Gretchenfrage: Wie hältst du es mit Weihnachten?
Monatskolumne "Quergedanken" Nr. 177
Doch ja, ich mag Traditionen. Ein paar zumindest. Am liebsten jene, die alle Jahre wieder gute Laune, gemütliche Plauderrunden nebst ordentlich Speis‘ und Trank in die Bude bringen. Und bei denen ich sicher sein kann, dass sie auch diesmal so angenehm ablaufen wie in vielen Vorjahren. Weshalb ich nicht begreife, warum manche Leute und Familien stets aufs Neue versuchen, Weihnachten, Ostern, Silvester, Kirmes etc. zu feiern. Denn es gibt da reichlich Zeitgenossen, bei denen alljährlich außer Stress, Muffigkeit, gar Zankerei wenig rumkommt. Soziologisch ist das ein altbekanntes Phänomen: Nirgends wird mehr gestritten als bei familiären Festen und unterm Weihnachtsbaum.
Freund Walter teilt meine Vorliebe für Traditionsfeiern nicht. Er behauptet, nur ein einziges Volksfest zu mögen. Das sei Karneval, weil da die Sitten des Turtelns zwischen den Geschlechtern weniger verkrampft ausfielen und er es unbeanstandet genießen dürfe, sich von wuschigen Narrhallesinnen erobern zu lassen. Doch hockt er stets bei uns am Festtagstisch, wann immer Essen, Trinken, Plaudern angesagt sind. Da verdrückt er etwa am Weihnachtsabend vergnügt mein seit ewigen Zeiten stets gleiches Festessen aus ganzem Truthahn mit Knödeln und Rotkraut. Anbei lästert er über die Verwachsungen unseres geschmückten Tannenbaums aus nachbarlichem Halbwildwuchs und amüsiert er sich über meinen Schwips, der während dreier Stunden am Herd infolge besorgten Prüfens der Temperierung von Wein und Weihnachtsbockbier zufällig über mich kommt.
Das sind seit Jahrzehnten feste Rituale, deren beruhigender Reiz von ihrer Absehbarkeit rührt. Ambitionierte Überraschungen, gar Änderungen des Speiseplans oder Neuerungen etwa durch Weglassen des Tannenbaums – solche Initiativen stießen allemal reihum auf Protest. Was auch für die Geschenke gilt: Das waren und bleiben Kleinigkeiten. Vor Jahren hatte sich Walter mal mokiert: „Wie kannst du als eingefleischter Atheist nur so viel Freude an diesen christlichen Festen haben?“ Damals verpasste ich ihm jene Belehrung, die der Leserschaft dieser Kolumne bekannt ist, weil hier wiederholt vorgetragen: Fast sämtliche christlichen Feste haben Brauchtumsvorläufer in lange vorchristlicher Zeit.
Weihnachten etwa wird seit mindestens 5000 Jahren begangen, weil die „geweihte Nacht“ oder auch die „rauhe Nacht“ eben die längste des Jahres ist, Wintersonnwende. Tannenbaum und Lichterkranz sind ebenso vorchristlichen Ursprungs wie Osterhase und Eier oder der Rutenstreich des Nikolaus. Letzterer wurde ursprünglich zwischen die Beine junger Frauen und Männer geführt – auf dass sie sich eifrig miteinander vergnügen und fruchtbar seien. Selbst für den Laternenzug oder Martinszug lassen sich vorchristliche Ursprünge finden, gleichermaßen für Weihnachtsmärkte oder Fastnacht.
Weshalb es völlig in Ordnung geht, wenn auch Nichtdeutsche, Andersgläubige oder das religionslose gute Drittel der Bevölkerung diese Feste feiern. Denn es sind Traditionen unserer Landschaft – die keltische, germanische, römische, christliche Elemente miteinander verschmolzen haben. Was mich um diese Traditionen derzeit am meisten besorgt macht, ist ihre Totalkommerzialisierung. An die Stelle von Besinnlichkeit und Behaglichkeit tritt immer noch mehr das Geschrei „Kaufen, kaufen, kaufen!“. Walter hält stoisch-trotzig dagegen: „Du machst doch hoffentlich wieder deinen Truthahn?!“ Ei sicher dat.