Wie ich mich selbst zur Ordnung rufe

Ein lebenspraktischer Aspekt

ape. Aus vielen Gesprächen während meiner nun schon etwas längeren Lebenszeit ist mir bekannt, dass ich beileibe nicht der einzige bin, der so oder ähnlich verfährt:

Quasi seit Jungendtagen ist in meinem Hinterkopf eine grobe Scala verankert, an Hand derer ich den Grad der eigenen Informiertheit sowie des Durchdacht-Habens einschätze hinsichtlicht diverser Themen, Genres, Ereignisfelder/Entwicklungen in Kultur, Politik, Gesellschaft, Wissenschaft, Wirtschaft. Diese Scala besteht aus drei Kategorien (mit fließenden Übergängen): 1. Kategorie = sehr gut bis gut; 2. Kategorie = ordentlich bis mäßig; 3.Kategorie = kaum bis gar nicht. Wobei der Maßstab dafür nicht der studierte Fachspezialist ist, sondern der interessierte/gut informierte (Bildungs-)Bürger. In den Kategorien spiegelt  sich zumeist auch mein persönliches Interesse oder Desinteresse an gewissen Themen wider.

Diese selbstprüfende Ordnung war mir oft hilfreich bei Entscheidungen, ob ich den Wunsch einer Redaktion nach Analyse/Kommentierung oder den Wunsch von Veranstaltern nach einem Vortrag zu diesem oder jenem Thema annehmen/ablehnen soll.  Kam ich zu dem Schluss, dass mein Kenntnisstand beim zur Rede stehenden Thema der 3. Kategorie entsprach, lehnte ich meist ab. Es sei denn, es handelte sich um eine Sache, der ich ohnehin schon seit längerem mal gesteigerte Aufmerksamkeit zuwenden wollte und deshalb zu außerordentlichem Recherche-/Lernaufwand bereit war.

Auf diesem Wege bin ich vor 30 Jahren zum Ballettliebhaber geworden, habe mich später in Steinzeit-Archäologie sowie Lebensweisen, Herrschafts- und Baustrukturen des Mittelalters hineingegraben, verfolge mit gespanntem Interesse die Entwicklung moderner Hirnforschung und manches mehr. Im Gegenzug sind allerdings auch Kenntnisbereiche von der 1. oder 2. in die 2. oder 3. Kategorie abgedriftet. Beispiele: Bis vor 25 Jahren konnte ich noch als Kenner der zeitgenössischen Literaturszene gelten; das ist nun lange vorbei, da meine diesbezügliche Lektüre sich auf ein halbes Dutzend Titel pro Jahr reduziert hat. Oder: Bis vor etwa sieben Jahren war ich bestens orientiert über fast alles was sich vor und hinter den Kulissen der rheinland-pfälzischen Kulturlandschaft tat. Auch das ist vorbei.

Zur Selbstprüfung greife ich auch (häufig und mit fortschreitendem Alter verstärkt), wenn mich irgendwas in der Welt intuitiv auf die Palme bringt und es mich emotional drängt, sofort mit der scharfen Meinungsaxt zuzuschlagen. So in jüngerer Zeit etwa in Fragen Klimawandel, Corona-Pandemie oder auch Sprachgendern. Da rief ich mir mehrfach zu: Halt erstmal die Klappe, mach dich kundig und denke ordentlich darüber nach. In Sachen Klima und Corona brachte mich dieses - alle Seiten (kurz auch die abstrusesten) betrachende - Verfahren allerdings in noch schärfere, nun aber sachlich begründbare Opposition einerseits zum Regierungshandeln, andererseits zu Schwurbelei, Leugnung, Verharmlosung und was sonst noch manche Zeitgenossen auf Basis von Gefühl, Glaube/Aberglaube, Desinformation, Pseudowissenschaft  etc. betreiben.

In der 1. Kategorie sind die Themen nicht sehr zahlreich. Um richtig in die Tiefe einzudringen braucht es eben allerhand. Doch reicht es etwa bei Atomkraft, Ökologie, Archäologie, Schauspiel/Ballett, klassischer Musik, Corona-Pandemie und etlichen Aspekten sozialkultureller Gesellschaftsstruktur dazu, Ausführungen der Fachspezialisten zu verstehen, ihnen richtige/wichtige Fragen zu stellen, Sinn und Unsinn zu unterscheiden,  schließlich die eine oder andere eigene, sachlich recht gut begründbare Position zu entwickeln. Ziemlich dichtes Gedränge herrscht in der 2. Kategorie. Und die 3. Kategorie füllt sich zusehends; bedeutet: Ich muss mich im Alter nicht mehr für alles und jedes interessieren, genieße das Recht, mir zu allerhand Fragen gar keine Meinung bilden zu müssen bzw. sie für mich behalten zu dürfen.

Andreas Pecht

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