Quergedanken

Monatskolumne "Quergedanken" Nr. 202

ape. Ein Gespenst geht um – das Gespenst der Gesellschaftsspaltung. Und nie scheint der 68er-Spruch richtiger gewesen als heute: Das Politische ist immer auch privat und das Private politisch. Denn sämtliche bedeutenden Fragen der Gegenwart betreffen nicht nur Regierungen, befeuern nicht nur Stammtisch- und Talkshow-Pallaver. Vielmehr wirken Klimawandel, Corona, Ukraine-Krieg, Fluchtbewegungen, Plastikverseuchung, Artensterben, Reichtumskluft, Inflation etc. sich selbst auf hiesige Küchen, Klos und Heizkörper aus. Ja sie berühren spürbar das ganze persönliche Alltagsverhalten bis hin zum Umgang mit dem Heiligsblechle.

Walter winkt ab: „Das war doch immer so - Spaltung in arm/ reich, interessiert/gleichgültig, solidarisch/egoistisch, gebildet/ungebildet, vorurteilsarm/vorurteilsreich. humanistisch/rassistisch.... Nur stießen die Gegensätze früher nicht so häufig direkt aufeinander wie im krawalligen Internet. Die Bubbels damals waren Wohnsiedlungen, Milieu-Wirtshäuser, gleichartige Bekanntenkreise. Man blieb unter sich und ging den Anderen gewöhnlich aus dem Weg.“ In dieser Sache liegen der Freund und ich auseinander. Einigen können wir uns noch, dass man nicht mit jedem ein liebenswürdiges Miteinander pflegen muss. In vielen Fällen würde es reichen, nebeneinander zu leben und einander zu ignorieren. Aber, so mein  Ansatz: Über ein paar Aspekte des Zusammenlebens und Gemeinwohls müssen alle miteinander reden, sich irgendwie verständigen. Was indes leichter gesagt ist, als getan. So mancher Verständigungsversuch lag gerade in jüngeren Jahren schon nach wenigen Sätzen mausetot in den Binsen.  

Gespräch über Maßnahmen für den Klimaschutz. Reaktionen: „Alles Quatsch“ oder „menschengemachten Klimawandel gibt es gar nicht“ oder „Erfindung der geheimen Weltregierung, alles gelogen“. Dies oft verbunden mit der Aufforderung „Informier dich mal richtig! Und zwar nicht bei Lügenpresse und Lügenwissenschaft.“ Gespräch über Corona-Seuche und Impfen. Reaktionen: „Diese Seuche gibt es nicht; nur Lüge, um das Volk kirre zu machen. “ Oder „Covid ist eine Krankheit wie jede andere.“ Oder „Maskenpflicht ist Terror und an den Impfwirkungen sterben viel mehr Menschen als an der Krankheit selbst.“ Danach wieder die Aufforderung, sich mal mal richtig zu informieren. Gespräch über Putins Angriff auf die Ukraine. Reaktionen: „Antifaschistischer Befreiungseinsatz“; oder „Putin wurde vom Westen in diesen Krieg gezwungen“; oder „unfassbare Gräuel ukrainischer Truppen“. Und erneut der Hinweis, man dürfe sich von den Westmedien nicht hinters Licht führen lassen.

Wie und was soll man mit der hierzulande kleinen Minderheit solcherart Strenggläubiger noch reden? Zumal: Man muss den Westen nicht heiligsprechen und die Westmedien nicht für unfehlbar erklären, um zu erkennen, dass die von den Gläubigen angegebenen „alternativen Quellen“ nichts anderes sind als ein pseudowissenschaftliches Panoptikum aus Kaffeesatz, Glaskugel, Mythen, Tatsachenverdrehung/-fälschung oder Propaganda – sehr vieles davon wie aus einem anderen Universum. Walter nickt: „Sag ich doch, sinnlos. Du diskutierst ja auch nicht mit Leuten, die der festen Überzeugung sind, die Erde sei eine Scheibe oder Gott habe Geologie, Flora und Fauna des Planeten vor 5000 Jahren genau so geschaffen wie sie heute sind.“ Mag sein, der Freund hat diesmal doch recht: Manche Spaltungslinie ist wohl einfach nicht überbrückbar.  

Andreas Pecht    

Monatskolumne "Quergedanken" Nr. 201

ape. Schluss mit lustig! Schlimmer als 2020/2021 könne es nicht werden, hatten wir geglaubt. Corona-Seuche, katastrophische Klimawandelwirkungen, fanatische Realitätsleugnung nebst Wissenschafts- und Demokratiefeindlichkeit… Doch wir hatten falsch geglaubt, denn es ist noch viel schlimmer gekommen: Das erste Quartal 2022 ist das übelste, das ich in meinen 66 Jahren erlebt habe. Die vorgenannten Weltkrisen dauern an und eine weitere kommt mit dem Überfall Putins auf den eigenständigen Staat Ukraine hinzu, der durch gar nichts, erst recht keine abstrusen Lügen zu rechtfertigen ist.

Das ist nicht nur der erste große Krieg in Europa seit dem Jugoslawien-Zerfall in den frühen 1990ern. Das ist zugleich ein gestern noch schier undenkbarer Rückfall in die direkte Blockkonfrontation des mittleren 20. Jahrhunderts, Atomkriegsgefahr inklusive. Die Generationen 50+ überkommt derzeit ein Déjà-vu nach dem anderen. Nur dass es sich dabei nicht um Erinnerungstäuschungen handelt, sondern um tatsächliche Wiederkehr der zumindest für unseren Kontinent überwunden geglaubten Unvernunft vom Krieg als gängige Fortsetzung der Politik mit militärischen Mitteln – die aktuell ein 44-Millionen-Volk mit Not, Unglück, Leid und Tod überzieht.

Und die Jüngeren unter uns, gar die Kinder, verstehen entsetzt die hiesige Welt nicht mehr. „Vorwärts in die Vergangenheit!“, diese De-facto-Devise hatte man bloß den Schwurblern jedweder Couleur zugeschrieben. Dass jedoch selbst Regierungen großer, hochentwickelter Staaten danach handeln könnten, sich und der Öffentlichkeit ein völlig verdrehtes, verlogenes, irrationales Bild der Wirklichkeit vorgaukeln, wie Trump es versucht hat und Putin mit diktatorischer Macht tut, daran hatte man im 21. Jahrhundert nicht mehr geglaubt. Krieg hielt man für eine – gleichwohl schreckliche und beschämende – Sache in Afrika, Nah- und Fernost.

