Quergedanken

Quergedanken Nr. 166

ape. Da schimpfen manche über die seit den 90ern sich ausbreitenden Halloween-Bräuche als „Unsinns-Mode aus Amiland“. Oder sie wettern gegen „heidnische Umtriebe“ am Vorabend von Allerheiligen. Freund Walter grummelt: „Was willst du jetzt mit Halloween, das ist doch rum?“ Ei guck, das kommt nächstes Jahr wieder und somit auch die Meckerei – obwohl sich allmählich herumgesprochen haben sollte: Halloween stammt aus Irland, ist dort seit Jahrhunderten tief verwurzelt im katholischen Volksbrauchtum. Über das 19. Jahrhundert hatten hunderttausende irische Hungerflüchtlinge ihr traditionell recht übermütiges Geister- und Totenfest mit in die USA genommen, von wo es jüngst ins alte Europa zurückgeschwappt ist.

Und wie das so geht bei vielen unserer Festtage, seien sie vermeintlich christlichen oder neuzeitlich-weltlichen Ursprungs: Näheres Nachforschen fördert meist noch deutlich ältere Wurzeln zutage, an die sich die späteren Kulturen mit eigenen Erzählungen und Riten angehängt haben. Das gilt für Weihnachten, Ostern, Pfingsten, für St. Martin und Nikolaus, für sämtliche Lichtfeste, Erntedank- und Mittsommerfeiern, natürlich für die Fastnacht und eben auch für Halloween. Sie alle haben Vorläufer in meist jahreszeitlichen Bräuchen germanischer, keltischer oder noch älterer Bauerngesellschaften.

Walter ist genervt von Halloween. Denn er wohnt in der Stadt, wo zu Scheintoten entstellte Kindlein haufenweise herumgeistern. Die läuten ihm die Türklingel heiß, drohen „Süßes oder es gibt Saures!“. Dass juvenile Erwachsene obendrein mit trunkenem Lärmen und bisweilen recht robustem „Schabernack“ die Umgebung überziehen, macht die Sache für ihn kaum angenehmer. Mich stört das Halloween-Gedöhns nicht weiter. Die vier oder fünf kleinen Gespenster, die hier auf dem Dorf den Weg zu mir finden, tun nur Gutes: Was sie an Schokolade abstauben, kann ich mir nicht mehr auf die Wampe futtern.

Mir geht etwas anderes auf den Keks. Neuerdings gibt es mords Aufregung, wenn irgendjemand  den St. Martins-Umzug bloß Laternenzug oder gemäß dem alten Lied „Laterne, Laterne“ eben Sonne-Mond-und-Sterne-Fest nennt, den Weihnachtsmarkt Wintermarkt, oder Weihnachten auch als Mittwinter respektive „Fest der längsten Nacht“ bezeichnet. Mal davon abgesehen, dass keine dieser Begriffsvarianten sachlich falsch ist und fast jede sich ebenfalls auf uralte Gebräuche beziehen kann: All diese Traditionen werden doch in Wahrheit durch etwas ganz anderes nachhaltig  beschädigt – durch die brachiale Verwandlung jedweden Volksbrauchtums in banalste Kommerz-Events.

Da ruft ein großes Gewerbegebiet mit opulentem Werbe-Tamtam einen „St.-Martins-Markt“ aus. Und niemand regt sich auf, obwohl das nur Halligalli zum Zwecke des Verkaufens, Verkaufens, Verkaufens ist. Auch die Waren-Orgien unterm Weihnachtsbaum haben längst Ableger gebildet hin zu Silvester, Fastnacht, Ostern, zu Mutter- und Vatertag etc. Der hiesige „Markt“ wird sich auch die Waldpurgisnacht greifen, noch bevor heutige Hexenweiber das Besenreiten wieder gelernt haben. Er hatte Halloween schneller vereinnahmt, als die Kids ihre Drops lutschen können. Würde man das kürbisbeleuchtete Gespensterfest auf seine hierzulande dereinst mit ausgehöhlten Rüben begangenen Verwandten zurückführen: Die Werbewirtschaft fände gewiss sogleich einen Weg, die gute alte Runkelrübe zum Zentrum eines stylischen – umsatzsteigernden – Trends aufzumotzen.   

Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 48. Woche im November 2018

Quergedanken Nr. 165

ape. Samstag, 13. Oktober 2018, Unterwesterwald. Das Außenthermometer zeigt sommerliche 27 Grad. Rekord. Ich habe eben den Rasen gemäht; seit Mai erstmals wieder, denn zwischenzeitlich wuchs herzlich wenig. Rekord. Es war eine staubige Angelegenheit. Zehn bis zwölf Mahten über den Sommer wären normal. Aber was ist schon noch „normal“ heutzutage? Der Rasen ist ja auch kein Rasen mehr, nichtmal eine Wiese. Der übliche grün-bunte Bodenteppich hierum hat längst Züge einer Trockensteppe angenommen. Rekord. Seit August sprießen zwischen vertrocknetem Gras bloß noch ein paar mickrige Löwenzähne, Disteln und irgendwelche dünnstieligen Giegakel, denen ein Liter Regen pro Quartal offenbar genügt.

