Die dunkelste Seite unseres Erbes

Review: Leitartikel aus dem Jahr 2005 zur Auschwitz-Befreiung

Anno 2005 hatte ich anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung des KZ Auschwitz einen Leitartikel geschrieben, der am 27.1.2005 in der Rhein-Zeitung publiziert wurde. Wie schon vor 15 Jahren und davor, so gibt es auch heute und wieder vermehrt Leute und Kräfte in der deutschen Gesellschaft, die unter der Parole "Irgendwann muss doch mal Schluss sein damit!" eine Beendigung dieses "unsäglichen Schuldkultes" verlangen. Nicht zuletzt darauf geht der Leitartikel mit dem Ergebnis ein, dass die Erinnerung an den Holocaust als dunkelste Seite der deutschen Geschichte NIEMALS enden könne und dürfe.

Text meines Leitartikels vom 27. Januar 2005:

ape. Heute vor 60 Jahren, am 27. Januar 1945, befreiten Sowjettruppen die letzten Überlebenden des KZ Auschwitz. Mit dem ersten Blick des ersten Rotarmisten auf das Schreckliche offenbarte sich der Welt nicht eines, sondern DAS bis dahin fürchterlichste der an Verbrechen so reichen Menschheitsgeschichte. Leid lässt sich nicht gegen Leid aufrechnen: Für die betroffenen Individuen sind Schmerz und Tod gleich, ob im Vernichtungslager der Nazis, in irgendeinem Schützengraben oder unter dem Bombenhagel alliierter Flieger erlitten.

Doch in der schier unfassbaren Summe der Einzelschicksale wird vor dem Auge der Völker und der Geschichte das Singuläre, das nach Umfang und Art Einmalige des Holocaust sichtbar: Das seinerzeit modernste, technisch fortgeschrittenste, am besten organisierte Land Europas hatte kühl kalkuliert eine militärisch-industrielle Großmaschinerie des Mordens in Gang gesetzt. Produktionsziel: die physische Auslöschung des Judentums; nebst Beseitigung von Sinti und Roma, Behinderten, Homosexuellen und Oppositionellen.
 
Mehr als sechs Millionen Opfer gingen am Ende auf das Konto dieses Verfahrens - totgeschlagen, erschossen, aufgehängt, vergast ... beim Vollzug eines erklärten Staatszieles. Ein unsagbares, mit nichts zu vergleichendes Verbrechen gegen alle Grundlagen menschlicher Gemeinschaft, eine bewusste, gewollte Aushebelung aller Moralität, begangen im Namen Deutschlands und von Deutschen.

60 Jahre sind für den Einzelnen eine lange Zeit. Das Sehnen nach Vergessen, die Neigung zum Verdrängen greifen um sich. "Einmal muss doch Schluss sein mit dem Erinnern an das Furchtbare, einmal muss doch wieder Normalität eintreten", heißt es. Ein verständlicher Wunsch, vor allem für Nachgeborene, denen weder Täterschaft noch Duldung durch Schweigen oder Nichtwissenwollen anzulasten sind. Doch der Wunsch bleibt unerfüllbar, weil der Holocaust unauslöschbar und auf alle Zeit ins Erbe der Menschheit sowie auf besondere Weise ins nationale Erbe des Verursachers Deutschland eingegraben ist.

Undenkbar, dass nachfolgende Generationen Deutscher sich auf eine große Nationalgeschichte als Land der Dichter und Denker berufen, die Kehrseite der Medaille aber ausblenden. Zu Luther und Kant, Beethoven und Goethe haben sich Hitler, Goebbels und Heydrich gesellt. Das Erbe nämlich ist unteilbar, und Normalität kann nur aus der Anerkennung dieses Faktums und der damit verbundenen besonderen Verantwortung erwachsen - heute, morgen und übermorgen noch immer. Denn unbeantwortet bleibt nach wie vor die Frage, die Elie Wiesel am Montag vor der ersten Sondervollversammlung der UNO zum Gedenken an Auschwitz aufwarf: Wie konnte es sein, dass Deutsche Kinder und Greise schlachteten und danach wieder Gedichte von Schiller lasen oder Musik von Bach hörten?

Das nationale und kulturelle Erbe zu pflegen und zu erweitern, ist eine Generationen übergreifende und Generationen beeinflussende Daueraufgabe. Das gilt auch und erst recht für dessen finsterste Seite. Die müssen wir fortdauernd unter die Lupe nehmen - um das Bewusstsein wach zu halten, wie dünn die Zivilisationskruste ist; um Neuauflagen des Schrecklichen zu verhindern. Um schließlich neonazistischen Rattenfängern couragiert und mit den historischen Tatsachen als Werkzeug das Wasser abzugraben. Diese Alltagspflicht ist 60 Jahre danach alles andere als erledigt.

Andreas Pecht

Archiv-chronologisch: