Wachset und mehret euch bloß nicht noch weiter
Neujahrsessay 2012: Wir stecken mittendrin in einem gewaltigen Epochenumbruch
ape. Es ging in den vergangenen Wochen allenthalben die Rede, ein historischer Epochenumbruch stünde zeitnah bevor oder finde bereits statt. Gemünzt war diese Ansicht zumeist auf das krisengeschüttelte Europa. Ihre Schlussfolgerung lautete: Die international agierenden Finanzmärkte machen im Verbund mit der EU-Staatsschuldenkrise eine Stärkung der Europäischen Gemeinschaft als politische und fiskalische Union unabdingbar. Kurzum: Mehr Europa, weniger Nationalstaat! Dieser Weg sei zwingend, wolle die alte Welt nicht zwischen globalem Finanzkapital und Asiens Aufstieg zur neuen Supermacht in Bedeutungslosigkeit versinken.
In der Tat vollzieht sich derzeit eine ökonomische und geopolitische Neuordnung der Welt. Gemessen an historischen Maßstäben verläuft sie rasend schnell, auch wenn von der Alltagswarte aus davon wenig zu spüren ist oder die öffentliche Meinung hierzulande hinsichtlich der Europa-Frage im Augenblick eher antieuropäisch tendiert. Es ist meistens so in der Geschichte, dass welthistorische Epochenumbrüche erst nachträglich festgestellt werden. Menschen, die mittendrin stecken im Jahrhundert oder Jahrtausendwandel, sind sich dessen kaum je bewusst.
Über den Tellerrand der aktuellen Finanzkrisenaufregung und damit verbreitet verbundener Ressentiments einmal hinausgeblickt, wird rasch deutlich: Es ist höchste Eisenbahn, dass die europäische Staatspolitik nachvollzieht, was gesellschaftlich längst im Gange ist.
Finanz- und Realwirtschaft behandeln Europa als einheitlichen Wirtschaftsraum, der seinerseits Teil des globalen Wirtschaftsraumes ist. Nationalgrenzen spielen da allenfalls eine untergeordnete Rolle als Störfaktor oder aber als taktisches Spielfeld, Politik auszunutzen respektive auszuhebeln.
Zugleich begreifen heute gerade junge Leute immer mehr Europa als ihren Lebensraum. In Madrid studieren, in Paris Praktikum machen, in Prag die große Liebe finden, dann in Schweden wohnen und arbeiten, gelegentlich die Eltern in Mainz besuchen: Solche Biografien sind zwar noch nicht die Mehrzahl, aber durchaus schon so normal wie Englisch als Zweitsprache oder europäischer Grenzverkehr ohne Passkontrolle.
Nationalgefühl wird im Europa der Regionen immer unwichtiger
Ob es einem gefällt oder nicht: Die Bedeutung der Nationalstaaten schwindet objektiv. Und gerade bei der jüngeren Generation nimmt auch die Identifikationskraft des Nationalen stetig ab. Junge Deutsche werden zu deutschen Europäern, vielleicht mehr noch zu rheinischen, pfälzischen, fränkischen ... Europäern. Heimat eher als regionale denn nationale Bindung zu verstehen und zu fühlen, ist eine sich verstärkende Strömung im Zeitgeist. Abgehobenheit des EU-Apparates, Bürgerferne der EU-Politik stehen zu dieser Entwicklung in eklatantem Widerspruch. Und es ist traurig, dass erst die Macht der Finanzmärkte die Politik in Europa auf den Umstand stoßen muss: Das mit der Französischen Revolution begonnene Zeitalter der Nationalstaaten geht mit der Globalisierung ihrem Ende entgegen.
Doch ist es nicht der europäische Umbruch allein, der unsere Gegenwart als Epochenwende kennzeichnet. Zugleich betreten neue Mächte das globale Spielfeld. Der Aufstieg Chinas, Indiens oder auch Brasiliens zu wirtschaftlichen und in der Folge bald auch politischen Großmächten verändert die Kräfteverhältnisse auf Erden grundlegend. Rund 500 Jahre nach ihrem Beginn schwindet nun die euro-amerikanische Vorherrschaft über die Menschheitszivilisation. Wir werden uns an den Gedanken gewöhnen müssen, dass Europa und Nordamerika nicht länger der Nabel der Welt und der Schrittmacher ihrer Entwicklung sind.
Gegen die jetzige Dynamik der einstigen Kolonialopfer kommen die alten Mächte diesseits und jenseits des Atlantiks nicht an. Was uns bleibt, ist das Bemühen um Partnerschaft statt Wirtschaftskrieg mit den aufstrebenden Weltregionen. Was Europa auch bleiben könnte, ist eine Vorbildfunktion in Sachen staatsbürgerlicher Freiheit und Sozialstaatlichkeit – so wir diese Errungenschaften nicht leichtfertig aufgeben. Denn früher oder später werden auch China, Indien und andere solcher Modelle dringend bedürfen, wollen sie nicht an den unweigerlich eintretenden inneren Widersprüchen ihrer stürmischen Entwicklung verzweifeln.