Putins Expansionskurs aus einer zugleich neozaristischen wie neostalinistischen Großmachtgier heraus wirft Europa, ja die Welt, politisch zurück in die 1960er – während ihre wirtschaftliche Abhängigkeitsverflechtung und kulturelle Vernetzung ein halbes Jahrhundert Globalisierung weiter sind. Dieser Angriffskrieg betrifft letztlich den gesamten Planeten. Sei es wegen der Verhedderung der globalen Wirtschaftsverbindungen, sei es die Spekulation auf Sprit, Rohstoffe und ausbleibende Getreideernten, sei es die Reaktivierung des weltweiten Wettrüstens und die fatale Bindung von Ressourcen ans Militär, die eigentlich dringlichst für den Kampf gegen Klimawandel und für den klimagerechten Umbau der Weltzivilisation gebraucht würden.

Schluss mit lustig? Oh nein, so einfach machen wir es dem stalinistischen Zaren im Kreml nicht. Von ihm lassen wir uns keineswegs in kollektive Depressionen drängen. Freude am Leben hier geht einher mit der Trauer um die Opfer dieses Krieges, geht einher mit Solidarität und Unterstützung für den Befreiungskampf des ukrainischen Volkes sowie für die Millionen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Und wer nicht weiß, wo/wie er damit anfangen soll, dem sei der allerkleinste und simpelste Beitrag vor Augen geführt, den zu leisten alle hierzulande auch ganz privat im Stande sein sollten: Jedes Prozent Gas, Erdöl, Benzin, Kohle, das wir in Deutschland weniger verbrauchen, mindert die Abhängigkeit von russischen Lieferungen, mindert zugleich den Schaden für die Umwelt und die Belastung für den Geldbeutel.  

Andreas Pecht

Monatskolumne "Quergedanken" Nr. 200

Redaktionelle Vorbemerkung aus aktuellem Anlass: Der nachfolgende Text entstand eine Woche vor dem Überfall Putin-Russlands auf die Ukraine. Das "Kulturinfo" März, in dem er erstpubliziert ist, erschien heute (25.2.), gedruckt war das Heft aber bereits am 22.2. . Deshalb ist die Kolumne noch völlig unbeleckt von den  jüngsten Kriegsereignisse.

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ape. Derweil ich diese Zeilen zu Bildschirm bringe, randaliert die erste Welle eines kräftigen Sturmtiefs übers Land. Ihr erinnert euch an neulich, an 17./18. Februar: Wegen der Wetterfrösche Unwetterprognose bleiben in NRW die Schulen dicht, sind in Rheinland-Pfalz und anderen Bundesländern die schulische Präsenzpflicht aufgehoben. (Was die Corona-Seuche nicht mehr hinkriegt, die Wettergötter schaffen es im Handumdrehen.) Gewiss, wir hatten schon wesentlich heftigere Stürme, aber der hier ist auch nicht von schlechten Eltern. Zumal die wilden Winde, volkstümlich ausgedrückt, pisswarm sind. Zehn Grad plus heroben im Westerwald um 9 Uhr früh quasi mitten in der „Hochwinterszeit“ – statt Eis zu kratzen und Schnee zu schippen, staunt man über draußen bereits blühenden Krokusse und Osterglocken.

Kurzum: Den Winter 2021/22 können wir getrost abhaken, einmal mehr verbuchen als Schlammbraddel-Saison. Der Januar war hierorts wieder um zwei Grad wärmer als in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts im langjährigen Mittel. Februar/März werden auch nicht kälter ausfallen, selbst wenn zum Schluss noch ein paar Frostnächte kommen oder gar ein paar Eimer Schnee fallen sollten. Frühling demnach jetzt schon. Den Mitbürgern im Kindesalter gilt das inzwischen als ganz normal. Meine Altersgenossenschaft indes, also die noch mit Traditionswintern aufgewachsenen alten Säcke und Säckinnen, irritiert das vorzeitige Frühlingserwachen irgendwie gehörig. Da geht es uns wie vielen Zugvögeln: Deren Hauptschwärme zogen heuer leidlich verspätet nach Süden, dafür sind sie jetzt reichlich früh schon wieder zurück – singen, tanzen, locken folglich bereits im kalendarischen Winter zur Frühjahrsvögelei.

Himmel hilf, was ein Durcheinander! Und das hat uns gerade noch gefehlt, ringt der Homo sapiens zu Beginn der wärmeren Jahreszeit doch sowieso körperbiologisch und/oder psychologisch mit zwei sich fundamental widersprechenden, ja einander schier ausschließenden Phänomenen: Frühlingsgefühle vs. Frühjahrsmüdigkeit. Während Erstere munteren Schaffensdrang nebst frohgemutem Hang zu Schwof und Süßholzraspelei motivieren, steht Letztere dem genau im Wege mit Trägheit, Lustlosigkeit, Schläfrigkeit. Freund Walter schüttelt den Kopf. Er kann darin keinen Widerspruch sehen, nur zwei unterschiedliche Münzen derselben Währung: „Mit der einen bezahlst du jetzt, mit der anderen nachher, oder umgekehrt. Blöd wäre nur, wenn du im falschen Moment die falsche Münze aus dem Säckel holst.“ Wie bitte? „Na ja, ist doch klar:  Bei der Liebe einschlafen, auf der Arbeit aber vor Energie schäumen, das kann der menschlichen Weisheit und Lebensart idealer Schluss kaum sein.“ Wo er recht hat. Dann also rein ins verfrühte Frühlingswirken, mit gescheit ausbalancierter Zweigleisigkeit - wenigstens sofern und solange die vom Zivilisationswachstum aus dem Fundament gerissene Natur uns nicht noch heftiger drangsaliert.

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Übrigens: Gewisse Herrschaften eines kleinen, lautstark die eigene Auserwähltheit beschwörenden Völkchens vorgeblicher Weltversteher haben den Sinn vieler Worte/Begriffe unserer Sprache völlig verdreht, geradezu pervertiert. Wir werden uns diese Worte zurückholen, sie reinigen und wieder in ihre eigentliche Funktion einsetzen müssen. Neben Freiheit gehören dazu etwa Diktatur, Spaziergang, Volk, Durchblick, Vernunft, Fakten, Widerstand, Solidarität, das vordem ehrenwerte Querdenken ...

