Die Menschheit am Scheideweg

Neujahrsessay 2020: Vom Klimawandel und seinen Leugnern/Verharmlosern

ape. Seit den 1960ern hängt über dem Homo sapiens ein Damoklesschwert, wie es in der gesamten vorherigen Menschheitsgeschichte noch keines gab: die völlige Selbstvernichtung. Von eigener Hand hat er die Mittel geschaffen, seine ganze Spezies per Knopfdruck binnen Minuten vom Antlitz der Erde zu tilgen – und mit sich selbst auch alles übrige auszurotten, was auf dem Planeten kreucht und fleucht. Wir haben diese Bedrohung inzwischen weitgehend aus unserem Kopf verdrängt, weil den Mächtigen über sechs Jahrzehnte immerhin so viel Vernunft geblieben ist, dieses perfideste Produkt menschlichen Erfindergeistes nicht zum Einsatz zu bringen. Gleichwohl existiert das Potenzial des atomaren Overkills noch immer und liegen die Knöpfe zu dessen Entfesselung heute teils in Händen von Leuten, an deren Vernunft es wachsende Zweifel gibt.

Nun kommt in jüngerer Zeit eine weitere vom modernen Menschen selbst erzeugte Bedrohung planetaren Ausmaßes allmählich zu Bewusstsein: der Klimawandel. In seinen potenziellen Wirkungen wäre er nicht ganz so dramatisch wie die Folgen eines Atomkrieges. Denn ließe man ihm ungebremsten Lauf, würde sich binnen weniger Jahrzehnte zwar das Antlitz der Erde mitsamt Lebensbedingungen für Flora, Fauna, Mensch grundlegend verändern. Doch immerhin würde der Planet nicht rundum sterilisiert – das Leben ginge weiter. Es hätte allerdings mit der Lebensart nur noch wenig gemein, die unter dem relativ stabilen gemäßigten Klima seit Ende der letzten großen Eiszeit vor 12 000 Jahren herangewachsen ist.

Um es aufs Heute und das nächstliegende Morgen zuzuspitzen: Eine Erhöhung der globalen Durchschnittstemperatur um vier Grad hätte zur Folge, dass ein beträchtlicher Teil der besiedelten und bewirtschafteten irdischen Landfläche unbewohnbar wird – einerseits vom Meer überflutet, andererseits in Wüste verwandelt. Der Homo sapiens würde, vorerst, wohl nicht aussterben, aber seine Zivilisation in der gewohnten Art auch nicht mehr fortexistieren können. Sie würde sich in einer Epoche des Kampfes um Wasser, Siedlungsraum, Ackerland und gegen einige Milliarden Klimaflüchtlinge barbarisieren. So die Schlussfolgerung aus den aktuellen Forschungständen ernsthafter Klimawissenschaft und mit ihr verbundener Disziplinen.

Unzählige Messreihen und systematische Beobachtungen in allen Ecken des Planeten, Grabungen, Bohrungen, Berechnungen, historische Vergleiche, durchgeführt von unzähligen renommierten Wissenschaftlern und Instituten der Klimawissenschaft, der Meteorologie, Ozeanographie, Biologie, Geologie, Glaziologie (Gletscherforschung), ergänzt um Erkenntnisse etwa aus Paläentologie,  Anthropologie, Astrophysik….  kommen zum im Grundsatz gleichen Ergebnis: Der Klimawandel läuft, er ist nach Ausmaß und Geschwindigkeit menschengemacht, seine Entwicklung steht unübersehbar in direktem Zusammenhang mit dem signifikant zunehmenden Eintrag von zivilisatorisch verursachtem CO2 in die irdische Atmosphäre seit Beginn des Industriezeitalters und dessen explosionsartigem Anwachsen im Laufe des 20. Jahrhunderts.

Der gelegentlich zu hörende Einwand, CO2 habe doch nur einen lächerlich kleinen Anteil von 0,04% an der Atmosphäre, ist völlig belanglos: Es kommt auf die klimatologische Wirkmächtigkeit des Spurengases an. Und die ist im Hinblick auf den Treibhauseffekt beträchtlich, sobald die natürliche Balance von CO2 aus den Fugen gerät. Gerade weil sein Anteil an der Atmosphäre relativ gering ist, sind die Folgen des Eintrags künstlich entstandener Zusatzmengen von CO2 umso gravierender. Und die sind seit 1900 von weniger als einer Milliarde Tonnen pro Jahr auf inzwischen weit mehr als zehn Milliarden Tonnen jährlich angestiegen.