Wegen Überfüllung droht den neuzeitlichen Megametropolen der Erstickungstod
Doch die derzeitige Epochenwende umfasst noch eine weitere, wesentlich tiefer greifende Dimension. Eine, die es in der bisherigen Menschheitsgeschichte noch nie gegeben hat, und die wohl zur größten Herausforderung sowohl für die alten Industriestaaten wie auch die neuen Großmächte wird: die Überforderung des Planeten durch das anhaltend maßlose Wachstum der Verbrauchszivilisation. Seit der Mensch aus seiner animalischen Phase heraustrat und Zivilisationswesen wurde, verlief seine Entwicklung stets nach der Devise: Wachset und mehret euch. Anfangs sehr, sehr langsam, seit etwa 12 000 Jahren immer schneller und seit dem 19. Jahrhundert explosionsartig nimmt die Weltbevölkerung zu, steigt ihr Verbrauch an Rohstoffen, Ackerfläche, Natur. 2011 überfüllten erstmals sieben Milliarden Menschen den Planeten und lebten erstmals mehr als die Hälfte davon in Städten und wuchernden Megametropolen.
Es hat seit Christi Geburt nicht nur die Zahl der Menschen um das 23-fache zugenommen. Es liegt zudem der Ressourcenverbrauch eines durchschnittlichen Mitteleuropäers heute mindestens 100 Mal höher als bei einem durchschnittlichen Zeitgenossen Jesu. Moderne Wohnung, Zentralheizung, TV, Waschmaschine, Elektroherd, Auto, Straßen, Flugzeuge.... Der gesamte Zivilisationsapparat hat eine Größenordnung angenommen, die mehr Ressourcen verbraucht, als der Planet dauerhaft zu bieten hat. Und wird nicht wuchtig gegengesteuert, wächst alles weiter – auf Klimakrisen, Hungersnöte, Verteilungskriege, globales Chaos zu. Die Weltbevölkerung wächst womöglich binnen einer Generation auf zehn Milliarden; der Bedarf an Rohstoffen, Energie, Luft, Wasser, Ackerfläche, Wohn-, Wirtschafts- und Mobilitätsraum ins Unermessliche.
Den Altvorderen schienen die Reichtümer des Planeten unerschöpflich. Uns selbst aber schwant allmählich, dass in einem endlichen System wie der Erde unaufhörliches Wachstum schlechterdings unmöglich ist. Tim Jackson, englischer Professor und Autor des Buches „Wohlstand ohne Wachstum“ rechnet vor: Zu Beginn des 21. Jahrhunderts war die Weltwirtschaft bereits fünfmal so groß wie in den 1950ern. Wollte man die bisherige globale Wachstumsrate beibehalten, würde die Weltwirtschaft bis zum Ende unseres Jahrhunderts den 80-fachen Umfang annehmen müssen. Wer seine fünf Sinne auch nur halbwegs beisammen hat, weiß: Dafür reicht das Potenzial der Erde hinten und vorne nicht. Ganz zu schweigen von der Überlastung der Biosphäre bis hin zum Klima durch die Abfallprodukte solchen Wachstums. Das große Gerangel um die planetaren Ressourcen ist bereits im Gange. Und Grenzen des Wachstums sind unübersehbar, wenn etwa dem Großraum Peking die Atemluft ausgeht oder Deutschland in einer halben Million Staukilometer stillsteht.
Sechs Milliarden Menschen streben nach mitteleuropäischem Lebensstandard
Ein Innehalten ist vorerst dennoch nicht in Sicht. Dank weltweiter TV-Programme, Netzverbindungen oder touristischer Beispiele weiß man heute auch in den Armenvierteln des globalen Dorfes, dass ein materiell viel höherer Lebensstandard anderwärts als völlig normal gilt. Weshalb es keinem Schwellen- oder Entwicklungsland zu verdenken ist, wenn es rasch den Sprung von der Agrar- zur Industriegesellschaft schaffen will. Sechs Milliarden Menschen sind deutlich ärmer als etwa deutsche Durchschnittsbürger – und streben alle tendenziell nach mitteleuropäischem Lebensstandard. Die Wachstumsdynamik in China, Indien oder Brasilien resultiert nicht zuletzt aus solchem Nachholbedarf. Nur zu gerne würde die westliche Industrie ihn befriedigen und daran wachsen – wenn schon auf dem heimischen Markt die Wachstumspotenziale schrumpfen. Doch so einfach ist das nicht, weil jene Länder auch eigene leistungsfähige Wirtschaften aufbauen.
