert, sehenswert.
Andreas Pecht