Unklar und bisweilen noch strittig ist in der Welt ernsthafter Wissenschaft derzeit eigentlich nur: Wie schnell verändert sich das Weltklima und welche Formen respektive Ausmaße nimmt der Wandel mitsamt des ihn begleitenden Wetterchaos‘ an – insbesondere sobald er diesen oder jenen „Tipping-Point“ erreicht? Wenn also die Erderwärmung etwa die großen Meeresströme umleitet oder zum Erliegen bringt. Wenn sie den Jetstream in der Hochatmosphäre destabilisiert. Wenn sie den Permafrostboden Sibiriens und Kanadas auftaut und so Unmengen von dort seit jahrzehntausenden gebundenem Methan freisetzt, das noch wesentlich stärker als CO2 klimaverändernd wirkt. Oder wenn die Erderwärmung arktische wie inzwischen auch antarktische Eismassen immer schneller abschmilzt und sich stetig Kubikkilometer von Süßwasser in die Ozeane ergießen. Jüngste Forschungen legen den Schluss nahe: Die Prognosen des Weltklimarates IPCC, die dem Pariser Klimaabkommen von 2015 zugrunde liegen, greifen zu kurz. Die Veränderungen kommen schneller und fallen schon kurz- bis mittelfristig brachialer aus, als vor fünf Jahren noch angenommen.

Es gibt indes einen Umstand, der unseren Umgang mit dieser Bedrohung sehr schwierig macht. Nach den Maßstäben der Natur vollzieht sich der jetzige Klimawandel in rasender Geschwindigkeit. Denn abgesehen von Sonderfällen wie gewaltigen Meteoreinschlägen oder Vulkanausbrüchen, erstreckten sich alle großen Umstellungsprozesse des Platenenklimas in der bisherigen Erdgeschichte über jeweils mehrere tausend Jahre. Im aktuellen Fall aber sprechen wir von einem seit Beginn der Industrialisierung im späten 18. Jahrhundert nur rund 300 Jahre dauernden Prozess, bis das Weltklima sich grundlegend verändert hat. Und im Unterschied zu kleineren, vorübergehenden Klimaschwankungen während der letzten Jahrtausende bleibt es dann auch für sehr viele Generationen verändert.    

Aus der subjektiven Perspektive eines kurzen Menschenlebens allerdings, ist der jetzige Klimawandel – zumal in den gemäßigten Breiten – ein schleichender Prozess, der bislang im Schneckentempo  voranzuschreiten schien. Dieser Umstand öffnet einem uralten menschlichen Verhaltensmuster Tür und Tor, das sich etwa in dem Sprichwort niederschlägt „Es wird nichts so heiß gegessen wie gekocht“: Ist man an bestimmte, womöglich halbwegs angenehme Lebensumständen gewöhnt, werden Warnungen vor aufkommender oder künftiger Bedrohung derselben nur zu gerne ignoriert, heruntergespielt oder ganz in den Wind geschlagen.

Mehr noch: Solange sich die Bedrohung im eigenen Alltag nicht wirklich handfest existenziell bemerkbar macht, sucht und (er)findet man Argumente, um ihr Vorhandensein generell zu leugnen oder zu verniedlichen. Und noch mehr: Selbst wenn die Bedrohung bereits Wirkspuren in die Realität eingräbt, wenn es sozusagen aus dem Dachstuhl des Hauses schon qualmt, wird die Feuerwehr nicht gerufen – aus Sorge, deren Löschmitteleinsatz könne die liebgewonnene Wohnzimmereinrichtung in Mitleidenschaft ziehen und die Werkstatt nebenan schädigen.

Wie so oft werden die Warner, die Überbringer von Hiobsbotschaften, diejenigen, die vorab auf effektiven Brandschutz, auf Umbaumaßnahmen oder Änderung der Gebäudenutzung pochen und schließlich zum massiven Feuerwehreinsatz drängen, am meisten gescholten, gar als Hysteriker abgetan. Im Falle Klimawandel bekommen das derzeit die im Hauptberuf mit Klimaforschung befassten Wissenschaftler weltweit und alle jene zu spüren, deren Forderung nach durchgreifendem Klimaschutz sich auf die Wissenschaft stützt.

Seit Charles Darwin der Menschheit eine totale Umwälzung ihrer Vorstellung von biologischer Entwicklung und Menschwerdung zumutete, ist wohl kein grundlegendes wissenschaftliches Forschungsergebnis von einem Teil der Öffentlichkeit derart verbissen angezweifelt und angefeindet worden, wie zurzeit dasjenige vom menschengemachten Klimawandel. Diese Reaktion ist zwar reine Unvernunft, aber durchaus begreiflich. Bedeutet doch die Anerkennung einer von Menschen verursachten Klimaumstellung zugleich, dass deren Ausmaß ebenfalls vom Menschen beeinflusst werden kann – wenn wir denn, wie es UN-Generalsekretär Antonio Guterres unlängst in Madrid formulierte, „unsere Lebensweise grundsätzlich ändern“.