Andreas Pecht
    

Monatskolumne "Quergedanken" Nr. 199

ape. Ja, liebe Leut’, Zeiten wie diese hat keiner unserer Vorfahren je erlebt. Das ist zwar immer so, weil der Gang vor allem der technischen Dinge eben stets irgendwohin fortschreitet. Selbst die kluge Bingener Hildegard wäre Alexa und dem Thermomix nur Rosenkränze betend nähergetreten. Und noch meine Oma selig schlich misstrauisch um ihren ersten Fernseher zwecks Ergründung, wie all die kleinen Leute in den Kasten kämen.

Mal abgesehen vom technischen Krempel: In psychologischer, gesellschaftlicher, politischer Hinsicht ist die Geschichte allerdings überreich an Wiederholungen. Genau auf diesem Feld indes erleben wir derzeit, was noch nie da war: die größte Verschwörung aller Zeiten, die Impfverschwörung. Sie umfasst alle Länder der Erde, nahezu alle  Regierungen, Institutionen, wissenschaftlichen und medizinischen Einrichtungen, Parteien von konservativ bis zu Kommunisten und Antifa, Medien, Vereine, Verbände jedweder Couleur, Religionsgemeinschaften von Christen über Muslime bis Buddhisten ... Unlängst hat sich sogar die Deutsche Homöopathische Union den Impfbefürwortern angeschlossen. 

Diese Verschwörung hat bereits viereinhalb Milliarden Menschen die  Birne so weich gekocht, dass sie freiwillig zur Impf-Schlachtbank gingen. Und die Hirne der übrigen dreieinhalb Milliarden noch Ungeimpften in den armen Ländern sind ebenfalls so nachdrücklich gewaschen, dass sie verlangen, man möge ihnen endlich die notwendigen Impfdosen zukommen lassen.

Also: Irrsinn hat die Weltherrschaft übernommen, Impfirrsinn. Doch eine kleine Minderheit leistet wacker Widerstand. Diese zu Kämpfern wider die Corona-Diktatur mutierten Durchschnittsbürger sind weltweit die einzigen, die begreifen, was wirklich Sache ist: die Corona-Seuche eine Erfindung dunkler Mächte. Sowieso die Krankheit völlig ungefährlich. In Wahrheit sterben viel mehr Menschen an Impfungen und unterdrückerischen Schutzregeln als an Covid. Dies beweisen zahllose Berichte von Widerständlern aus ihrem privaten Umfeld über dort reihenweise auftretende schwerste bis tödliche Impffolgen. Daran, dass in der übergroßen Bevölkerungsmehrheit der Geimpften niemand etwas von derartigen Häufungen weiß, lässt sich erkennen, wie gut die Hirnwäsche funktioniert: Da erkranken ständig Leute schwer oder long oder sterben – und die Geimpften schieben auf Covid, was in Wahrheit Folgen der Impfung sind.

„Stop!“ poltert Freund Walter, „mir wird übel. Bist du völlig durchgeknallt?“ Was er meint: In Zeiten wie den jetzigen – wo manche Leute jeden realitätsfernen Gedanken fressen, vom Umsturztraum bis zu  Geistheilfantasien, mittelalterlichem Aberglauben oder Fantastereien über die geheime Weltherrschaft von Krokodilen und Aliens – könne man keinen Artikel im ironischen Stil schreiben. „Am Ende bejubeln dich die vom ganzen Mittelrhein und weiter her nach Koblenz strömenden vorgeblich gewöhnlichen Bürger bei ihren Strapaziergängen. Während echte Normalbürger dich für senil halten – nicht zuletzt jene Freunde, die ihr Lebtag gegen nationale wie internationale Unsinns-, Unrechts-, Imperial-, Profitpolitik streiten; und die jetzt von Sesselfurzern Marke Jana aus Kassel oder von irrationalen Impfangsthasen als Schlafschafe und willfährige Untertanen beschimpft werden.“

Ist ja gut, alter Freund, dann eben ohne Ironie: Lasst euch impfen, alle! Es schützt euer wie anderer Leben – zwar nicht immer, aber 100 mal besser als nichtgeimpft. Es ist ungefährlicher als die meisten gebräuchlichen Wirkmedikamente. Wer anderes behauptet, fantasiert. 

Andreas Pecht

Monatskolumne "Quergedanken" Nr. 198

ape. Zu meinen jetzt 66 Jahre währenden Lebzeiten gab es neun Bundeskanzlerwechsel. Ich habe sie alle bewusst miterlebt, sogar den ersten. Denn als der ewige Adenauer 1963 im Alter von 88 das Amt aufgab, war ich schon ein 8-jähriges und recht aufgewecktes Kerlchen. Ein bisschen in Erinnerung ist noch mein damaliges Staunen darüber, dass der „oberste Fürst“ nicht aus dem Amt stirbt, sondern schnöde zurücktritt. Auf solch ein seltsames Phänomen hatten mich die Königsmärchen nicht vorbereitet. Doch ich begann zu ahnen, dass Führungswechsel im Demokratie-Staat eigentlich normal wären.

Die flotte Abfolge hernach von Erhard zu Kiesinger zu Brandt machte aus der Ahnung Gewissheit. Obendrein ließ einem der Wechsel zu Brandt, dann für zwei Wochen zu Scheel, hernach für acht Jahre zu Schmidt bewusst werden, dass die Kanzlerschaft nicht naturgesetzlich der CDU gehört. Dies Bewusstsein wurde allerdings durch den ewigen Kohl wieder beträchtlich erschüttert. Auf eine kurze Schröder-Zeit folgte dann mit Madame Merkel erneut eine Ewigkeitsherrschaft. Was mich zu dem Schluss führt: Das Wechselprinzip bei der Staatsführung gilt zwar als normal, aber Michels und Michelinen mögen es nicht sonderlich. Weshalb nun eine in der Merkel-Epoche aufgewachsene Junggeneration mit der Überraschung klar kommen muss: „Huch, es kann auch jemand anderes Kanzlerin sein, sogar ein Mann, und nicht von der CDU.“

Es ist immer etwas seltsam, mit Zuständen konfrontiert zu werden, die man selbst nie erlebt hat. Walter und ich palaverten mal über das ökologische Elend unserer in Plastik ersaufenden Welt. Der Freund ist gut zehn Jahre jünger als ich und hat deshalb nicht mehr mitbekommen, was mir als Kind noch zuteil wurde: Dass die westdeutsche Gesellschaft bis in die frühen 1960er ganz ohne das aus Erdöl hergestellte Massenplastik ziemlich gut funktionierte.

