ape. Dass die Aufnahme und Versorgung, die teils vorübergehende Unterbringung, teils dauerhafte Integration etlicher Hunderttausend Flüchtlinge und Migranten ein Kinderspiel sein würde, hat nie jemand behauptet und durfte keiner erwarten. Gleiches gilt für die Frage, ob der Zuzug einer großen Zahl von Menschen aus anderen Ländern und Kulturkreisen unsere Gesellschaft weiter verändern würde. Die Antwort liegt auf der Hand: Ja. Völlig offen ist derzeit allerdings, welches Ausmaß diese Veränderung annehmen wird und ob sie Deutschland eher nutzt oder schadet. Der Blick in die Geschichte könnte Anlass für etwas mehr Optimismus sein: Migrationsbewegungen haben auf lange Sicht den Einwanderungsländern stets genutzt, den Auswanderungsländern eher geschadet.
Für die derzeit verständlicherweise intensiv und heftig, bisweilen auch abstrus überschießend geführte Flüchtlingsdiskussion in Deutschland könnte ein Blick auf die tatsächlichen Dimensionen hilfreich sein. Worüber reden wir eigentlich? 81 Millionen Deutsche müssen die Vergrößerung der Bevölkerung ihres Landes um 0,9 bis 1,3 Prozent verkraften. Zum Vergleich: Im kleinen, schwachen Libanon kommen auf 4,5 Millionen Einwohner bis zu zwei Millionen Flüchtlinge, also 40 plus X Prozent. In Europa müssen ein, zwei oder drei Millionen Flüchtlinge/Migranten – überwiegend junge Erwachsene und Kinder – auf 510 Millionen EU-Bürger verteilt werden. Das wäre ein Bevölkerungszuwachs von 0,2 bis 0,6 Prozent. Und das alles in einem Land und auf einem Kontinent, die sich seit gut zwei Jahrzehnten vor allem um drohende Vergreisung ihrer Gesellschaften, gar das absehbare Aussterben ihrer Bevölkerung sorgen.
Daraus lässt sich schließen: Nicht, dass so „viele“ Menschen kommen, ist das Problem; wir hätten sie alsbald ohnehin einladen müssen, um dem demographischen Wandel Paroli zu bieten. Nur dass sie jetzt in so kurzer Zeit kommen und auf schlecht bis gar nicht vorbereitete Aufnahmeländer treffen, wirft viele kleine und einige große Probleme auf. Das ist ein Grund, ebenfalls innerhalb kurzer Zeit besondere Anstrengungen zu unternehmen, aber kein Grund in Hysterie zu verfallen – oder diese, wie es derzeit leider vielfach geschieht, aus offenem oder klammheimlichem Kalkül politischer und/oder fremdenfeindlicher Natur gezielt anzufachen.
Nun gibt es derzeit viele in Deutschland die nichts gegen Hilfe für Flüchtlinge haben, aber auf eine langsamere, zahlenmäßig maßvollere Zuwanderung bestehen. Zur „gesteuerten Einwanderung” hätte man sich indes vor 30 Jahren durchringen sollen. Stattdessen herrschte weltfremdes Beharren auf „mir san mir“ und sind drei mit ohnehin nutzlosem Abschottungsgewurschtel vergeudete Jahrzehnte zu bilanzieren. Jetzt, da die Weiterentwicklung der Globalisierung nach ungebremstem Kapital- und Warenverkehr notgedrungen auch den ungebremsten Menschenverkehr mit sich bringt, kommt angesichts losgebrochener Völkerwanderungen der Ruf nach gezähmter, maßvoller, sich nur Schritt um Schritt vollziehender Einwanderung schlicht und ergreifend zu spät. Wünschen kann man sich das, doch mit machbarer Realpolitik hat das leider nur noch herzlich wenig zu tun.
Es war/ist eine sträfliche Illusion, im reichen Teil der Erde zu erwarten, man könne über Generationen den ärmeren Teil ausquetschen, dessen angestammte Gesellschaftsstrukturen und Produktionsweisen brachial umkrempeln oder zerstören, ohne dass dies eines Tages auch andere Folgen zeitigen würde als bloß den beständigen Reichtums-Transfer von Süd nach Nord. „Eines Tages“ hat soeben begonnen – ob uns das gefällt oder nicht. Wenn wir diese Herausforderung aber gescheit, human und weltoffen annehmen, könnte es vielleicht gelingen, dass der Veränderungsdruck auf die hiesige Gesellschaft deutlich weniger unbarmherzig ausfällt als derjenige, den die Länder der Ersten/Zweiten Welt zuvor auf die Menschen und Gesellschaften der Dritten/Vierten Welt ausgeübt haben und noch immer ausüben.
Andreas Pecht