Das sieht heroben auf der Höh‘ genauso trostlos aus wie drunten im Tal die Sandbänke im Niedrigrhein und die breiten Geröllfelder an dessen Ufern. Jeder Bier trinkende Besucher des Oktoberfestes dürfte heuer an einem Tag deutlich mehr Flüssigkeit in sich hinein geschüttet haben, als die Wettergötter beispielsweise dem Mittelrhein in den letzten fünf Monaten insgesamt an Regen spendierten. Rekord. Traumsommer oder Katastrophensommer? Die Deutungen fallen naturgemäß und je nach Interessenlage unterschiedlich aus. So oder so: Jedenfalls war es ein Rekordsommer.

Sonnenanbeter und Südlandflair-Fans sind high und satt, die Anderen platt. Obstbauern und Winzer fahren Rekordernten ein. Rekorde auch – allerdings in negativer Richtung – bei Viehfutter, Getreide, Kartoffeln, Waldpilzen. Weshalb manches Nahrungsmittel bald recht teuer werden könnte. Freund Walter steuert zu den allüberall zahlreichen Unterhaltungen über den „Supersommer“ in seelenruhiger Frustriertheit die immergleiche Bemerkung bei: „Gewöhnt euch dran, denn das Unnormale wird nun zum Normalen – wie der SUV zum automobilen Standard und die regierungsamtliche Dieselpolitik zum Maßstab für den Klimaschutz. Man hat es so gewollt, also bitte: Suppe auslöffeln!“  

Mittlerweile drehen sich die Plaudereien am Gartenzaun und im Wirtshaus verstärkt um das, was nun kommen mag. Folgt auf den Supersommer ein Superwinter? Und wenn ja, wie wird dieses „super“ aussehen? Womöglich schlendern wir im T-Shirt über Weihnachtsmärkte und schlürfen geeiste Cocktails statt Glühwein. Mag sein, Gummistiefel und Regenschirm sind bis zum Hochsommerbeginn im April gefragter als Schneeschuhe, Winterjacke und Pudelmütze. Vielleicht kommt es aber auch gerade andersrum: Zur Heiligen Nacht ein Blizzard, an Silvester einen Meter Schnee und davor oder hernach vier Wochen 25 Grad minus Dauerfrost.

Professionelle Wetterfrösche sind sich diesbezüglich ebenso uneins wie die Weisheiten diverser Bauernkalender. Die höchste Wahrscheinlichkeit trifft wohl doch auf Walters Prognose zu: „Unter der stetig ansteigenden Kurve der globalen Durchschnittstemperatur wird alles Unnormale ganz normal.“ Wobei die Kategorien normal und unnormal sich als überaus schwammig erweisen, sobald  unterschiedliche Generationen um den Tisch sitzen. Für 1950er-Jahrgänge wären Schnee und Eis im Winter normal. Für nach 1990 geborene Mittelrheiner hingegen sind eher Feucht- und Grauzeiten typisch Winter – und mit etwas Schnee vermatschte Straßen der stets unerwartete, unnormale Katastrophenfall.

Wie also wird er, der Winter nach dem Rekordsommer? Walter bläst die Backen auf: „Was weiß denn ich. Schau halt aus dem Fenster, wenn‘s soweit ist. Dann siehst du klar.“          

Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 43./44. Woche im Oktober 2018

Quergedanken Nr. 164

ape. Ich könnt‘ mich kringeln. Freund Walter ist nervös. Wieder hat ein Theater ein Stück angekündigt, in dem es vermeintlich um ihn geht. Letzte Saison brachte das Theater Koblenz „Mein ziemlich seltsamer Freund Walter“ heraus, jetzt avisiert das Theater Bonn für Oktober die Uraufführung des Schauspiels „Wer ist Walter?“. Nur Zufall, versuche ich ihn zu beruhigen. Du hast halt so einen wunderbar gewöhnlichen Name, und die Kunst liebt es, das Ungewöhnliche im Allerweltsgewand aufzustöbern. Zugleich jedoch frotzeln Bekannte: „Walter, du wirst noch berühmt“. Was dessen Nervosität wieder befeuert. Denn der Freund will eines partout nicht: berühmt werden. Oft hat er mich gewarnt: „Wenn du je mein Inkognito lüftest, sind wir geschiedene Leute auf immerdar.“