„Ja zur Hölle, woraus bestanden denn die unzähligen Gerätschaften und alltägliche Utensilien, die heute aus Plastik sind?“ So fragte Walter aufgeregt. Meine Antwort: Schau dir all die neuen Projekte in den Laboren  der Materialforschung für Alternativen zum Massenplastik an – dort findest du zuhauf wieder, was noch zu meiner Kindheitszeit völlig selbstverständlich in aller Hände war. Also zählte ich sie auf, die Gebrauchsmaterialen, mit denen das Alltagsleben damals bewältigbar war: Holz, Metall, Glas, Keramik/Stein, Pappe/Hartpappe, Papier (nötigenfalls mit Wachs beschichtet), Gummi/Hartgummi, Pflanzenfasern/Tuchgewebe, Leder, Kork.

Und siehe: Schon beim ersten Humpen Bier konstruierten wir – gedanklich – aus eben diesen Materialien hunderte Geräte und Alltagsgegenstände von Einkaufskorb, E-Zahnbürste, Kleidung und Schuhen über Kaffekocher, Waschmaschine und TV-Apparat bis hin zu Handys und ganzen Autos. Nach weiteren drei Krügen hatten wir die menschliche Lebenswelt konstruktiv und organisatorisch fast vollständig von Plastik befreit. Lediglich bei einigen medizinischen und hochtechnologischen Anwendungen waren wir uns unschlüssig.

Wir beide mögen zwar nicht die größten Materialspezialisten sein. Aber was der im Plastikzeitalter aufgewachsene Walter schon beim ersten interessierten Blick auf die „alten“ Werkstoffe an Möglichkeiten zum Plastikverzicht ausmachen konnte, spricht Bände: Da ginge viel, viel, viel – mit ein bisschen gutem Willen samt Neuorientierung von Industrie und Handel sowie etwas Umgewöhnung von Hinz und Kunz.

Andreas Pecht

Monatskolumne "Quergedanken" Nr. 197

Schlechte Laune, die hat man mal ein paar Stunden, gelegentlich sogar den einen oder anderen Tag lang. Das gehört dazu. Denn des Lebens Umstände sind nicht nur Zuckerschlecken und die Mitmenschen nicht allemal liebens-würdig. Freund Walter ist eher der Tagelang-Typ, während ich Miesepetrigkeit bloß stundenweise aushalten kann, eigentlich nur ein paar Minuten. Das sind so Unterschiede, mit denen man leben muss; kein Beinbruch, der wiegt schwerer.

Dann aber gibt es Zeitgenossen, bei denen dauern Phasen schlechter Laune viele Wochen, gar etliche Monate an. Das kann nicht gesund sein. Aus mieser Stimmung wird da im Laufe der Zeit Griesgrämigkeit und Verbiesterung, die sich im unglücklichsten Fall zu einem regelrechten (unsympathischen) Charakterzug verfestigen. Wir alle kennen solche Leute, manchmal schauen sie uns sogar aus dem Spiegel an.

Walter und ich haben mehrfach besprochen, dass wir es so weit nie kommen lassen wollen. Daran erinnern wir einander, wenn mal wieder Entwicklungen eintreten, die seine, meine oder beider Laune in tiefste Kältezonen respektive höchste Zorneshöhen treiben. Wenn wir uns also sämtliche Zähne an der Tischkante ausbeißen oder aus dem Fenster springen könnten – jetzt wieder angesichts der Corona-Lage und all des damit verbundenen neuerlichen Unfugs (Stand 19. November 2021). Komme er nun von Seiten der Hinterherlauf-Politik oder von der kleinen Gruppe weltfremder Impfgegner, die sich als Opfer aufführen, objektiv jedoch Täter sind und die ganze Gesellschaft quasi in Geiselhaft nehmen. Nicht weniger frustrierend die Nicht-Ergebnisse der Klimakonferenz von Glasgow.

Gründe für schlechte Laune gibt es also reichlich. Schon ohne Corona war es schwierig, sich den Charakter der „besinnlichen Zeit“ und des „Festes der Liebe“ zu bewahren gegen Konsumräusche und der in Bild, Ton, Druck schlimmsten Werbeflut im Jahr. Weihnachten – egal ob als Christfest, Wintersonnwende, Raunächte-Feier oder einfach behagliches Zusammenkommen gedacht – ist real zur schieren Stresswalze mutiert. Es können die Glöckchen noch so selig klingen, kann ein Ros’ noch so prächtig entspringen: Zu keiner Zeit sonst gehen Familienkräche und Nervenzusammenbrüche derart auf Höhenflug wie eben vor und über Weihnachten. Jetzt nochmal die Seuche obendrauf. Prost, Mahlzeit.

Walter, meine Wenigkeit und unsere Bagage versuchen, dagegen mit der Methode „gutes Kabarett“ anzugehen. Die geht so: Da werden einem die bittersten Wahrheiten um die Ohren gehauen, freilich in einer Manier, bei der sich das Lachen kaum verkneifen lässt. Derart sollte es uns (hoffentlich) auch heuer und allen aktuellen Unbilden zum Trotz gelingen, dem „Fest“ seine angenehmsten Seiten abzuringen: Maßvolle Vorbereitung; in kleiner – durchgeimpfter und getesteter – Runde gut essen und trinken; gemütlich plaudern; ein paar bescheidene Liebesgaben austauschen, deren Bedeutung sich gerade nicht nach Geldwert bemisst; zu fortgeschrittener Stunde heiter ein paar Takte schräg singen sowie des Nachts ein bisschen dies und das. Braucht man mehr? Nö.

