Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Das Herz trauert, der Kopf will verstehen

ape. Das Herz trauert und ist zugleich voller Zorn. Der Kopf indes schaltet auf kühlen Distanzmodus, will Überblick, will nachdenken und analysieren – um zu verstehen, was geschehen ist und was es bedeutet. Die Lage ist im Augenblick (Samstagvormittag 11.30 Uhr) noch immer unübersichtlich: Zahl der Opfer unklar, ebenso Zahl, Herkunft und organisatorische Zugehörigkeit der Angreifer. Gleichwohl lassen sich m.E. folgende Aspekte bereits festmachen (ungeordnet):

1. Wir haben es fürs frühe 21. Jahrhundert mit einer neuen Qualität von Terrorismus zu tun, die allerdings auf frühere Kampfformen des 20. Jahrhunderts zurückgreift: Koordinierte offene Guerilla-Aktionen in einer großen Stadt.

2. Es ist kein Zufall, sondern gewollt von hohem Symbolwert, dass die Angriffsstruktur vergangene Nacht in Paris fast aufs Haar diversen Aktionen/Kampfkampagnen des algerischen Widerstandes während des Algerienkriegs (1955-62) ähnelt: Wie damals mehrfach in Algier – zeitgleiche und/oder zeitlich knapp versetzte Aktionen über die ganze Stadt verteilt; unterschiedlicher Art, von Sprengungen über Geiselnahmen bis zu Feuerüberfällen auf Dienst- wie Freizeiteinrichtungen „des Gegners“ (Frankreich).

3. Wir haben es bei den Angreifern weder mit Irren noch mit Dummköpfen zu tun. Das Vorgehen in Paris zeugt von organisatorischem Geschick, taktischer Raffinesse und leider sehr klugem politisch-strategischem Kalkül. Vorgehensweise (siehe 2.), Ort und Termin wurden von den Angreifern und ihren Hinterleuten ganz bewusst und gezielt gewählt: Paris in Vorbereitung auf den Weltklimagipfel auf höchster Sicherheitsstufe und polizeilich in höchstem Maß gerüstet. Taktisch gesehen, ein denkbar ungünstiger Moment für den Angriff, den die Terroristen des strategischen Signals wegen aber bewusst ansteuerten, um vor aller Welt zu demonstrieren „so sehr ihr euch mühen mögt, ihr könnt uns nicht aufhalten!“.

4. Angesichts des Timings (internationales Fußballspiel und Vorfeld der Weltklimakonferenz) kann der Guerilla-Angriff auf Paris nur als eine von den Terroristen bewusst herbeigührte Kriegserklärung nicht nur an Frankreich, sondern an die gesamte zivilisierte Welt – einschließlich der nicht dem mittelalterlichen Barbarismsus anhängenden erdrückenden Mehrheit der Muslime – verstanden werden. Als politische Gegenreaktion könnte, sollte,  müsste nun der Schulterschluss der zivilisierten Welt über alle sonst trennenden Eigeninteressen hinweg erfolgen. Schafft die Politik das? Zweifel, aber wir werden sehen.

5. Zwischen dem Angriff in Paris und den aktuellen Flüchtingsbewegungen gibt es nur einen einzigen tatsächlich relevanten Zusammenhang: Die Angreifer von Paris sind Teil jener Kräfte, die Hunderttausende von Syrern, Irakern, Kurden, Afghanen zur Flucht aus ihrer Heimat treiben. Im Ringen um die Sicherheit Europas ist das Gros der Flüchtlinge unser natürlicher Verbündeter. Denn die Geflohenen und die hier Einheimischen haben einen gemeinsamen Feind: den islamistischen Barbarismus.

6. Wer steckt hinter dem Angriff? Er trägt nicht die Handschrift der alten Al Quaida des Bin Laden. Dem Vorgehen gestern liegt nicht das Denken in den Kategorien herkömmlicher Terroranschläge zu Grunde, sondern militärisches Denken in den Kategorien asymmetrischer Kriegsführung. „Hier die Front, an der unsere Armee kämpft; dort das Hinterland des Feindes, in das unsere Partisanen den Krieg tragen und in dem sie die Revoltion entfachen“, so lautete sinngemäß die Militrädoktrin von Mao Tse Tung, die derzeit maßgeblich beim IS perfide Wiederkehr feiert. Die Wahrscheinlichkeit, dass der IS hinter dem gestrigen Angriff steckt ist hoch. Aber man kann auch nicht ausschließen, dass eine neue Al Quaida oder eine andere Gruppe sich mit dieser Aktion als Akteur ins Kräftespiel des Barbarismus einführt.

Soweit ein paar erste analytische Gedanken – derweil das Herz weiter trauert und zugleich zornig ist.
                                   
Andreas Pecht

 

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