Die ernste Seite an der Sache ist eben: Walter mag kein Promi, VIP oder Star sein – so sehr es heutzutage im Trend liegt, sich abzustrampeln, gar öffentlich Kakerlaken zu fressen, sich in aller Blödheit vorführen oder verkuppeln zu lassen, nur um berühmt zu werden. Walter möchte auch nicht reich werden. Er, nein: wir beide, haben so manchen erlebt, der beim Streben nach Karriere und Wohlstand vergessen hatte, zu leben. Mit 60, 50, 40 oder noch weniger Jahren fallen sie dann auf den Rücken, strecken alle Viere von sich, weil Herzkasper, Auszehrung, Nervenzerrüttung, Versagenspanik sie niederwerfen. Wir wissen, wovon wir reden. Denn auch jeder von uns beiden hatte seine irre Phase, ein paar Jahre, in denen alles dem Erklimmen jener Leiter galt, deren Stufen aus Einkommen und Ansehen deinen Wert als Mensch zu bemessen scheinen.

Wir hatten Glück, denn irgendwann konnten wir uns vom Hamsterrad des  Immermehrimmerschneller halbwegs lösen, ohne gleich am Hungertuch zu nagen. Walter war da radikaler als ich. Job-Wechsel, Stundenreduzierung, Einschränkungen, freiwilliger Abstieg von der mittleren in die untere Mittelschicht: Was er da durchzieht, ist das Abwenden von den Normidealen der kapitalistischen Moderne – zugunsten einer Lebensart, die ich freier, selbstbestimmter, freudvoller, widerständiger nennen möchte. Dabei folgt der Freund der Devise: „Auch wenn ich nur noch 20 Stunden die Woche einer Lohnarbeit nachgehe, so ist doch jede Stunde ihr Geld wert.“ Die Bescheidenheit seiner Lebensführung, sagt er, berechtige niemanden, ihn mit einem Hungerlohn abzuspeisen. Und Walter ist gut in dem, was er tut. Hätte er nicht den Ausstieg gesucht, er wäre heute vielleicht Chef von irgendwas und/oder ein Wrack – aber gewiss nicht der liebenswerte Querulant, der er geworden ist.

Die Lehre aus der Geschicht‘? Der Freund würde sagen: „Die einen werden so schlecht bezahlt, dass sie aus ihrem Kladeradatsch nicht raus können; was eine Sauerei ist. Die andern wollen den Kladeradatsch, weil sie sich damit eine Weile wohlfühlen oder ihnen nix besseres einfällt als ein Dasein im Streben nach Wohlstand und Aufstieg. Kaputt gehen heute in beiden Gruppen viele an der maßlosen Beschleunigung des Lebens und seiner Überfüllung mit wohlfeiler Leere.“ Das würde er sagen, wenn er zu diesem Thema spräche. Tut er aber nicht. „Das Belehren ist dein Geschäft“ bedeutet er mir. Doch auch ich habe erstmal nur den Rat: Leute, gebt acht auf euch. Und natürlich bleibt das Versprechen, Walters Inkognito, damit sein Menschenrecht auf Privatsphäre nebst Einfachheit und Langsamkeit zu wahren.

Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 39. Woche im September 2018

Quergedanken Nr. 163

ape. Inzwischen ist auch Freund Walter aus dem Urlaub zurück. Statt auf Korsika, war er in Portugal gelandet. Solche Richtungsänderungen kommen bei seiner Art Abenteuerreiserei vor. Dort jedoch hing er dann bei selbst für die iberische Halbinsel ungewöhnlichen 45 Hitzegraden fest – „bewegungsunfähig vor mich hin hechelnd“. So erzählt er, berichtet von vertrocknetem Land, Bränden, geplagten Portugalesen und fast bis zur Leblosigkeit trägen Urlaubern.

Kennen wir, hier daheim war‘s nicht viel anders. Wochenlang 30 bis nahezu 40 Hitzegrade, fast kein Regen; und wenn doch mal, dann lokal einige Minuten sinnloses Katastrophengeplatsche. Wiesen beigebraun, Wälder im Trockenstress, Äcker staubig, das Getreide mickrig. Die Rindviecher fressen den Futtervorrat für den nächsten Winter oder werden notgeschlachtet. Die Produktivität in Fabriken und Büros sinkt drastisch; derweil steigen mitten im Hochsommer Energieverbrauch und Krankenstände infolge Masseneinsatzes raumkühlender Klimaanlagen.

