Neujahrsessay 2006: Die Moderne in der eigenen Falle

Wirklich globales Denken könnte zur Folge haben, dass die fatale Kleingeistigkeit des Wirtschafts-Globalismus auffällt

ape. Alle reden von Globalisierung. Und davon, dass man sich ihren Herausforderungen endlich stellen müsse. Dieses Essay geht der Frage nach, ob es den Zeitgenossen mit dem globalen Denken und Handeln ernst ist. Zweifel kommen auf, sobald Themen wie Bevölkerungsentwicklung und Wirtschaftswachstum ihre tatsächliche Global-Dimension offenbaren.

Globalisierung. Ein Wort, das gewaltig dröhnt in den Köpfen. Ist es Sammelbegriff für jene regellos entfesselten Kräfte kapitalistischen Wirtschaftens, die alle bisherigen Gewissheiten umstürzen, die sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Unerbittlichkeit und Zwanghaftigkeit reiner Geldverhältnisse reduzieren? Oder ist Globalisierung doch eher Ausdruck für einen, bisweilen schmerzhaften, Weg in eine lichte Zukunft, die auch den Elenden dieser Welt Teilhabe am so nie da gewesenen Reichtum gewährt?

Es gehört zu den Phänomenen der Globalisierung - des Wortes wie der realen Prozesse -, dass sie sich derartigen Fragestellungen ziemlich erfolgreich entzieht. Der Trick geht so: Globalisierung wird als quasi naturgesetzliche Entwicklung ausgegeben; sie finde halt statt, sei unaufhaltsam, folge nicht menschlichem Willen, sondern Automatismen. Die Leute mögen davon halten, was sie wollen, es spiele keine Rolle, erklären die in Wirtschaft, Politik und Medien stark vertretenen "Realisten". Sie belächeln Zeitgenossen als naiv und weltfremd, die Fragen obiger Art auch nur andeuten. Diskussion um Sinn, Unsinn oder Richtung der Globalisierung gilt ihnen als reine Zeitverschwendung: Den Selbstlauf der globalen Ökonomie ficht weder Kritik noch Politik noch Moral an.

"Realisten" zu kurzsichtig

Doch diese "Realisten" haben eine Schwäche: Ihr Blick greift zu kurz, und damit an den tatsächlichen Erfordernissen der globalen Realität vorbei. Warum? Weil sie unter Globalisierung nur den Prozess ökonomischer Internationalisierung verstehen. Diese beschränkte Sicht führt interessanterweise gerade zu einem nicht-globalen Umgang mit den gesellschaftlichen Folgewirkungen der Globalisierung. Während die Global-Player das ganze Erdenrund als Spielfeld benutzen, tobt in den Niederungen nationaler und regionaler Politik ein Hauen und Stechen jeder gegen jeden um das gefällige Herausputzen von Standorten. Als gut und richtig gilt fortan einzig, was den eigenen Standort ökonomisch reizvoll macht - für die wohlfeile Vernutzung durch die Global Player.

Nicht nur, dass man sich mit dieser provinziellen Art dem "Teile und Herrsche" des Globalismus schutzlos ausliefert. Damit einher geht zugleich Blindheit für andere, wirklich existenzielle Global-Probleme. Fatale Folge: Politik und allgemeines Denken tapsen perspektivisch in allerlei Fallen. Man schaue beispielsweise auf eines der zentralen Probleme für die künftige Entwicklung des Planeten, die Bevölkerungsfrage. "Deutschland braucht wieder mehr Kinder", tönt es unisono auf allen Kanälen und aus sämtlichen deutschen Parteimündern. Die Politik plant in Serie Programme zur Erhöhung der Geburtenrate. Die Argumente dafür sind hinlänglich bekannt.