Wer noch nicht hat, sollte sich endlich impfen lassen. Auf dass er zu Weihnachten nicht womöglich im Spital liege und wie jetzt so viele von Seinesgleichen sich erstaunt frage: „Huch, wieso bin ich sterbenskrank?“. Bedenket: Niemand kann immer nur schlechte Laune aushalten, und froh zu sein, bedarf es wenig. In diesem Sinne sei ein angenehmes Fest gewünscht.

Andreas Pecht

 

Monatskolumne "Quergedanken" Nr. 196

Manchmal, wenn Freund Walter und ich gemütlich beisammen sitzen, über Gott, Welt, die Menschheit (nicht zuletzt ihre weibliche Hälfte) plaudernd, machen wir ein Spiel. Das geht so: Wir klappern einige der aktuell am meisten diskutierten Themen ab und forschen nach Aspekten, die dabei eigentlich naheliegend wären, über die aber fast niemand spricht oder schreibt. Drei Beispiele seien in gebotener Kürze angeführt.

Erstens. Im Zuge der Energiewende – die nun hoffentlich flott massiv und ohne weiteres halbherziges Rumgeeiere in die Gänge kommt – werden auch für Solaranlagen gewaltige zusätzliche Flächen benötigt. In aller Munde ist bereits die Aufrüstung der Hausdächer. Zu recht, denn das sind Millionen ungenutzte Quadratmeter, deren Bestückung mit Solarzellen nichts und niemanden stören würde. Daneben gibt es noch ein anderes, schier unermessliches Flächenreservoir, an das aber kaum jemand denkt: vorhandene Parkplätze unter freiem Himmel. Die summieren sich deutschlandweit auf tausende betonierte, asphaltierte, gepflasterte Quadratkilometer – in jedem der wuchernden Gewerbegebiete, vor jedem Stadion, größeren Betrieb, Supermarkt, vor fast jedem Amt und vielen Schulen, neben jedem Freizeitpark oder populären Ausflugsziel… Allüberall riesige Flächen, die durch simple solartechnische Überbauung genutzt werden könnten. Walter kriegt deshalb jedesmal einen Tobsuchtsanfall, wenn er wieder irgendwo sieht, dass vormaliges Wiesen-, Acker- oder natürliches Busch- und Brachland in Solarparks umgewandelt wurde.

Zweitens. Liebe Leut’, seid ihr jemals gefragt worden, ob ihr demnächst vom eigenhändig gefahrenen Verbrenner- oder Elektroauto aufs selbstfahrende, autonome Computerauto umsteigen möchtet? Nö. Und würde man euch fragen, wäre die Antwort wohl meistenteils: „Wenn schon Autofahren, dann will ich selbst über Lenkrad und Hebel bestimmen, nicht dumpfes Frachtstück und Anhängsel einer vollautomatischen Maschine sein.“ Dennoch verausgabt inzwischen ein Heer von Ingenieuren und IT-Spezialisten Können und Milliarden Euro an die Entwicklung des autonomen Automobils. Wie kann es sein, dass eine derart fragwürdige und unbeliebte Technologie so peu à peu als DIE innovative Verkehrsentwicklung in die Köpfe rückt?  

Drittens: Nach der Flutkatastrophe vom Juli sollen nun überall die Sirenen wieder aufgebaut werden. Gut so. Mal vorausgesetzt, die Wiederaufbauer lassen sich nicht bloß von den „famosen Möglichkeiten“ neuartiger digitaler Steuerungstechniken für die Heulapparate blenden, sondern denken daran, dass die Dinger gerade auch dann funktionieren müssen, wenn Stromnetz und Internet ausfallen: Ich wüsste nicht, welches Sirenengetute bloß die Feuerwehr zur Übung ruft, welches vor russischen/chinesischen Flottenangriffen am Mittelrhein warnt und welches vor Katastrophen am Ort. Auch wüsste ich nicht, wie ich mich in letzterem Fall (welcher Fall: Sturzflut, Orkan, Feuerbrunst…?) verhalten soll, zu welcher Sammelstelle (gibt es welche?) mich bei einer Schnellevakuierung auf welchem Wege begeben.

Jede Alarmierungsform ist nur so nützlich, wie die Bevölkerung weiß, was sie damit im Notfall praktisch anfängt. Kurzum: In Zeiten zunehmender Katastrophen sind Alarmierungserziehung von der Grundschule an und Katastrophenschutzübungen unter Beteiligung aller Ortsbewohner eigentlich der nächstliegende Gedanke. Aber darüber mag außer Walter und mir offenbar keiner reden. Seltsam.  

Monatskolumne "Quergedanken" Nr. 195

Das ist das Elend eines Monatsmagazins mit langem Druckvorlauf: Derweil ich diese Zeilen in den PC hacke sind es noch ein paar Tage hin bis zur Bundestagswahl; wenn Ihr sie zu lesen kriegt, ist das Ding aber gelaufen. Weshalb ich eigentlich gar nichts zu diesem Thema schreiben wollte. „Kannste bei so einer historischen Wahl nicht machen!“, motzt Freund Walter. Jetzt ist es mal an mir, die Augen zu rollen: Fang du auch noch die Unart an, allen möglichen tagesaktuellen Ereignissen das großspurige Etikett „historisch“ anzupappen. Für die meisten davon wird es in den anno 2070 erscheinenden Büchern zur Weltgeschichte nicht mal eine Fußnote geben.

Zu dieser Wahl würde sich vielleicht die kleine Notiz finden: „Deutschland vollzog 2021 auf Bundesebene nach, was in den meisten der traditionellen Westdemokratien bereits viele Jahre Gang und Gäbe war – die Bildung einer Koalitionsregierung aus mehr als zwei Parteiungen. Das war zwangsläufige Folge der Auflösung alter Parteimilieus, der ausgreifenden Auffächerung des öffentlichen Meinungsspektrums sowie der daraus resultierenden Zersplitterung der Parteienlandschaft inklusive Schrumpfung der beiden einst großen Volksparteien auf Gruppierungen um den 20%-Bereich. Damit war auch Deutschland vollends in der westeuropäischen Parlamentsnormalität angekommen.“

In Skandinavien und den Niederlanden, ebenso in Südeuropa oder auch Israel ist es ein altbekanntes Phänomen, dass drei, vier oder mehr Bewerber um das oberste Regierungsamt gegeneinander in den Ring steigen. Walter nennt das „die mediale Bütt“, ich neige zu „polit-theatralisches Rollenspiel“. Während aber anderswo niemand auf die Idee kam, dieser Form einen eigenen Begriff zu verpassen, hat hierzulande ein Schlauberger für den erstmaligen Dreier-Fight im TV einen Fachbegriff aus den Tiefen der Mathematik beigeschleppt, der binnen Stunden die schnellste Wortkarriere machte, die je zu erleben war: Triell.