Ja, ja, ich weiß, gerade die Älteren unter uns haben allerhand extreme Wetterlagen und -ereignisse während ihrer 50 oder mehr Lebensjahre schon einmal oder wiederholt mitgemacht. Doch deren Häufung, Verschärfung und Verwandlung in schiere Normalität binnen nur einer Halbgeneration ist gefühlt und  wissenschaftlich signifikant. Wenn obendrein die Wetterfrösche heuer vermelden, die Hitzeglocke reiche bis ins hinterste Sibirien, selbst oberhalb des nördlichen Polarkreises zeige das Thermometer noch 33 Grad, dann geht das alles weit über die altgewohnte gelegentliche Cholerik der Wettergötter hinaus.

Interessiert das jemanden? Interessiert irgendjemanden, dass die Wirkungen des selbstgemachten Klimawandels nicht erst unsere Kindeskinder in 100 Jahren drangsalieren werden? Dass die Frühstadien, viel schneller als gedacht, uns schon heute spürbar bis schmerzhaft auf die Füße fallen? Dem gesprochenen und geschriebenen Geschwätz nach scheint das jeden zu beunruhigen, den Taten nach allerdings nur wenige. Das Gegenlenken erschöpft sich, angesichts der Dimension des eigentlich Nötigen, im Kleinklein und ertrinkt im Business as usual, im besinnungslosen Tanz um das goldene Wachstumskalb. Die jetzigen Generationen Erwachsener werden in die Geschichtsbücher eingehen als die Generationen der Beschwörungsformel „Wir können noch umsteuern“ bei gleichzeitiger Wildentschlossenheit zur Beibehaltung ihrer gewohnten Lebensart.

PKW und LKW werden immer mehr und größer. Geräte, Kleidung, Möbel und Co. werden immer kurzlebiger. Das Konsumrad dreht sich immer schneller. Folglich steigt und steigt Ressourcenverbrauch/-verschmutzung selbst an Luft, Wasser, Naturlandschaft - global sowieso, doch  auch regional. Jede halbherzige Klima-/Umweltschutzmaßnahme wird vom Wachstum alsbald  ausgehebelt.

„Ruhig, Alter, ruhig, du kommst in Rage“, brummt Walter. Ach, ist doch wahr: Die Ozeane ersticken in Milliarden Tonnen Plastik, wir aber feiern schon die Ankündigung der Abschaffung von Plastiktrinkhalmen als großen Sieg für die Umwelt. Derweil bringt in den Supermärkten der Verpackungswahn eine Absurdität auf die andere hervor. Und wenn der freien Welt Führungsmacht auch die Befindlichkeit irdischer Umwelt am Arsch vorbeigeht, so kümmert sie sich immerhin ums übrige Universum: Sie stellt eine Weltraumarmee auf. Mit Verlaub, der Homo sapiens hat nicht mehr alle Tassen im Schrank.

Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 34./35. Woche im August 2018

Quergedanken Nr. 162

ape. Früher gab es in manchen Gegenden diesen Brauch: Hatte jemand ein Auto gekauft, musste er für jedes Rad des Neuerwerbs am Stammtisch eine Runde schmeißen. Das ergab sechs Runden – für vier Räder, ein Ersatzrad und ein Lenkrad. Heute wär‘s billiger, weil die Hersteller ihre Autos, statt mit einem ordentlichen Ersatzrad, meist nur noch mit einem Puste-Kleb-Stopf-Notset ausstatten. Das ist der Zahn der „Moderne“: Korpus und Motor aufgemotzt wie für eine Wüstenexpedition, Technik wie für einen Flug zum Mars, doch alltagspraktisch eher gerüstet wie ein Kinderspielzeug.

Ich mag brauchtümliche Anlässe zum Feiern durchaus. Aber die besagte Räderrunden-Tradition war mir stets befremdlich. Denn Autokauf gilt mir seit jeher nicht als freudiges Ereignis, sondern nur als notwendiges Übel; als Beschaffung von verlässlichem Ersatz für die ausgelutschte vorherige Kiste. So jetzt wieder – nach fünfjähriger Vielfahrerei vom Wohnsitzbüro auf dem Land zu Einsatzorten in diversen Städten. Bahn, Bus? Kann ich hierzulande für meinen eiligen Bedarf, oft zu nachtschlafender Zeit, vergessen. Da geht nix. E-Auto? Anschaffungspreis für meinen Geldbeutel zu hoch, Reichweite für meine Zwecke (noch) zu niedrig. Weshalb ich seit einigen Wochen Besitzer eines neuen Benzin-Kleinwagens bin – und mal wieder die Welt nicht mehr verstehe.