Über die Effizienz von Zeugungs-Fördermaßnahmen wird im Land heftig gestritten. Globale Gesichtspunkte kommen dabei allerdings nicht vor! Man nehme die penetrante Aufforderung, sich den Herausforderungen der Globalisierung endlich zu stellen, einmal ernst und wende sie auf dieses Thema an. Von globaler Warte aus mutiert das deutsche Allparteien-Ziel "mehr Kinder" zur Absurdität. 6,5 Milliarden Menschen leben derzeit auf der Welt. Viel zu viele! Weshalb die UNO seit Jahrzehnten die Eindämmung des Wachstums der Weltbevölkerung als wichtigste Menschheitsaufgabe betrachtet. In den 1980ern stand die hochgerechnete Zahl von zehn Milliarden Menschen noch vor 2050 als Menetekel am Horizont. Ende der 1990er wurde die Berechnung auf neun Milliarden nach unten korrigiert. Drei Hauptgründe sprachen für eine solche Verlangsamung des Bevölkerungswachstums: erstens die rigide Ein-Kind-Politik Chinas, zweitens eine bescheidene Verkleinerung der Zuwachsrate bei den Geburten auch in anderen Schwellenländern, drittens die sinkende Geburtenrate in den Industrieländern.

Es war ein Hoffnungsschimmer, der jetzt zu verglimmen droht. Denn mittlerweile treibt China mit seiner 1300-Millionen-Bevölkerung auf ein Altersproblem zu, gegen das sich unsriges vergleichsweise niedlich ausmacht. Sollte das Riesenreich nun nach deutschem Muster verfahren und die Lösung des Altersproblems im Versuch einer systematischen Erhöhung der Geburten suchen, wären die Folgen katastrophal. Die Menschenzahl in China würde explodieren. Wenn obendrein ausgerechnet die reichsten und die größten Länder vorexerzieren, dass sie glauben, nur mit kräftigem Bevölkerungswachstum ihre Zukunft meistern zu können, wieso sollten andere Gesellschaften Afrikas, Asiens und Lateinamerikas ihre Bemühungen um Geburtenkontrolle fortsetzen? Global betrachtet sind die Anstrengungen Deutschlands zur Steigerung der Binnen-Geburtenrate ein Unding. Denn die Welt ist überfüllt mit Menschen.

Statt sich den Kopf zu zerbrechen, wie künftige Gesellschaften die Chancen sinkender Geburtenraten nutzen und zugleich mit hohem Altenanteil zurecht kommen können, reitet sich die Moderne immer tiefer in eine Zwickmühle hinein. Einerseits: Werden wenige Kinder geboren, scheint die Versorgung der größer werdenden Seniorenpopulation gefährdet. Andererseits: Werden viele Kinder geboren, entzieht sich die Spezies Mensch auf lange Sicht die eigene Lebensgrundlage durch Übernutzung der begrenzten Ressourcen Luft, Wasser, Land und Bodenschätze. Noch im späten 20. Jahrhundert haben die Sozialkundebücher unserer Schulen über den "Circulus vitiosus der Armut" aufgeklärt: In früheren Agrar-Gesellschaften und in der Dritten Welt wurden viele Kinder als Garant für ein versorgtes Alter, für die Zukunft der Sippe, des Volkes angesehen. Doch der Kindersegen hatte Verarmung zur Folge, diese wiederum noch mehr Kinder... Ein solcher Kreislauf galt für die aufklärerisch und industriell entwickelten Länder als überwunden.

Just zu Beginn des 21. Jahrhunderts aber sind Zweite und Erste Welt offenbar wild entschlossen, zum unglückseligen Prinzip ihrer Vorfahren zurückzukehren. Viele Kinder seien zur Sicherung der Renten unabdingbar, heißt es wieder. Vergessen scheint, dass viele Kinder auch viele Münder sind. Und dass "viele Kinder" ebenso heißt: noch mehr Enkel und noch mehr Münder und noch mehr Arbeitsuchende und noch mehr Rentner und noch mehr Ressourcen-Verbraucher. Sämtliche Probleme der Gegenwart würden durch Erhöhung der Geburtenrate in verschärfter Form an die Folgegenerationen weitergereicht. Wobei es für das globale Dorf im Grundsatz keine Rolle spielt, in welcher Hütte mehr und in welcher weniger Kinder geboren werden. Ausschlaggebend für das Leben aller ist die Gesamtzahl der Dorfbewohner, weil alle Hütten auf derselben globalen Scholle und unter demselben globalen Himmel stehen.

