Neujahrsessay 2007: Die neue Sehnsucht nach Geborgenheit

Mit dem Veränderungsdruck globalisierter Gegenwart wachsen menschliche Urängste und das natürliche Schutzbedürfnis

ape. Das alte Jahre wurde, das neue wird  von zwei  gegenläufigen Haupttendenzen geprägt. Einerseits stellen  Globalisierung und Klimawandel  bisherige Lebensart radikal in Frage. Je heftiger sie das tun, umso stärker wird andererseits die naturwüchsige Sehnsucht der Menschen nach Vertrautem und nach Geborgenheit. Im nachfolgenden Essay  wird dieses Spannungsgefüge etwas genauer betrachtet.

Nichts bleibt, wie es war; nichts wird bleiben, wie es ist. So lautet das einzige Versprechen, dessen Umsetzung die Moderne tatsächlich garantiert. Beim Übrigen gilt: Ausgang ungewiss. Das  Versprechen ist ein zweischneidiges. Denn einerseits strotzt die Spezies Mensch von Neugierde, Abenteuerlust, Veränderungswillen. Andererseits bedürfen die Individuen der Geborgenheit, also der Sicherheit und verlässlichen Versorgung, der Vertrautheit einer Heimstätte, der kulturellen Verwurzelung, des menschlichen Miteinanders. Zwischen beiden Polen ein Gleichgewicht herzustellen, dem gilt humanes Streben. Die Gegenwart indes scheint von solchem Gleichgewicht weiter entfernt denn je.

Wer oder was ist verantwortlich?  Ökonomie, Politik und Kultur geben unisono Antwort mit dem Wort Globalisierung. Dieses erfährt im öffentlichen Sprachgebrauch viel sagende Spezifizierungen: globaler Kapitalismus, Turbo-,  Raubtier-, neuerdings auch Brachialkapitalismus. Die Globalisierung – besser sagt man wohl: diese Art Globalisierung – zeichnet einen Weg  vor,  der an „Reformen“ nicht vorbeikomme, wie es heißt. Wobei das Wort Reformen verharmlost, was vor sich geht: ein grundstürzender Wandel unserer Lebenskultur, eine Revolution. Die ist allerdings von oben verordnet und hat den Makel, dass die Ziele ihrer Führer an den Erfahrungen und den Bedürfnisses „prekärer“ Unterschicht und abstiegsverängstigter Mittelschicht meist vorbei gehen.

ARBEITNEHMER SUPERMANN UND SUPERFRAU

Nichts bleibt, wie es war.  Ob der „reformierte“ Sozialstaat schließlich den Namen Sozialstaat noch verdient, ist fraglich. „Je mehr der Sozialstaat diskreditiert wurde, umso kälter wurde auch der Ton in den Betrieben“, schreibt Heribert Prantl in seinem Buch über „die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit“. Das ganze Land wird nurmehr als Wirtschaftsstandort durchdekliniert. Darin setzt sich  ein neues Verständnis vom  Arbeitnehmer fest: die vielseitig gebildete, grenzenlos flexible, allseits mobile, über jede Gebühr belastbare und dabei möglichst preiswerte Arbeitskraft. Supermann und Superfrau, die nur eines nicht haben dürfen: Schwächen – und versorgungsbedürftige Kinder oder Alte.

Nichts bleibt, wie es war. Künftige Arbeitsbiografien werden anders verlaufen als  bisherige. Wie, auch das lässt sich am Sprachgebrauch ablesen. Wirtschaft, Politik, Medien sprechen nur noch von der Notwendigkeit neuer „Jobs“. Das gemeine Volk ist  allerdings nicht so furchtbar scharf auf Jobs. Was dort gewünscht, ersehnt, für nötig befunden wird, nennt sich „Arbeitsplätze“.
Job und Arbeitsplatz, das sind keineswegs bloß verschiedene Wörter für dieselbe Sache. Arbeitsplatz meint eine feste, verlässliche, entwicklungsfähige, auf Gegenseitigkeit und Langfristigkeit angelegte Anstellung. Jobs hingegen sind, wie in den USA vorexerziert, bloß lose Verbindungen auf Zeit. Jobs sind Beschäftigungen, mit  denen man schlecht oder recht Geld verdient, aber auf die sich kaum je eine solide Lebensplanung aufbauen lässt. Wenn die einen ohne Job arm sind, die anderen trotz Job arm bleiben oder werden, dann ist eingetreten wovor Gabor Steingart im „Spiegel“ warnte: „Die Vergangenheit der Urgroßväter, als der Sozialstaat noch nicht erfunden war, kehrt in Gestalt der Moderne zurück.“