Die Zahl der Knöpfe und Anzeigen hat sich gegenüber dem Vorgänger gleichen Namens mehr als verdoppelt. Vieles ist so überflüssig wie der Drehzahlmesser. Den habe ich noch nie auch nur mit einem Blick gewürdigt. Mit Verlaub: Wer nicht merkt/hört/spürt, dass er im falschen Gang fährt, der sollte das Fahren eh lassen. Regensensor mit Wischwasch-Automatik, Geschwindigkeitsbegrenzer, Start-Stop-Automatik mit partieller Abschaltung, Eco-Funktion mit Anzeige wieviel Gas man gibt … Dieses kleine Auto hält für den Fahrer sage und schreibe 51 Funktionsschalter bereit, das Radio-Paneel gar nicht mitgerechnet. Dazu kommen 13 Zeiger- oder Digitalanzeigen, bei denen sechs durch Knöpfchendrücken weitere Infoebenen öffnen. Gesellen sich noch Navi und Smartphone dazu, wachsen die Ablenkungspotenziale ins Unendliche.

Nehmen wir als Beispiel für viele „Fortschritte“ die Steuerung der Heizung/Lüftung, die beim Vorgänger mit drei simplen Drehschaltern und zwei Druckknöpfen blind zu handhaben war: Sie besteht jetzt aus zwölf Sensortasten, um eine Digitalmattscheibe angeordnet, die dem Nutzer anzeigt, was er mit seinem Tastengeklimper bewirkt. Das wird dann als großer Fortschritt an Komfort gepriesen. Indes: Blinde Betätigung geht nicht mehr, jetzt musst du jedesmal hinschauen – also wegschauen von der Straße.

Es galt im Straßenverkehr mal das Prinzip: Oberste Pflicht jedes Fahrzeuglenkers ist es, seine ganze Aufmerksamkeit dem Verkehr zu widmen. Die Autoindustrie verfolgt nun wohl das gegenteilige Prinzip nach der Devise: Lass du, geschätzter Autofahrer, nur Finger, Blicke, Hirnsynapsen auf dem Parkett der Nebensächlichkeiten tanzen; um Fahrsicherheit kümmern sich unsere Autos selbst. Und Teile der Werbewirtschaft tun das Ihre dazu, spicken Straßenränder und Kreuzungen mit Werbetürmen und digital belebten Plakatwänden – auf dass die Aufmerksamkeit der Autofahrer angezogen und ökonomisch optimal genutzt werde. Ich begreife zwar das profitable Geschäftsmodell hinter diesen lebensgefährlichen Trends. Was daran indes fortschrittlich sein soll, das will mir partout nicht in den Sinn.     

Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 30. Woche im Juli 2018

Quergedanken Nr. 161

ape. Plötzlich sagt Walter: „Ich bin dann mal weg.“ Von jetzt auf gleich schmeißt der Freund seine Naturburschenausrüstung ins Auto. Ein-Mann-Zelt, Schlafsack, Henkelmann, Esbitkocher, den Rucksack mit ein paar Klamotten, Geldbeutel und der Landkartenmappe drin. Wohin soll‘s gehen?, frage ich. Er: „Korsika; via Schweiz, Italien und mit der Fähre von La Spezia oder Genua aus.“ Ich: Wie lange? Er: „Mal schauen.“ Und schon ist er fort – ohne Zielbuchung, ohne Fotoapparat, Navi, Smartphone. Eine unbestimmte Zahl von Wochen hören wir nun gar nichts mehr voneinander. So haben wir es immer gehalten: Fort ist fort. Er wird irgendwann von irgendwoher eine Postkarte schicken, die erst eintrudelt, wenn er längst wieder daheim ist.

Walter war noch nicht auf Korsika, weiß nur aus meinen Erzählungen von lieblichen bis rauen Naturschönheiten und distanziert freundlichen bis raubeinigen Menschen im Hinterland. Über Strände und zentrale Sehenswürdigkeiten hatten wir nie gesprochen, sowas interessiert ihn nicht. Ob der Freund überhaupt auf der Insel ankommt, ist allerdings keineswegs ausgemacht. Er hat da so seine Eigenheiten. Vor zwei Jahren beispielsweise hatte er Katalonien als Ziel angegeben, sich dann aber wochenlang in abgelegenen Regionen Frankreichs vertändelt.

Denn im modernen Sinne fährt Walter weder in den Urlaub, noch bereist er die Welt. Er gondelt vielmehr aufs Geradewohl über Nebenstrecken von Nebenstrecken von Nebenstrecken durch die Lande – und sucht „schöne Plätze“. Das sind nach seinem Verständnis Locations, wo die Uhren  langsamer gehen, an denen auf 100 Einheimische und 1000 Hektar Landschaft nicht mehr als zwei Touristen kommen. Fragt man ihn, ob er in diesen gemeinhin als „strukturschwach“ bemitleideten Örtlichkeiten nach einem idyllischen Gestern suche, gibt es die harsche Antwort: „Kein Gestern. Ein Heute, das noch nicht mit dem Marketinglöffel barbiert wurde, um ein geschorenes Morgen zu werden!“