Als ich das mir bis dahin unbekannte Wort erstmals sah, dachte ich an den süddeutschen Dialektbegriff „Triel“; hochdeutsch: Maul. Weshalb ich das Wort als Bezeichnung für den öffentlichen Disput der sich um das Kanzleramt Bewerbenden denn doch etwas despektierlich (wenn auch nicht ganz unzutreffend) fand. Nun gut, ist schon wieder Schnee von gestern. Beim nächsten Mal könnte es dann Quartell heißen, was indes nach Kartell klingt, also auch nicht nett wäre.        

Und jetzt? Jetzt wird wohl irgendeine Tri-Regierung gestrickt. Egal,  welcher Art die sein mag: Ohne gehörigen Dampf von außen dürfte die sich kaum dazu durchkoalieren können, das jedwede nähere und weitere Zukunft bestimmende primäre Epochen-Problem des Klimawandels mit einer Wucht anzupacken, die Kindern und Enkeln keine Katastrophenwelt hinterlässt. Das war schon den Wahlprogrammen und Wahl-Slogans der auf Zweistelligkeit hoffenden demokratischen Parteien anzusehen. Im Grunde versprachen sie reihum optimalen Klimaschutz und weiteres materielles Wohlstandswachstum zugleich. Kann es das geben? Nö, jedenfalls nicht nach den Gesetzen der Physik und mit dem Ziel einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft, die nicht mehr, sondern erheblich weniger Luft, Wasser, Naturfläche, Rohstoffe verbraucht/versaut als bisher. Denn noch gilt auf Erden: Soll aus einer Maschinerie hinten mehr rauskommen, muss man vorne mehr reinstecken.

Walter hat gerade seine Demonstrantenstiefel wieder hervorgekramt.    
 

Monatskolumne "Quergedanken" Nr. 194

Neulich im Wald. Es war ein bisschen düster unterm tropfenden Blätterdach, der Himmel darüber von tristem Wolkengrau verhangen. Der letzte Regenguss lag noch nicht lange zurück. Eben typisches 2021er Sommerwetter hierzulande (sieht man von den verheerenden Sturzfluten mancherorts mal ab). So ein Normalgrauwetter stört einen nicht sonderlich, wenn man auf der Pirsch ist. Bewaffnet mit Taschenmesser und Körbchen zielte mein behutsames Herumschleichen zwischen Buchen, Eichen und Co. nebst allerhand Untergestrüpp jedoch nicht aufs Wildbret, sondern auf Pilze.

Nach drei diesbezüglich ziemlich mageren, hitzigen Dürresommern gedeihen die Schwammerln an meinen Geheimplätzen im seit 40 Jahren eifrig erschlossenen Hauswald heuer zu Hauf. Jetzt, Mitte August, haben dort schon Pfifferlinge Hochkonjunktur. Und endlich besteht mal wieder die Aussicht, auch einen kleinen Vorrat Trockenpilze anzulegen. An besagtem Tag neigte sich mein Sammelstreifzug nach vier Stunden bereits dem Ende zu, denn das Körbchen war fast voll. Da signalisierte mir der Körper das Bedürfnis, ein Bäuerchen zu machen. Will sagen: Ein Rülpser bahnte sich seinen Weg nach oben.

Normalerweise verdrückt sich der Anstandsmensch heutzutage in Gesellschaft ja eine Befolgung der Wohlseins-Aufforderung, die mit der Luther zugesprochenen Frage verbunden ist: „Warum rülpset und furzet ihr nicht? Hat es euch nicht geschmacket?“ Aber ich hier in des Waldes Einsamkeit, kein anderer Mensch weit und breit, musste mich den gesitteten Zwängen gewiss nicht unterwerfen. Also ließ ich dem luftigen Leibesdrängen ruhigen Gewissens schamlos freien Lauf.

Allerdings entfleuchte dem Mund nun kein zartes Bäuerchen. Vielmehr brach mit Macht ein grobschlächtiger Großbauer aus dem Maul – so lautstark röhrend, dass augenblicklich der Vögel Gezwitscher verstummte und wohl auch sonstiges Getier in Deckung ging. Richtig peinlich indes wurde es, als von jenseits des Buschwerks, durch das ich mich gerade schlug, sogleich erschreckte Stimmen ausriefen: „Herrgott, ein Wildschwein!“, „Nein, ein Hirsch!“. Da waren sich offenbar der Pilzesucher und einige Wandersleut’ gegenseitig unbemerkt und ungesehen im falschen Moment recht nahe gekommen. Zwecks Beruhigung der Situation gab ich aus dem Gebüsch heraus eilends Laut: „Ähm, weder noch. Nur ein Mensch mit zu viel Luft im Bauch.“ Nach entspannendem Gelächter allerseits gingen beide Parteien vergnügt ihrer Wege.

Freund Walter schüttelt gereizt den Kopf: „Warum erzählst du hier so eine harmlose Schmonzette? Gerade jetzt, da es überall drunter und drüber geht, da zahllose Menschen leiden oder in Gefahr sind, da kaum ein alte Gewissheit noch Bestand hat und die Menschheitsentwicklung sich wahrscheinlich am wichtigsten aller bisherigen Wendepunkt befindet. Corona, Sturzfluten, Rekordhitze und Feuersbrünste, die Afghanistan-Tragödie etc. und überall Führungskräfte wie auch viel einfaches Volk, die mit Großkrisen kaum noch umgehen können.“

Tja, warum erzähle ich ausgerechnet in solcher Lage ein nettes Anekdötchen? Einfach so. Weil es mir Freude macht. Und weil ich hoffe, den Lesenden damit kurz ein Schmunzeln ins Gesicht zu zaubern. Was viel wert sein kann dieser Tage – in denen wohl ein jeder irgendwann an den Punkt kommt, für einen Moment die Nachrichten aus der nahen und fernen Welt nicht mehr ertragen zu können, die allesamt zum Heulen oder zum Ausderhautfahren sind.         