Mit Job verbindet sich ein gänzlich anderer Lebensentwurf als mit Arbeitsplatz.  Der Kampf um Arbeitsplätze war in Deutschland stets auch ein Kampf um verlässliche Lebensperspektiven, um Entwicklung vom Schlechteren zum Besseren, um die Möglichkeit zur Sesshaftigkeit oder um Chancen zum Ausstieg aus der Erb-Armut. Der Begriffswechsel vom Arbeitsplatz zum Job flankiert unbewusst oder gezielt einen Grundwertewechsel im sozialkulturellen Selbstverständnis der Republik.

SIMGLES AM ALLERBESTEN GEEIGNET

Nichts bleibt, wie es war.  Von einem Job zum nächsten springen, von einem Ort zum andern ziehen,  wechselnd zwischen Phasen von Arbeitslosigkeit und Phasen extrem verdichteter, arbeitszeitlich ausufernder Beschäftigungen: So werden, heißt es, bald die meisten Arbeitsbiografien aussehen. Arbeitswelten schaffen sich ihre Sozialstrukturen. Die frühzeitlichen Jäger und Sammler lebten in Horden zusammen. Zur Gesellschaft von Ackerbauern und Handwerkern gehörten als Sozialform Haushalt und Großfamilie. Das Industriezeitalter brachte die Kleinfamilie. Zu den geschilderten Anforderungen der industrie-elektronischen Globalmoderne passen nun schwach gebundene Paare oder gleich völlig ungebundene Singles objektiv am allerbesten.

ABSTURZ IN UNGEWISSE

Folgerichtig vollzieht sich die Wendung weg von der  Kleinfamilie hin zum quasi solitären Dasein auch. Mit den  bekannten Folgen: Vom Zerreißen der privaten Solidarnetze und der daraus folgenden Belastung der Sozialsysteme über rückläufige Geburten bis zur massenhaften Vereinsamung. Damit einher geht die tiefgreifende Verunsicherung der Menschen.
Übrigens nicht nur hierzulande. China erkauft seinen Wirtschaftsboom mit einer umfassenden Zerrüttung aller gewachsenen Sozialstrukturen und gigantischem Umweltraubbau.  In der gesamten Dritten Welt zerbrechen  die Strukturen kleiner Landwirtschaft und familiären Kleingewerbes, in denen die  Menschen über Generationen lebten und arbeiteten.

Nichts bleibt, wie es ist. Mehrere Milliarden Erdenbewohner sehen einer ungewissen, unberechenbaren Zukunft entgegen. Man muss kein großer Psychologe sein, um zu prognostizieren, dass  Forderungen nach noch mehr, noch radikaleren, noch schnelleren Umwälzungen im Sinne neoliberaler Weltwirtschaftsordnung überwiegend als Bedrohung empfunden werden dürften.
Die sogenannte „Sozialdemokratisierung“ der CDU ist eine Reaktion auf diesen Sachverhalt, Kurt Becks jüngstes Plädoyer für eine Reformpause eine andere. Die Politik beginnt zu begreifen, dass es eine demokratische Zukunft nicht geben wird, wenn soziale Interessen, wenn urwüchsige Geborgenheitsbedürfnisse der Menschen auf dem Altar des blanken Ökonomismus geopfert werden. Der aktuelle Konjunkturaufschwung ändert an diesem Befund im Grundsatz wenig. Das Volk weiß recht gut, dass ein Konjunkturhoch, so schön es für den Moment sein mag,  keine verlässliche Zukunftsperspektive darstellt. Der soziale Preis für den jetzigen Aufschwung war enorm. Derjenige für die Überwindung des nächsten Abschwungs von 2009 oder 2011 an wird noch höher sein. Wann ist er zu hoch?

Die Globalisierung stellt Traditionen, Lebensweisen, ja ganze Kulturen in Frage.  Hier sind es Einkommensniveau, Sozialstaat, Arbeitsordnung, Kleinfamilie ... Anderswo sind es religiöse oder ethnische Lebensart, regionale Besonderheiten des Wirtschaftens, nationale Eigenarten. Je radikaler der entwurzelnde, sämtliche Lebensbereiche ökonomisierende Zugriff der Globalisierung, umso kräftiger die Gegenbewegungen, umso größer die Sehnsucht nach Sicherheit und Verwurzelung in vertrautem Grund.