Hochsommer ist eigentlich keineswegs des Freundes bevorzugte Reisezeit. Doch macht er alle vier Jahre eine Ausnahme: Sobald daheim das Weltfußballfieber mit seinen eigentümlichen Symptomen um sich greift. Weshalb ich darauf wetten möchte, dass er sich jetzt ziemlich lange in der italienischen Provinz herumtreiben wird. Denn dort dürfte die Fieberwelle heuer einen deutlich gemäßigteren Verlauf nehmen als in Deutschland, der Schweiz oder Frankreich. Es ist nun mal so, dass Walter mit Fußball rein gar nichts mehr anfangen kann; mit der Sportart nicht, mit dem kommerziellen wie rituellen Drumherum erst recht nicht. Im Vergleich dazu bin ich ein richtiger Sportsmann. Will sagen: Ich kann zumindest einem guten und spannenden Spiel etwas abgewinnen – völlig egal, wer da gegen wen kickt und wer gewinnt.

Ja, ja, nur die Ruhe. Ich weiß, dass für viele Zeitgenossen meine Haltung in dieser Sache noch unbegreiflicher ist als die totale Fußballmuffelei Walters. Jeder mag das halten, wie er will. Von mir aus auch mit Fahnenschwenken, Hymnensingen, kollektiver Glückseligkeit oder womöglich  Tieftraurigkeit. Nur, bittschön, es hacke niemand auf mir rum, weil mich an der WM höchstens eines interessiert: Sport, Sport ganz allein. In diesem Sinne verabschiede ich mich mit zwei Wünschen in die Sommerpause: Möge der Freund noch einige schöne Plätze finden und am Ende vielleicht doch Korsika erreichen; möge in den WM-Stadien die jeweils besser spielende Mannschaft gewinnen.        

Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 25. Woche im Juni 2018

Quergedanken Nr. 160

ape. Freund Walter schüttelt missbilligend den Kopf: „Was soll der Käse mit dem ‚geil‘ in der Überschrift? Du bist doch nicht dazu da, dich als alter Knochen durch Anbiederung an heutige Jugendsprache zur Lachnummer zu machen. Von dir erwarte ich vielmehr, dass du die Schönheit und Vielfalt herkömmlicher Hoch- wie Volkssprache pflegst. Dass du demonstrierst, was damit hinsichtlich sprachästhetischer, sinnlicher, auch giftiger bis witziger Lebendigkeit des Ausdrucks möglich ist – gerade heute, im Zeitalter der digitalen Stotterei.“

Manchmal ist es arg mit dem Kerl. Eben spricht er auf offener Straße mit seinem strahlenden Unschuldslächeln eine wildfremde Frau an, um ihr Komplimente zu machen, wie hübsch sie aussehe in ihrem Sommerkleidchen. Das Irre ist: Statt sich für solche Unverfrorenheit eine Watschen zu fangen, wird sie ihm mit artigem bis überrascht freudigem Liebreiz gedankt. Zwei Minuten später allerdings staucht der Freund mich zusammen, weil ich einer anderen ansehnlichen Erscheinung unauffällig nachblicke. „Das ziemt sich nicht!“, faucht er nach altväterlicher Manier.

Nun gut. Sommer ist und die Sonne scheint, da will ich mit Walter nicht streiten. Zumal solche Schurigelei stets nur mich trifft, während ihn sonst eine schier maßlos toleranter Freigeist auszeichnet. Mädels und Jungs, die in Shorts und Flip-Flops durch die Stadt flanieren oder sich in für teuer Geld zerfetzten Jeans zeigen; reife Damen, die es ihnen umstandslos, aber nicht immer passend, gleich tun; selbst ältere Herrn, die ihren Schmerbauch stolz über der kurzen Hose tragen und die Füße mit stramm hochgezogenen Socken bekleiden: Dem allem begegnet Walter mit dem größten Gleichmut und der Devise „jeder möge die schönste Jahreszeit auf seine Weise genießen“.

Um des lieben Friedens willen also ersetze ich das zeitgenössische „geil“ hiermit durch – ja was? „Wunderbar“, wäre eine Möglichkeit; oder „herrlich“. Doch mangelt es beiden Worten irgendwie an spontan explosiver Keckheit. Und sowieso fehlt ihnen der klammheimlich mitschwingende erotische Subtext der früheren Bedeutung von „geil“. Die hat gerade zur Sommerszeit ja durchaus eine gewisse Berechtigung –  obwohl dann doch etwas zu grobschlächtig daherkommend. Die sonnigen Tage und vor allem die lauen Sommerabende auf Balkonen, Terrassen, in Biergärten und Straßencafés verlangen nach gelassenerem, weicherem Ausdruck.