Was uns zur nächsten Zwickmühle führt: der Maxime vom ökonomischen Wachstum. Aus aller Münder schallt es: "Wir brauchen mehr Wirtschaftswachstum." Nehmen wir als Exempel den Traum der Automobilindustrie von der Motorisierung der bislang unterentwickelten Länder. Allein die Vorstellung, es könnte etwa in China ein Motorisierungsgrad wie in Deutschland erreicht werden, muss jedem, der nur ein bisschen ökologischen Verstand besitzt, den Angstschweiß auf die Stirn treiben. Die wahnwitzige deutsche Automobilrate (ein Auto pro zwei Bürger, Tendenz weiter steigend) auf China übertragen, hieße: Die globalen Ressourcen müssten 650 Millionen zusätzliche Verbrennungskraftwerke auf Rädern aushalten. Das wäre grob eine Verdoppelung des derzeitigen Weltbestandes von rund 750 Millionen Fahrzeugen.

Bald 2,5 Milliarden Autos?

Schon heute verursachen Automotoren ein Fünftel des weltweiten CO2-Ausstoßes. Nimmt man die Produktion der Autos sowie Herstellung und Erhalt der Infrastruktur für ihren Betrieb hinzu, ist es ein Drittel. Sämtliche Entwicklungs- und Schwellenländer weisen eine eindeutige Tendenz in Richtung Automobilgesellschaft nach westlichem Vorbild auf. Deshalb soll es in 25 bis 30 Jahren nach Experten-Hochrechnung etwa 2,5 Milliarden (!) Autos auf Erden geben; so viele, wie es 100 Jahre davor Menschen gab. Das ist jede Menge vom heiß ersehnten Wachstum. Das ist aber zugleich auch blanker Irrsinn. Die totale Automobilisierung der Welt wäre eine entwicklungsgeschichtliche Sackgasse mit unübersehbar selbstmörderischer Tendenz - man betrachte allein die heutigen Auswirkungen des Wachstums aus dem 20. Jahrhundert: von der Unterwerfung unserer Landschaften und Lebensarten unter das industriell-automobile Diktat über den Raubbau an den Ressourcen bis hin zum globalen Klimawandel mit seinen Verheerungen.

Am Beispiel Auto wird deutlich, wie sehr wir uns haben in die Wachstums-Zwickmühle manövrieren lassen. Einerseits weiß man, dass noch mehr Autos weder fürs eigene Land noch für die globale Ökologie vertretbar sind. Andererseits haben wir uns wirtschaftlich von der Autoproduktion so sehr abhängig gemacht, dass bereits nur gleich bleibende Verkaufzahlen zur Krise führen. Dennoch heißt der blind verfolgte Zukunftskurs: weiter so - aber mehr, besser, schneller, billiger. Doch keines der großen Probleme der Gegenwart ist durch quantitative Ausweitung der globalen Produktion lösbar. Anarchisches Wachstum schafft im Zeitalter der Globalisierung nur immer neue Probleme, lässt obendrein alte schon im nächsten Wirtschaftszyklus wieder und schärfer wirksam werden.

"Je größer man denkt, desto beschissener sieht es aus", legt Ian McEwan in seinem jüngsten Roman einem 17-Jährigen von heute in den Mund. Der Bub hat leider Recht. Vielleicht ist das der Grund, weshalb so viele Leute (vorneweg besagte Realisten) zwar gerne von den Herausforderungen der Globalisierung schwatzen, aber gerade bei den wichtigsten Zukunftsfragen von wirklich globalem Denken und Handeln lieber nichts wissen wollen.

Andreas Pecht

Erstabdruck Anfang Januar 2006

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