Monatskolumne "Quergedanken" Nr. 193

Jetzt steht man im Westerwald oder Hunsrück am Fenster, betrachtet die Umgebung unter ganz neuen Gesichtspunkten. Woher und wohin würden die Wasser stürzen bei 200 Litern Regen auf den Quadratmeter binnen weniger Stunden? Hier die sonst meist trockene, aus dem Wald kommende und als Feldweg durch Wiesen bis zum Unterdorf verlaufende kleine Senke: Sie würde zum rauschenden Bach. Und weil der am unteren Ende seit Jahrzehnten kein Bett mehr hat, würde er sich orientierungslos über die Straßen ergießen und durch die Häuser toben.

Andernorts schlängelt sich ein Rinnsal, das gewöhnlich gerade eine handbreit Wasser führt, durch Wohnsiedlungen. Bald verschwindet es in einem Rohr, um einige hundert Meter weiter in das normalerweise 30 bis 60 Zentimetern flache, hübsche Miniflüsschen am Talgrund zu blubbern. Was, wenn sich von einem Moment zum nächsten die Wassermengen im Rinnsal und im Flüsschen mehr als verzwanzigfachen?

„Hochwasser“. Doch das ist der falsche Begriff. Hochwasser erlebt man an den größeren Flüssen – mit meist vorhergesagten Pegelständen, auf die mit seit Generationen eingeübtem Verhalten reagiert wird. Die noch ungewohnten lokalen Starkregenereignisse der jüngeren Jahre, erst recht die jetzige großregionale Katastrophe im Westen sind etwas ganz anderes: Hochgefährliche bis lebensgefährliche, auf wenige Augenblicke komprimierte Sturzfluten. Die hinterlassen Gebiete, in denen oft nicht nur sprichwörtlich kein Stein auf dem anderen bleibt.  

Spätestens seit den entsetzlichen Geschehnissen am 14./15. Juli in Ahrtal und Eifel, in NRW und Belgien sollte auch der Letzte begriffen haben: Wenn entfesselte Natur zuschlägt, gelten selbst in einem der höchstentwickelten Länder auf Erden gewohnte Gewissheiten wenig. Das Heim, das wir für unsere sichere Burg hielten – es kann von jetzt auf gleich ein Trümmerhaufen, gar ein Grab sein. Häuser, Geschäfte, Betriebe, Straßen, Brücken, Gleise: weggespült, kaputt, unbrauchbar. Gas, Strom, Trinkwasser, Internet, Telefon: Die Netze, die uns sonst so selbstverständlich sind: unterbrochen, zerstört.

Plötzlich erleidet man als Betroffener eine Lage, sieht als Außenstehender Bilder, wie man sie bisher nur aus Kriegsgebieten oder Katastrophenregionen in fernen Ländern kannte. Und die Leute in Westerwald, Taunus, Hunsrück sind sich bewusst: Wäre das Unwetter nur ein paar Kilometer weiter nach Osten und/oder Süden gedriftet, es würden sich nun bei ihnen die Leichenhallen füllen. Es kann jeden fast überall treffen. Auch wird es, so die klimawissenschaftliche Gewissheit, eben kein Jahrhundert dauern, bis ähnlich zerstörerische Ereignisse als Sturzfluten, Hitze/Dürre, Feuersbrünste, Extremstürme hierzulande erneut zuschlagen.

Da ich dies schreibe, sind für RLP und NRW bald 200 Fluttote gemeldet.  Zugleich höre ich von Gaffern und Katastrophentouristen, diesen Geiern aus dem ethisch unbeleckten Teil der Menschheit. Ich lese von Betrügern, Plünderern, Rechts- und Verschwörungsextremisten, die die Not für sich auszunutzen versuchen; und es packt mich großer Zorn. Dem steht die gewaltige Hilfewelle aus der Bevölkerung nah und fern gegenüber, die einem den Glauben an das Urmenschliche im Gros der Menschen zurückgeben kann. Gewiss, es ist unendlich viel zu bereden, auch zu streiten über die Lehren aus der Katastrophe. Aber, Herrgott!, das macht man, wenn die Toten beerdigt sind und die Überlebenden mit dem Nötigsten versorgt.

 

Monatskolumne "Quergedanken" Nr. 192

„Oh, oh, gaaanz dünnes Eis“ meint Walter angesichts der Überschrift. Ne, ne, dies wird kein Frivolitäten-Geschreibsel, sondern eine Abhandlung streng auf wissenschaftlicher Basis. Gleichwohl belegt des Freundes  Bemerkung, dass für nahezu alles Zwischenmenschliche gilt: Eigentlich ist die Sache sehr einfach, zugleich aber fürchterlich kompliziert. Das Allereinfachste über die Bedeutung freundlichen bis liebevollen  Körperkontaktes für den Menschen hat ein Psychologe in die folgende Formel gepackt: „4 Umarmungen täglich braucht man zum Überleben, 8 zum Leben, ab 16 beginnt das Glück.“ Und einer der vielen Medienbeiträge, die sich mit dem Zustand unserer Beziehungskultur befassen, fragte schon im Titel „Sind wir alle unterkuschelt?“. Antwort: Ja, erheblich.  

Ganz einfach scheint also die Erkenntnis: Für unsere Spezies gehört zugewandter Körperkontakt zu den grundlegenden Überlebensnotwendigkeiten. Nein, ich will hier nicht sprechen über das weite Feld des Missbrauchs von Körperlichkeit als Herrschaftsinstrument bis hin zur sexualisierten Anmaßung und Gewalt. Das wäre ein eigenes Thema. Hier geht es einmal um die positiven Potenziale. Der Wissenschaft des späteren 20. Jahrhunderts folgend, gehört inzwischen quasi zum Allgemeinwissen, dass Babys/Kinder ohne körperlich-zärtlichen Zuspruch nicht gut gedeihen. Das liebevolle Halten, Herzen, Umarmen, Streicheln, Küssen der Kleinen durch Eltern, Verwandte, Freunde, Erzieher gilt deshalb hierzulande und heutzutage als positive Normalität. Gleiches verbreitet sich auch im Umgang mit unseren Ältesten, seit sich herumgesprochen hat, dass körperliche Zuwendung oft selbst in tiefe Demenz versunkenen Greisen wohltut.

„Gut, gut,“ meint Walter. „Aber was ist nun mit uns, den drei Generationen dazwischen?“ Tja, im Grunde verhält es sich genauso. Von Natur aus sind die meisten Leute erfüllt von einem Bedürfnis nach freundlicher, angenehmer Körperzuwendung von und zu Menschen, die sie mögen. Genau besehen, besteht unsere zwischenmenschliche Kommunikation ja sowieso nur zum kleineren Teil aus Worten, zum größeren aus Blicken, Gesten, Haltungen und oft eben auch Berührungen. Küsschen, Umarmung, Unterhaken, Händchenhalten etc.: Gerade Jugendliche pflegen, trotz Smartphone und Co., solche Formen noch immer ausgiebig.

Doch auch schon bei ihnen wird’s kompliziert, weil die Körperlichkeit in den geschlechtsreifen Alterklassen sozusagen ihre Unschuld verliert. Denn fast jede Art von Berührung KANN hier auch eine sexuelle Tönung und Zielrichtung annehmen. Was kein Beinbruch ist, wenn jede/r Beteiligte Lust auf diese Spielebene des Turtelns hat. Allerdings schleppen wir ein ungutes puritanisches Erbe mit uns, das fast jedwede Art Berührung zwischen denkbaren Geschlechtspartnern unter den Generalverdacht geiler Absichten stellt. Traurige Folge: Weit verbreitet haben wir oft bis hinein in die engsten Vertrautenkreise, je selbst Paarbeziehungen, die Fähigkeit verloren, unterhalb der Ebene des Sexuellen die urmenschliche Wohltat körperlicher Zuwendung, alltäglicher Zärtlichkeit, auch des Schmusens und Kuschelns zu pflegen und zu genießen.

„Du willst uns jetzt aber nicht den guten alten Sex ausreden?“ fragt ein misstrauischer Walter. Nicht mal im Traum, mein Lieber. Denn die vermeintlich schönste Nebensache des Lebens ist ja in Wahrheit eine unverzichtbare Hauptsache – aber halt nicht die einzige.   

Monatskolumne "Quergedanken" Nr. 191

Schreib was Nettes. Mach den Leuten Mut. Verströme Zuversicht und neue Lebensfreude. Sie haben es verdient, die meisten jedenfalls.

Walter zieht etwas unwillig die linke Augenbraue hoch, als er das mir selbst auferlegte  Motto für diesen Text sieht. „Übertreib’s nicht“, grummelt der Freund, „du könntest flott, statt Zuversicht, Leichtfertigkeit fördern. Denk daran: Noch haben zwei Drittel der hiesigen Erwachsenen gar keine Impfung und erst 15% die volle Doppeldosis. Kinder und Jugendliche nicht mitgerechnet. Wir würden uns doch gerne die letzten 10 000 Corona-Toten bis zur Hunderttausender-Marke und jede Menge Long- und Postcoronageschädigte ersparen, die eine vierte Welle wohl mit sich brächte.“

Ja, ja, alles richtig. Und gewiss gibt es auch unendlich viel zu kritisieren, jetzt, im Rückblick auf das Larifari-Seuchenmanagment in deutschen Landen sowie aktuell auf das gleichartige Impfmanagment. Ich (65) bin schließlich selbst betroffen von diesem Glücksspielautomaten, der im Mainzer Gesundheitsministerium anscheinend die Impftermine ausknobelt: Habe mich pünktlich nach dem Aufruf an die 3. Priogruppe korrekt online registriert zur Impfung im für mich zuständigen Zentrum Hachenburg, seither aber keinen Pieps mehr gehört. Gut acht Wochen ist das nun her. Derweil ich getreulich auf Terminzuteilung warte, rauschen auf allen Seiten zuhauf pumperlgesunde Altersgenossen ohne lange Wartezeit mit Pflaster auf’m Arm an mir vorbei; von unzähligen gesunden Jüngeren, die über die Arztschiene geimpft werden, ganz zu schweigen.

Neid? Ach was. Ich bin glücklich über jeden Neugeimpften, denn jeder einzelne senkt das Ansteckungsrisiko aller. Freilich erwarte ich schon, dass die Regierung wenigstens eine halbwegs ordentliche Impfkampagne hinkriegt, in deren Rahmen man auch ohne Trickserei, Mehrfachanmeldung, Beziehungen etc. ganz regulär in vertretbarem Zeitrahmen an eine Impfung kommt, selbst wenn man keinen Hausarzt hat. Vielleicht erklärt mal ein Psychologe der Politik, wie es auf  Millionen Bürger wirkt, die seit Wochen oder Monaten in Wartelisten stehen, wenn auf allen Kanälen fortwährend hauptsächlich über Deregulierung und Aufhebung der Impfordnung pallavert wird. Was soll das ab Juni werden? Ein Massenwettbewerb um die Spritze nach dem heute allfälligen Battle- oder Challange-Prinzip „die Stärksten, Schönsten, Gewieftesten gewinnen“?  

Doch eigentlich wollte ich ja Optimismus verbreiten. Also: Wir dürfen uns glücklich schätzen, ein Wunder mitzuerleben. Die Bundesnotbremse wirkt – obwohl sie gar nicht notbremst, sondern nur einmal mehr kleinen Gewerbetreibenden, Künstlern und Kultureinrichtungen, Gastroszene, Familien, Schülern, Studierenden etc. die Hauptlast der Seuchenbekämpfung aufbürdet. (Ach, was hätten wir uns mit ein oder zwei echten, z.B. auch die Großindustrie einschließenden bundesweiten Lockdowns früher an endlosen Malaisen ersparen können!). Und obwohl auch die Impfkampagne in Deutschland alles andere als ein Ruhmesblatt ist, kommt sie dennoch voran. Sollten nicht Leichtsinn und Irrsinn wieder alles verderben, könnte im Laufe des Sommers Mutter Chaos ein recht gesundes Kind gebären, das sich seines Lebens freuen darf.

Sollte sich indes abzeichnen, dass ich im Herbst der letzte Piecksanwärter sein könnte, bevor das Impfzentrum die Schotten dicht macht – dann kriegt der Mainzer Glückspielautomat einen Gong verpasst, der sich gewaschen hat. 

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