Was also passt auf den Sommer? Versuchen wir ein paar Anleihen aus Jugendsprachen früherer Zeiten:  „Toll“ oder „tiptop“ oder „famos“ oder „stark“ aus den 50er/60ern sind wohl zu eindimensional und entbehren auch der sinnlichen Komponente. „Knorke“ nach 1920er-Gebrauch kennt kaum noch jemand, klingt auch nach rauer Borke statt nach Zärtlichkeit sich sehnender warmer oder versehentlich sonnengebrannter Haut. „Heiß“ oder „scharf“ im Mehrfachsinn der 1970er bis 1990er könnten vielleicht angehen. Das jüngste Geschwisterchen von „geil“ läge indes völlig daneben: „cool“.

Walter wirft entnervt die Arme in die Höhe: „Hör auf, du übertreibst. Das eine Idealwort wirst du sowieso nicht finden, weil jeder sein Sommerglück auf andere Art erlebt.“ Dann rafft er sich auf vom Campingstuhl an der Feuerstelle seiner Datscha hoch überm Moseltal: „Auf unser Sommerglück werden heute die Worte ‚gemütlich‘, ‚entspannt‘, ‚fröhlich‘ gut passen. Lass uns den Grillrost über die Glut hängen und endlich das Fässchen anstechen.“

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 21. Woche im Mai 2018)

Quergedanken Nr. 159

ape. Alle paar Jahre bricht erneut das gleiche Problem über mich herein. Und stets hat Freund Walter dann nur ätzenden Spott übrig. „Trenn dich, schmeiß weg, verschenke! “ So spricht er kaltschnäuzig – derweil ich ratlos vor überquellenden Bücherregalen stehe und nicht weiß, wohin mit den jüngeren Neuerwerbungen, die sich heimatlos auf dem Fußboden stapeln. Ach, wenn das so einfach wäre: Bücher weggeben, auf Nimmerwiedersehen aus dem Haus schaffen. Praktisch keine Schwierigkeit, krieg ich es seelisch nicht über mich. Schließlich ist jedes Buch ein bleibendes Stück meines Lebens und kein Schnitzel, das man futtert, um die verdauten Reste nachher durchs Klo zu spülen.

Neue Regale anbauen? Geht nicht. Im Häuschen sind bereits alle verwertbaren Wände vom Fußboden bis zur Decke zugestellt. Das war vor fünf Jahren wie auch vor zehn Jahren schon so. Jeder bei mir einbrechende Dieb wäre bald deprimiert, weil er nichts für ihn von Wert fände. Alle Technik im Haus veralteter Krempel, nirgends Schmuck, Gold oder Geld; nur Bücher allüberall nebst etlichen Regalmetern voller CDs. Meine Lösung des Überfüllungsproblems alle paar Jahre: Tagelang schwermütig die Regale auf und nieder immer wieder absuchen – nach Büchern, die in Kartons verpackt, in die Etappe auf dem Dachboden versetzt werden können.

Das ist ein quälender Prozess. Eben hast du einen Titel zur Emigration ausersehen, weil er dir auf Anhieb nichts sagt, also auch nicht besonders wichtig gewesen sein mochte. „Doch dann“, brummt  Walter dazwischen, „blättert der Narr darin herum, liest ein paar Sätze: Gleich öffnen sich in seinem Hirn verstaubte Schubladen, kommen Buch-Inhalt, einstige Leseumstände, damalige Lektüregefühle etc. wieder zum Vorschein.“ Ja, genauso ist das, jedes Mal: Da bringt sich ein Druckwerk aufs nächste als alter Freund und Weggefährte in Erinnerung. Die kann man doch nicht einfach in einer dunklen Kiste auf dem Speicher wegsperren.

„Du bist ein komischer Kauz“, raunzt der Freund. Er hat gut reden, denn ein Großteil der durchaus nicht wenigen Bücher, die er sein Lebtag las, waren Ausleihen aus meinen Beständen. Um pfleglichen Umgang und Rückgabe musste ich oft geharnischt kämpfen, weil dem Freund ein Buch, das er gelesen hat, hernach kein Pfifferling Aufmerksamkeit mehr wert ist. Weshalb ausgerechnet er, der sonst mit neuer Technik kaum was am Hut hat, mit so einem elektronischen Lesetablet rummacht. Und er liebt es – das platte Maschinchen, mit dem er unzählige ihres Körpers beraubter Buchgeister aufmarschieren und nach Belieben wieder verschwinden lassen kann.