Die Aussicht aber, eventuell nicht mehr so weiter leben, weiter wirtschaften, weiter regieren zu können wie bisher, stürzt viele Zeitgenossen geradezu in Panik; darunter auch Wirtschaftsführer, politische Parteien, ja Staatspräsidenten und ganze Regierungen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, sprechen diese nun erbost jenen das Misstrauen aus, denen sie gestern noch vertraut hatten und Beifall geklatscht für großartige Entdeckungen im irdischen wie universellen Mikro- und Makrokosmos: den Wissenschaftlern. Statt sich jedoch deren Forschungsdaten und Erkenntnisse über die reale Klimaentwicklung zu eigen zu machen, hängt man sich lieber an gewagte Theorien bis hin zu grotesken Mutmaßungen einiger weniger Leute, wonach es den Klimawandel gar nicht gäbe.

Nun ist in letzter Zeit die radikale Klimawandelleugnung doch ziemlich aus der Mode gekommen. Deren Vertreter sind – unter dem erdrückenden Gewicht mittlerweile nicht mehr ignorierbarer Realphänomene des Klimawandels weltweit sowie vor der eigenen Haustür –  umgeschwenkt auf die Theorie: der Wandel sei nicht menschlichen, sondern natürlichen Ursprungs; er rühre von Sonnenaktivität oder Strahlungen aus dem Weltall oder sich verändernder Neigung der Erdachse. Der zivilisatorische CO2-Ausstoß jedenfalls habe, so ihr Credo, darauf keinerlei Einfluss. Damit wäre die Menschheit zwar fein raus aus der Verantwortung für den von ihr dominierten Planeten. Doch bleibt die Theorie am Ende eben nur Theorie respektive Mutmaßung, Glaubenssatz oder Spintisiererei. Denn beweisen lässt sie sich nicht, und Geschwindigkeit wie Ausmaß des aktuellen Klimawandels sind damit ebenfalls nicht erklärbar.   

Eine andere verbreitete Variante des Verdrängens ist: Die Existenz des menschengemachten Klimawandels zwar zu akzeptieren, aber nur als eines unter den vielen sozialen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, geopolitischen Problemen, die „mit Bedacht langfristig gelöst werden“ sollen. Und das vor allem, „ohne die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft zu beschneiden“ und „den Wohlstand im Land zu gefährden“. Diese scheinbar pragmatische Denkart zeugt indes davon, dass weder die Dimension des Klimawandels noch die Dringlichkeit einer schnellen, umfassenden Klimaschutzwende begriffen sind: Der Klimawandel ist das Hyperproblem unserer Epoche, er überspannt alle anderen Probleme und wird diese letztlich auch über jedes vertraute Maß hinaus verschärfen.  

Business as usual betreiben zu wollen, im Grunde alles beim Gewohnten zu belassen, mit bestenfalls ein paar kleinen Änderungen, das ist der Vater des Verharmlosungsdenkens. Seine Mutter ist: Unverändert dem Dogma von der vermeintlich steten Glückszunahme durch Vermehrung des materiellen Reichtums und also vom ewigen Wirtschaftwachstum folgen zu wollen. Im Hinblick auf den Klimawandel hat beides zu einer Form von verdrängender Apathie geführt, der es zu verdanken ist, dass über Jahrzehnte die dringlicher werdenden Warnungen der Wissenschaft in Politik, Wirtschaft und weiten Teilen der Gesellschaft ungehört blieben. Mit der unangenehmen Folge: Jetzt müsste sehr schnell sehr wirksam an allen dem Klimaschutz dienlichen Schrauben und Schräubchen gleichzeitig gedreht werden – und müsste der Umstieg auf nachhaltige Lebensweise, so er denn noch eine dämpfende Wirkung auf den Klimawandel haben soll, mit schier ruppiger Plötzlichkeit erfolgen.

Vor diesem Hintergrund ist es einer der absurdesten Züge unserer Gegenwart, dass statt des Klimawandels vielfach Klimaschützer und Klimaschutz als eigentliches Übel verfemt werden. Gewiss, das ist bequem, man kann guten Gewissens die Augen davor verschließen, dass die Menschheit am Scheideweg steht: Beschreiten wir rasch den Pfad hin zu einer neuen Art von Zivilisation im Einklang mit der Natur oder rutschen wir von einem Jahrzehnt zum nächsten mehr in Umweltbedingungen hinein, die schließlich von Zivilisation nur einen Schrumpfbestand aus Not, Krieg, Flucht übriglassen? Zugegeben, dieses Szenario strapaziert unser Realitätsempfinden arg, denn es erinnert an Fantasy- und Science-Fiction-Filme. Doch leider: Es ist das, was schon zu Lebzeiten heutiger Kinder und Jugendlicher real eintreten wird, wenn wir zulassen, dass die globale Durchschnittstemperatur um drei, vier oder mehr Grad steigt. Wegschauen nützt nichts.      

Andreas Pecht

Archiv-chronologisch: