ape. Wiesbaden. Was die Länge von Klassiker-Inszenierungen angeht, gibt es im Sprechtheater schon eine Weile zwei gegenläufige Abweichungen von der langjährigen Durchschnittsnorm zwei- bis dreistündiger Abende. Da ist einerseits die Neigung zu radikaler Reduktion der Stückvorlage, wie unlängst etwa in Mainz erlebt mit einer 75-minütigen Eindampfung von Lessings „Miss Sarah Sampson”. Andererseits gibt es verstärkt den Willen, die Vorlagen möglichst umfassend auszuspielen, fast egal wie lange es dauert. Dieser Linie folgte jetzt Regisseur Nicolas Brieger bei Shakespeares „Hamlet, Prinz von Dänemark” fürs Staatstheater Wiesbaden: Vier Stunden und zehn Minuten dauert in Großen Haus die Inszenierung zur Eröffnung der Spielzeit.
Ein turmhohes Industrieungetüm dominiert die Bühne, könnte mit den verschlungenen Rohrsystemen eine Raffinerie sein. Gewesen sein, muss man sagen. Denn die Maschinerie ist tot, verrostet von der Basis bis zur höchsten Plattform und umgeben von Schrott gewordenen Zeugnissen ihrer einstigen Herrschaft: Autowracks, Stahlplatten, Abflussrohre zum Meer. Dessen steigender Spiegel droht, von Sandsackhaufen nur notdürftig zurückgehalten, als See auf der Vorderbühne die einst stolze Moderne bald vollends zu ersäufen. Letztes, spärliches Grün erhält sich bloß noch auf einem vorgelagerten Inselchen im Wasser.
Wenn der umgehende Geist des vom Bruder ermordeten Altkönigs die Lebenden ausrufen lässt „etwas ist faul im Staate Dänemark”, übersetzt sich das angesichts von Stefan Heynes Kulisse zu: Es geht zu Ende mit Dänemark – das hier stellvertretend steht für die ihre eigenen und der Menschheit Grundlagen vernichtende großindustrielle Wachstumsepoche. Es herrscht postmoderne Endzeitstimmung im Wiesbadener „Hamlet”. Was Shakespeares Tragödie indes nicht anficht, denn sie handelt schließlich von der ruchlosen Gier nach Macht und Reichtum sowie dem Leid, das daraus erwächst. Final liegen alle Handelnden erschlagen, vergiftet, tot darnieder: Das passt.
Weshalb Brieger das Stück ohne umdeutende Eingriffe auf fast konventionelle, aber handwerklich sorgfältig gearbeitete Weise laufen lassen kann. Dem Hamlet wird ein E-Gitarre spielender Horatio zur Seite gestellt (Nils Strunk), der dem Abend häufig dezent eine Note hoffnungsloser Melancholie beifügt. Endzeit auch klanglich. Andrea Schmitt-Futterer hat das Personal mit Kostümen vom Geschäftsanzug bis zum historisierenden Science-Fiction-Dress ausgestattet. Ansonsten aber ist das inhaltlich „Hamlet” wie man ihn kennt – wären da nicht jene Stückteile, die kaum je zu sehen sind, weil sie üblicherweise im Dienste einer heute behaglichen Vorstellunglänge weggekürzt werden. (Am Rande bemerkt: Das Publikum zu Shakespeares Lebzeiten hatte im Londoner Globe meist noch deutlich längere Aufführungen im Stehen oder auf einfachen Holzbänkenm sitzend genossen.)
Diese Teile jetzt einmal ausgespielt zu erleben, ist für den Shakespeare-Liebhaber per se ein Freude. So etwa die wunderbare Passage der Probevorstellung von Wanderschauspielern vor Hamlet und Freunden. Die nutzt der 70-jährige Regisseur zugleich für einen Seitenhieb gegen Kollegen, die sich auf Schrei- und Provokationstheater kaprizieren oder zur Not auch mal bloß die Zeitung spielen würden. Nun ja, der alte Streit.
Schauspielerisch ist der Wiesbadener „Hamlet” kein Überflieger, aber doch sehr ordentlich. Christian Erdt braucht in der Titelrolle ein bisschen Zeit, bis er sich aus schulmäßigem Empörungsgestus herausgerarbeitet hat. Danach gibt er ansehnlich einen jungen Mann, der sich verfangen hat im Geflecht aus vorgetäuschtem Wahnsinn, tatsächlichem Wahn, Rachedurst und Unschlüssigkeit gegenüber den Lebensumständen. Ein Hingucker ist Tom Gerbers Interpretation des Königsmörders, neuen Königs und neuen Gatten an der Seite von Hamlets Mutter: Fabelhaft changierend zwischen Arroganz, Jovialität, Heimtücke und Angst. Die Ophelia übernahm kurz vor Premiere Janina Schauer von der erkrankten Barbara Dussler und stellt sie in teils berührender Verletztlichkeit auf verlässliche Beine. Ihr Vater Polonius wird bei Michael Birnbaum zu einem bärigen Hofschranzen, von dem man nie weiß ob seine geschwätzige Narretei nicht klammheimliche Widerspenstigkeit ist.
Zum Saisonstart also mehr als vier Stunden „Hamlet” – die einem so lang gar nicht vorkommen.
Andreas Pecht