Mit J.S. Bach durch die kalte Großstadtnacht

tanzmainz zeigt „Sehnsucht, limited edition” von Koen Augustijnen

ape. Mainz. Schmutzig-weiß gekachelte Wände. Daran ein paar grüne Plastiksitze. Ein Besoffener torkelt umher. Eine Frau im Trenchcoat schaut unsicher herüber, ein Mann in Jeans und Schlabberjacket angewidert. In dieser tristen U-Bahn-Station sitzt im Eck ein Musikant mit seinem Akkordeon. Was spielt er? Johann Sebastian Bach, Goldberg-Variationen; meisterlich, es klingt sonderbar und wunderbar zugleich. So beginnt am Staatstheater Mainz die erste Premiere der Tanzsparte in der neuen Spielzeit. „Sehnsucht, limited edition” sind die 75 Minuten packenden Tanztheaters überschrieben.

Im Frühjahr 2014 vom belgischen Choreografen Koen Augustijnen fürs Theater Oldenburg geschaffen, gehört das Stück noch zu den Mitbringseln der neuen Mainzer Intendanz von ihrer vorherigen Wirkungsstätte. Was seinen beträchtlichen Qualitäten keinen Abbruch tut. Vier Tänzerinnen und zwei Tänzer schlüpfen in die Rollen von jungen, heutigen Leuten. Sie spielen also sich selbst, begegnen einander nachts in einer Durchgangsstation des Mobilitätsnetzes der niemals zur Ruhe kommenden Großstadt.

Der Betrunkene wird erster Angelpunkt ihrer Begegnung. Sein hilfloses Herumstolpern im Rausch durchbricht die gleichgültige Vereinzelung, mit der man sich im urbanen Netz zu bewegen pflegt. Die Reaktionen auf ihn sind so verschieden wie die bald peu à peu enthüllten Sehnsüchte jedes Einzelnen: Wegschauen hier, Helfenwollen da, Angiften dort. Der andere, der nüchterne und starke Mann (Ruben Albelda Giner) reißt voller Verachtung den Trunkenen (Thomas van Praet) hoch, peitscht ihn unversehens in einen Männerwettstreit weit ausholender, kraftvoller Tanzpassagen.

Damit beginnt das tänzerische Faszinosum der Produktion: die frappierende Entwicklung tanzkünstlerischen Ausdrucks aus alltäglichen Bewegungsmustern; die wechselseitige Durchdringung beider; was schließlich zum Eindruck weitgehender Natürlichkeit auch des Tanzes führt. Die Kostüme von Pia Leong (auch Bühne) unterstreichen diese Wirkung: Jeans, Hemden, T-Shirts, Straßenschuhe, Jacken wie von dir und mir. Das Geschehen folgt darstellerisch und inhaltlich einem Wechselrhythmus von einerseits traurigen, melancholischen Elementen, aus denen andererseits ungeheuer wuchtige, zornige, verzweifelt explosive Momente herauswachsen; und umgekehrt.        

Da ist das Männerpaar mit dem sehnlichen Kinderwunsch, zu dem sich eine leibhaftige Tai-Chi-Gruppe mit schwebenden, tröstenden Bewegungen gesellt. Da flutet der Musikant (Philippe Thuriot) die Station plötzlich mit Tango-Rhythmen, zieht die Sechs in sinnliche Paarbildungen. Damit beginnt zugleich eine Tragödie der Eifersucht und des sich im Heute nicht mehr zurechfindenden Machismo. Dann wieder probiert Amy Josh die eigene Dankesrede für den Gewinn eines Oscars – Mädchenträume. Gleich drauf verliert sich der ambitionierte Gesang von Gili Govermann in unglücklichem Heulen und Wimmern – zerstiebende Hoffnungen auf die Superstar-Challange.

Die Gruppe getrieben durchs Wechselbad der Gefühle: Mal in wütender Rhythmik den kalten urbanen Untergrund mit Mänteln peitschend, mal sich in jugendlicher Ausgelassenheit zum turbulenten Spaß-Schwof aus Folktanz, Ballett, Pop vereinend. Im Zentrum der Sehnsüchte aller wird bald diejenige nach Nähe, Gemeinschaft, Freundschaft, Liebe erkennbar. Alessandra Corti und Bojana Mitrovic versuchen zur Erfüllung den Weg über enthemmten Sex mit sich selbst, miteinander, mit anderen. Doch die im Tanz metaphorische, schauspierlerisch teils drastische Darstellung enthüllt Vergeblichkeit: Ohne Herz bleibt auch des Leibes Erhitzung schal.

Das Stück endet, wie Bachs Musik, voller Hoffnung. Das Ensemble findet zur frohen Tanz- und Freundesgemeinschaft, verabschiedet sich dann an der Rampe stille stehend mit warmem Singen und Summen in volkstümlichem Choralton. Die Nacht in der kalten U-Bahn-Station verliert ihre Schrecken.

Andreas Pecht

 

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