ape. Wer seit Jahren diese Kolumne verfolgt, könnte einen falschen Eindruck von meinem Busenfreund Walter bekommen haben. Er ist zwar ein sonderbarer, oft grantelnder und deshalb miesepetrig wirkender Kneesebeck. Tatsächlich aber ist er zugleich ein überaus liebenswerter Mensch, der seinerseits die Menschen liebt. Freilich nicht alle, doch sehr viele, eigentlich die meisten. Und das in einer Intensität, die einen bisweilen im Erdboden versinken lassen möchte. Da kann es passieren, dass Walter in der Fußgängerzone auf jemanden zustürmt, fragt: „Darf ich sie umarmen?”, und im selben Atemzug schon munter losherzt. Oder: Wir sitzen im Wirtshaus, diskutieren den Irrsinn der Welt. Plötzlich springt er auf, schnappt sich den Blümchentischschmuck – und überreicht ihn einer völlig fremden Frau nebenan mit den Worten: „Sie sind hier und jetzt mein Sonnenschein. Danke dafür.”
Fragt man nach dem Grund solchen Anfalls, erwidert er nur: „Siehst du es nicht?” Es lässt sich kaum erklären, was in solchen Momenten vor sich geht und was er dabei an diesem oder jenem Mitmenschen sieht, riecht, ahnt oder wie auch immer. Erstaunlich, dass dem Kerl dabei noch nie brüske Ablehnung entgegenschlug. Überraschung, Befremden oder auch mal peinliche Anrührung, das ja. Aber niemals Feindseligkeit. Bei Ihnen wäre das anders, meinen Sie, liebe/r Leser/in. Mag sein, doch würde Walter das wohl vorab spüren und Sie erst gar nicht erwählen. Es scheint fast so, als fänden sich in diesen Augenblicken Gleichgestimmte. Vielleicht gilt da auch einfach das Sprichwort: Wie du in den Wald hineinrufst, so schallt es heraus. Ich erkläre es mir mit dem Gefühl, das einen erfassen kann bei Beethovens „Seid umschlungen Millionen”. Oder mit jenen eigentümlichen Blitzeinschlägen plötzlicher Sympathie bis hin zu schierer Spontanverliebtheit bei manchen Begegnungen selbst mit Unbekannten.
Vielleicht rührt daher Walters Neigung, alle möglichen Leute zu beschenken: irgendwann, irgendwo, irgendwie, mit irgendwas – allerdings grundsätzlich außer der Reihe. Zu Geburtstagen, gar zu Weihnachten, fällt ihm herzlich wenig ein. Mit Offizialanlässen fürs Schenken hat unser Freund keinen Vertrag: „Ich kann halt nicht, wenn ich müssen sollte”, meint er. Gewiss, er bemüht sich. Doch vergeblich. Neulich glotzten wir uns auf der Suche nach Geschenkanregungen für Weihnachten durch etwa zehn Werbeblöcke im Privatfernsehen. Trotz einer Menge hübscher Frauen und sogar einiger filmhandwerklich raffinierter Spots war es ein Gruselabend. Der endete mit Walters Aufschrei: „Genug! Die halten uns alle ja für völlig verblödet!”
In Walters Begleitung Weihnachtsmärkte besuchen, ist auch nicht das reinste Vergnügen. Mit Appetit futtern wir beide erst Rindsbratwürste nebst gebrannten Mandeln in uns hinein. Indes enden die Ausflüge ins Jingle-Bells-Fantasialand nach längstens eineinhalb Stunden wegen des Freundes überschneller Zuschüttung mit warmem Zuckerwein. Statt verträumt „siehst du es nicht?” zu fragen, greint er dann: „Ich seh' nichts mehr, hör' bloß die Englein Bimmelbamm gröhlen.” So landet der Freund denn mit leeren Händen unterm Tannenbaum, dem heidnischen. „Das Mittwinter-Geschenk bin ich; nehmt es an oder lasst es”, pflegt er in bester Laune zu intonieren – um sich sogleich den geliebten Festritualen des Essens, Trinkens, Plauderns, Tischliedersingens und spätabendlichen Skat- oder Pokerspiels hinzugeben.
(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website Woche 47/48 im November/Dezember 2016)