Die alten Literaten und das Leben

Quergedanken Nr. 19

Das war ein Schock, als der Sommer vom heißesten Juli seit Beginn der Wetteraufzeichnung in die kälteste erste Augusthälfte seit Menschengedenken umschlug. Vor wie nach griff das Wetter gehörig ins Leben hinein, und wieder war des einen Lust des andern Plag: Sonnenglück hie, Hitzequal da; angenehme Kühle für diesen, Herbsttristesse für jenen. Man muss von Glück sagen, dass der Homo sapiens das Tageswetter nicht beeinflussen kann. Könnte er´s, zu allen bekannten Kriegsanlässen gesellten sich Mord und Totschlag des Wetters wegen. Kommt noch. Zu negativ? Der Mensch sei klüger? Wäre schön. Doch lässt  die Sache mit dem Klimawandel eher vermuten, dass unsere Spezies dümmer ist, als die galaktische Polizei erlaubt. Anders lässt sich kaum erklären, dass dieses Jahr erneut sämtliche Rekorde globaler CO2-Emission gebrochen werden.

Das Sommerwetter 06 gab jedenfalls Schlagzeilen und Gesprächsstoff in solcher Fülle her,  man hätte damit das postfußballerische Sommerloch auch ohne Krieg in Nahost und daraus folgender Verhedderung der politischen Lager in Deutschland stopfen können. Verhedderung? SPD-Chef und CDU-Verteidigungsminister für deutsche Truppen im Libanon. CSU-Stoiber, SPD-Linke und Linkspartei dagegen. Die Kanzlerin sowohl als auch, die Grünen vielleicht. Und der Papst betet für Frieden. Ähnlich, wenn auch nicht in gleichem Ausmaße verworren, verhielt es sich neulich in Koblenz mit dem Versuch, künftig mehr Beigeordnete an die Stadtspitze zu bestallen. Ausgeheckt hatte den Plan einige (wenige) Polit-Granden der großen Parteien, vom Tisch geputzt wurde er durch eine supergroße Koalition aus anderen Größen derselben Parteien plus Fußvolk, kleineren Gruppierungen und öffentlicher Meinung.

„Rinks und lechts“ waren schon für den großen Dichter Ernst Jandl leicht zu verwechselnde Zwillinge. Und seit die meisten Parteien sich dem Pragmatismus verschrieben haben – will sagen: dem nachlaufenden Reagieren auf alle Lebensbereiche durchwuchernden Kapitalismus –, seither sind politische Grundsätze geschwätzige Leerstellen geworden, gibt es humanistische Werte bloß noch als religiöse und „sozialromantische“ Nostalgie. Da trifft es hart, wenn einer, den man immer für einen aufrechten, aufklärerischen, republikanischen Fels erst im Restaurationssumpf-, dann in der Beliebigkeitsflut gehalten hat, wenn so ein Günter Grass sich plötzlich als Vertuscher für ihn unangenehmer Wahrheit erweist.

Ach Günter, wenn du doch beizeiten geredet hättest wie du jetzt in deiner Autobiografie so schön, so wägend, so zweifelnd, so nachfühlbar und so lebenssaftig schreibst. Nicht, dass der 17-jährige Bub in den letzten Kriegstagen blindbegeistert sich in Hitlers schwarze Bataillone einreihte, schmerzt. Es ist dein dummes  Schweigen über diese Kriegsumstände durch ein ganzes aufmerksames Leben und ein ganzes kluges Lebenswerk hindurch, das einen die Hände ringen lässt. Denn: Jetzt beißen die Hunde wieder, wollen für nichtig erklären jeden kritischen Satz, den der Grass über dies Land und dessen Leute von sich gab. Oskar, die Unke, die Schnecke, die Rättin, Fonti: Ihre Einwürfe verlieren an Gewicht, weil ihr Erfinder vom eitel verfälschten Selbstbild nicht lassen mochte.  

Arm das Land, das Helden braucht – heißt es beim alten Bert Brecht, der jetzt zum 50. Todestag doch noch recht ordentlich zu berechtigten (!) Ehren kam. Diese Einsicht  entschuldigt nicht  das Versteckspiel des Günter Grass. Allerdings stellt sie unsere eigene  Enttäuschung über den Literaturnobelpreisträger unter Vorbehalt. Der Lichtgestalt Schwachheit macht den Fans weiche Knie; mancher wendet sich nun ab vom vorherigen Gegenstand seiner Verehrung. Es fehlt eben noch immer allerhand bis zum Kantschen „Auszug aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“.

„Geht es auch weniger pathetisch?“ Freund Walter zieht die linke Augenbraue weit hinauf in die unwillig gerunzelte Stirn. Ei freilich. Sowieso hätte ich  lieber über die größte Passion älterer Männer gesprochen. Wie Martin Walser in „Angstblüte“ einen 70-Jährigen mit einer 30-Jährigen ins Liebesnest fantasiert. Wie Philip Roth seinen namenlosen Senior im Roman „Jedermann“ an den Unvermeidlichkeiten des alternden Leibes verzweifeln lässt, und im sehnsüchtigen Rückblick den Walser in Sachen Sexappeal deklassiert. Wie Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ seinen jugendlichen Günter nahrungshungrig, kunsthungrig, vor allem aber frauenhungrig durch Deutschland treibt. Drei reife Meister der Sprache erinnern sich in neuen Büchern an Leben und Träume – darin das Weib, das ewig lockende, allfällig die erste Geige spielt. So viel Begehren, noch immer. Nehmt´s als Kompliment, Ihr Damen. 

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