Allweil wieder die Gretchen-Frage
Quergedanken Nr. 29
Es gibt unter den Lesern meines Geschreibsels einige ältere Damen. Die sind nett, soweit sich das aus der zeitweiligen Korrespondenz ersehen lässt. Oft waren ihre Zuschriften voll des Lobes. Bei einer Sache allerdings entwickelten meine Lieben eine nachgerade zudringliche Fürsorglichkeit: Sie sorgten sich um mein Seelenheil. Was ich mir verbat. Vergeblich. Die Ladies mochten partout nicht einsehen, dass Religion eine private Sache zwischen mir und den Göttern ist. Weshalb sie, wie das Gretchen im „Faust“, stets die inquisitorische Frage aufwarfen: Wie hälst du’s mit der Religion?
Freund Walter schüttelte nur den Kopf, wenn ich missionarisch bemühte Briefe in aller Ernsthaftigkeit beantwortete. „Lass es“, sagte er, „für deine rechtgläubigen Freundinnen hat die Welt quasi von Natur aus christlich zu sein.“ Walters Einwurf endete stets: „Diese Leute glauben!“ Was heißen sollte: Vernunft hat da keine Chance. Nach etlichen Briefwechseln musste ich ihm Recht geben: Die Damen und ich, wir konnten uns nicht verständigen. Für sie waren nur Christenmenschen Rechtgläubige, Andersgläubige bloß verirrte Schafe, Gottlose schlicht bemitleidenswerte Kranke.
Jeder muss seinen Weg gehen, argumentierte ich, weshalb es ein großes Glück sei, dass ein religionsneutraler Staat jedem das Recht darauf garantiere und obendrein im Inland verhindere, dass die Religionen wieder aufeinander einschlagen. Sprach ich so, konnten die Damen fuchsig werden: Deutschland sei Christenland, der Staat ein Christenstaat, alles andere Ausdruck von Gottlosigkeit. Aber, was ist mit den hiesigen Juden, Muslimen, Buddhisten…? „Die sind Gäste.“ Wenn es sich doch um deutsche Staatsbürger handelt? „Tut nichts zur Sache, Deutschland ist christlich.“ Und was, bitteschön, ist mit mir und jenem Drittel der Bevölkerung, das gar keiner Religion angehört? „Wir beten, dass sie den Weg zu Gott finden.“ Basta.
Da bekam ich eine Ahnung davon, wie Gottesgerichte und Religionskriege entstehen: Aus der unerschütterlichen Gewissheit, dass der eigene Glaube die einzige Wahrheit sein darf, und keiner ein (guter) Mensch sein kann, der nicht glaubt. Glücklicherweise gibt es im Freundeskreis aufgeklärte Christen, Muslime und sonstwie Gläubige, die völlig anders denken. Gäbe es die nicht, es möchte dem Atheisten mulmig werden. Sollten wir das Prinzip der Religionsfreiheit missverstanden haben? Schließt die Religionsfreiheit etwa das Recht auf Gottlosigkeit aus? Der Blick in die aktuelle Welt legt solchen Verdacht nahe. Fast entsteht der Eindruck, die Gottlosen verbergen ihre Gottlosigkeit, weil die übrige Menschheit sich neuerdings einen Wettbewerb in vermeintlicher Gottgefälligkeit liefert.
Hallo, ihr Agnostiker und Atheisten: Hoch den Kopf! Nur weil ihr statt des Bekenntnisses „ich glaube“ die Gewissheit „ich weiß nicht“ im Herzen tragt, seid ihr keineswegs Schlechtmenschen. Immerhin entspringt eure Sittlichkeit weder Furcht noch Heilsversprechen, sondern freiem Willen zu vernünftigem Handeln. Das ist viel anstrengender als durch Blitzschlag bekehrt zu werden oder ein ungefragt in die Wiege gelegtes Glaubensbekenntnis wie eine zweite Haut zu tragen. Lasst sie über eure Gottlosigkeit schimpfen und spotten. Wir streiten derweil um echte Religionsfreiheit, für alle. Die wir auch für uns in Anspruch nehmen, ebenso das Recht des Spötters. Denn Spott gehört zur Meinungsfreiheit. Und wo Spott nicht mehr möglich, wird auch Kunst unmöglich. Weshalb die Gottlosen wie die Gottesfürchtigen ihn ertragen müssen, andernfalls wäre es aus mit Meinungs-, Kunst- und schließlich auch Religionsfreiheit.
Walter klopft mir auf die Schulter: „Geht doch. Immer Butter bei die Fisch! Aber wolltest du nicht noch über ein paar andere Glaubensfragen schreiben?“ Wollte ich. Etwa über den Aberglauben, dass wirksamer Klimaschutz ohne Selbstbeschränkung möglich sei. Oder über den Irrglauben, dass der Mittelrhein seinen Welterbestatus behält, auch wenn Koblenz die Buga-Seilbahn nicht wieder abbauen sollte. Doch es reicht für heute mit der Religion. Wer nun beten mag, der bete. Ich bleibe beim mühseligen Geschäft mit den Tatsachen und den zu beweisenden Hypothesen. Wäre schön, man trifft sich nachher beim Leben und Lebenlassen wieder. Toleranz nennt sich das, und ist als Vernunftgebot (noch) Grundlage dieser Republik. Gott sei Dank.