In Wahrheit weiß niemand, wie das auf Dauer gehen soll mit dem unendlichen Wachstum in einem endlichen System. Dennoch beten Ökonomen und Politiker reihum für jedwede Lebens- und Krisenlage stets das gleiche Mantra daher: Wachstum, Wachstum, Wachstum. Und zwar „nicht nur für die ärmsten Länder, die dringend auf eine Verbesserung der Lebensqualität angewiesen sind, sondern selbst für die reichsten Nationen, in denen der Wohlstand inzwischen die Grundlagen unseres Wohlergehens bedroht“, schreibt Jackson. Gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma, dass weiteres Wachstum die Lebensgrundlage der Zivilisation selbst angreift, zugleich aber unaufhörliches Wachstum die Grundbedingung für das Funktionieren unserer Wirtschaftsweise zu sein scheint?
Es ist gut, dass sich immer mehr kluge Köpfe über diese existenzielle Frage der Menschheitsentwicklung Gedanken machen. Es ist bedenklich, ja irrwitzig, dass noch immer viel zu viele Köpfe (nicht nur) in den Führungsetagen von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik schon die Fragestellung als albern, weltfremd, irrelevant abtun. Indes gibt es erste Antwortansätze: Umstellung von verbrauchendem auf nachhaltiges Wirtschaften; von Wegwerfen auf Reparieren und Wiederverwerten; von Größer auf Kleiner; von Schneller auf Langsamer; von Vermehrung auf Umverteilung; von Güterbesitz auf kooperative Güternutzung; vom Primat des materiellen Wohlstands auf soziales, emotionales, kulturelles Wohlergehen; von einem bloß angefüllten auf ein erfülltes Leben.
Dem Wohlhabenden verschafft Wohlstandswachstum kein zusätzliches Lebensglück
Vor allem den reichsten Ländern ist es aufgegeben, hier die ersten Schritte zu wagen. Denn erstens war ihr Binnenwachstum zuletzt ohnehin überwiegend ein künstlicher Prozess bloß noch auf Pump. Und zweitens brächte für einen beträchtlichen Teil ihrer Bevölkerung noch mehr Wohlstand kaum echten Glückszuwachs mit sich. Nach aktuellen Studien sind die Deutschen sowieso kein besonders glückliches Volk. Der Befund ist nicht neu, das Gefühl von Lebensglück wird hierzulande schon seit Jahrzehnten schwächer. Solche Studien zeigen regelmäßig auch, dass die Höhe des Einkommens oder das Maß des persönlichen Wohlstandes eine eher untergeordnete Rolle für die Einschätzung des eigenen Lebensglücks spielen.
Der Befund deckt sich mit älteren Erkenntnissen der sozialpsychologischen Glücksforschung, wonach Zuwachs von materiellem Wohlstand ein echtes Glückspotenzial eigentlich nur für die Armen hat. Sie sind glücklich, wenn sie einem Leben entkommen, das primär aus Überlebenskampf bestand, und wenn sie nun wenigstens in bescheidenem Maß an den Standards der umgebenden Gesellschaft Anteil haben. Das Glückspotenzial von Wohlstandszuwachs wird aber umso kleiner, je wohlhabender jemand schon ist. Daraus lässt sich schließen, was der Volksmund seit eh und je weiß: Geld (allein) macht nicht glücklich. Zumal dann nicht, wenn es erkauft werden muss mit sinkenden Lebensqualitäten in anderen Bereichen: stressigen, zermürbenden Jobs, Gefährdung familiärer und anderer sozialer Bindungen, Verschwinden von Muße und Beisichsein, Umweltzerstörung etc.
Jüngst wurde vermeldet: Jeder Zweite aus der älteren Arbeitsbevölkerung in Deutschland will vorzeitig in Rente gehen – wissend, dass dafür teils beträchtliche Rentenabschläge in Kauf zu nehmen sind. Egal, ob die Betreffenden im Einzelfall einfach nicht länger arbeiten können oder nicht wollen, zeichnet sich hier eine Zäsur im Zeitgeist ab: Eine signifikante Bevölkerungsgruppe stellt Lebensqualität über die Ausschöpfung aller Möglichkeiten für ein maximales Einkommen. Damit werden die Begriffe Lebensqualität oder Lebensglück zumindest partiell neu definiert, wird Wohlergehen vom rein materiellen Wohlstand abgekoppelt, ja sogar höher bewertet.
Es soll hier nicht der verlogenen Parole vom „Glück der Armut“ das Wort geredet werden. Vielmehr geht es um ein Umdenken, um eine sozial gerechte und neue Lebensqualitäten erschließende Abkehr von der überlebten Maxime „wachset und mehret euch“. Denn darin besteht die größte Herausforderung für Gegenwart und nahe Zukunft, die tatsächlich alternativlos ist: einen Epochenwandel zu gestalten, wie es noch nie einen gab.
Andreas Pecht
Erstabdruck 02. Januar 2012