RENAISSANCE DER RELIGION

Die weltweite Renaissance des Religiösen ist solch eine Gegenbewegung. Glaube stiftet Sinn, stiftet Regeln, stiftet Halt, stiftet dem, der sich ihm hingibt, Geborgenheit. Im Glauben kann der Gläubige etwas von dem wiederfinden, was dem ökonomischen Weltlauf unter die Räder kam. Leider  kehren mit dieser Renaissance des Religiösen auch die dunklen Seiten der Religionen zurück: Sendungseifer, Selbstgerechtigkeit, Intoleranz, Rechthaberei bis hin zum Hegemonialanspruch auch im weltlichen Raum. Am radikalsten ausgeprägt sind diese Schattenseiten zurzeit im islamischen Fundamentalismus, aber es gibt sie nicht nur dort. Gegenbewegungen zur Seelenlosigkeit der Globalisierung existieren in mannigfachen Formen. Nationalchauvenismus und Fremdenfeindlichkeit sind zwei der hässlichsten.

Eine ganz andere Form stellt in den westlichen Industrieländern die emotionale Hinwendung zum Familiären dar. Das Ausmaß dieses Trends lässt sich aus der Besorgnis über sinkende Geburten allein nicht erklären. Auffallend am diesbezüglichen Diskurs ist  die maßlose Idyllisierung  von Familie. Sie wird quasi zum Allheilmittel per se für alle Bildungs-, Verhaltens-, Kriminalitäts- und Gesundheitsprobleme stilisiert. Dass diese Probleme auch in Familien grundgelegt werden, wird übersehen. Dass Familie auch ein Ort der Unterdrückung ist, dass die meisten Gewalttaten in Familien stattfinden, wird ausgeblendet.

Warum diese Blindheit für  die Tatsache, dass Familie Himmel, aber eben auch Hölle sein kann? Weil man sie als letztes von Liebe und Selbstlosigkeit erfülltes Refugium sehen möchte. Als privates Eden. Als Geborgenheitsraum, in dem du um deiner Selbst willen respektiert wirst und nicht nur nach dem Nutzen fürs Profitcenter bewertet. Es ist logisch,  aber doch eine der großen Fatalitäten der Moderne: Die Sehnsucht nach Familienidylle ist am größten, wo die Bedingungen für Familie am schlechtesten sind – in einer Turboarbeitswelt mit Turboarbeitern.

URANGST VOR NATURGEWALTEN

Die Sehnsucht nach Geborgenheit nimmt mit der Unsicherheit der Lebensumstände und damit der Angst vor der Zukunft zu. Das ist kein Spleen von Schwächlingen, sondern von der Natur gedacht als Vorsorge motivierender Überlebensmechanismus.  Den die Globalisierung freilich ignoriert, solange sie niemand zu Verstand bringt. Wir erleben zurzeit, wie eine von  unvernünftiger Wirtschafterei verursachte Bedrohung eine menschliche Urangst reaktiviert: die Angst vor den Naturgewalten.

Im Falle Klimawandel bleibt nun ausnahmsweise etwas, wie es war: Deutsche Politiker und Industrie-Lobbyisten machen ein Geschrei um zwölf Millionen Tonnen CO2-Verdreckungsrechte, die ihnen die EU nicht zugestehen will. Um die verbleibenden 450 Millionen Tonnen sorgt sich indes keiner. Das Publikum verfolgt staunend einen irrwitzigen Streit. Denn eigentlich müsste es darum gehen, den globalen CO2-Ausstoß  möglichst rasch zu halbieren. Nur mit einer Halbierung lässt  sich der Klimawandel halbwegs eindämmen. Die Mindestanforderung an Deutschland heißt also nicht zwölf, sondern 225 Millionen Tonnen CO2 weniger.  Wirtschaftlich nie und nimmer machbar, kommt der Einwand. Schlecht gesprochen. Denn erstens schert sich die Natur wenig darum, was wir für machbar halten. Und zweitens demonstriert die politische und wirtschaftliche Elite damit, dass sie entweder nicht begreift, was ihre Pflicht ist, oder ihr einfach nichts einfällt, wie sie erfüllt werden könnte.

Die Welt verändert sich, das ist unvermeidbar. Wie und in welche Richtung, das allerdings können Menschen beeinflussen. Und es wäre dabei hilfreich, würde man sich auf den ureigentlichen Zweck der Politik und des Wirtschaftens besinnen: Wohlfahrt und Glück für alle. Ein Satz aus der schweizer Verfassung könnte als Anhalt dienen: „Die Stärke eines Volkes misst sich am Wohlstand der Schwachen.“

Andreas Pecht

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