Das ist nun wiederum eine Haltung, die ich partout nicht begreife. Denn Lektüre ohne leibliches Buch kommt mir vor wie ein Liebesakt ohne Hautkontakt. Wer also ist eigentlich von uns beiden der komischere Kauz? Walter lenkt ein: „Da haben wir mal wieder eine Sache, bei der es kein Gut oder Schlecht, weder Richtig noch Falsch gibt. Wir sind halt verschieden und ein jeder möge nach eigener Fasson glücklich werden.“ Immerhin räumt er ein, in der kalten Jahreszeit sich nirgendwo behaglicher zu fühlen als beim Plaudern, Trinken, Schmausen, Schmauchen inmitten meiner Büchertürme. Jetzt aber besteht er darauf, dass Bücher zwecks Etappenverlagerung auszusortieren, ein Arbeit für Schlechtwettertage ist. „Sei g‘scheit“, sagt er, da die Sonne scheint. „Wir hocken uns ins Straßencafé und genießen Frühlingsschönheiten.“ Ich bin gerne g‘scheit.    

Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 17. Woche im April 2018
                                           

Quergedanken Nr. 158

ape. Welche ist die heiligste aller heiligen Kühe unserer Epoche? Nein, nicht das Automobil; obwohl man gerade wieder mal den Eindruck haben könnte. Nach dem Sinn ihres Lebens befragt, würde die Mehrheit jedenfalls kaum antworten: „Anschaffung und Pflege immer größerer Autos.“ Sie würde aufs ideelle Parkett schwenken und gerührt erklären: die Familie. Mich irritiert das. Denn die meisten Gewaltverbrechen finden nicht in dunklen Straßenecken statt, die meisten Prügeleien nicht im Umfeld von Wirtshäusern oder Stadien, die meisten Streitereien nicht in Schulen, Betrieben, Straßenbahnen. Sondern: innerhalb der familiären vier Wände. Dass diese nicht unbedingt Halt geben, zeigt auch die seit Jahrzehnten steigende Scheidungsrate. Könnte es sein, dass das landläufige Familienideal umso höher gehängt wird, je weniger real es ist?

Jetzt drängelt Freund Walter: „Ja, schenk den Leuten reinen Wein ein über ihr geliebtes Kleinfamilienidyll. Sag ihnen, dass das nicht die Keimzelle jedweder Gesellschaft war, sondern eine Erfindung der Industriellen Revolution ist.“ Da liegt er wohl richtig. In den agrarisch geprägten Gesellschaften über Jahrtausende zuvor war die dominante Lebensform der großfamiliäre Haushalt nebst oft lebenslang unverheirateten Knechten, Mägden, Gesellen. Weithin durfte gar nicht heiraten, wer arm war, kein Land oder eigenes Gewerbe hatte. Noch früher, bei den steinzeitlichen Jägern und Sammlern, waren die 10- bis 20-köpfigen Lebensgruppen „die Familie“; monogame Paare unwahrscheinlich, Vaterschaften ungewiss, Kindesaufzucht kollektiv – auch wenn Hollywood seit eh und je das Vater-Mutter-Kinder-Ideal in bedenkenloser Falschheit sämtlichen Zeitaltern überstülpt.

Aber die Mutter-Kind-Beziehung, die sei doch auf jeden Fall von Natur aus existenziell, glaubt man allgemein. Ähm, sagen wir so: Mutterliebe kann ein sehr starkes Gefühl sein. Aber ist das auch umgekehrt so? Säuglinge etwa scheinen da eher pragmatisch eingestellt: Sie wenden sich vorzugsweise jenen zu, die ihnen dauerhaft Nahrung, Wärme, Zuwendung, Schutz zuteil werden lassen., sagt die Wissenschaft. Diesen Umstand nutzten unsere Vorfahren weidlich: reiche Herrschaften, um sich nicht mit „Kinderkram“ mühen zu müssen; Bauern, Handwerker, Proletarier, um nicht die Arbeitskraft allzu vieler junger Frauen zu verlieren. Wie das teils ging, lässt sich bei Shakespeare sehen: Wer ist die häusliche Bezugsperson der Titelheldin in „Romeo und Julia“ von Geburt an? Nicht Mutter, nicht Vater, sondern die Amme.

Könnte durchaus sein, dass ein Erfolgsrezept der Entwicklung des Homo sapiens die natürliche  Nichtexklusivität der Mutter-Kind-Beziehung ist. Bei vielen Tierarten kommen Junge um, die ihre Mütter verlieren, weil andere Mütter fremde Jungtiere oder Jungtiere fremde Mütter nicht annehmen. Menschen sind da viel flexibler: Sofern nicht durch egozentrische Wiegen-Hubschrauberei verdorben, kommen ihre Babies prima klar mit ein bis drei Ersatzmüttern (auch Ersatzvätern), von denen sie regelmäßig gut und liebevoll versorgt werden, denen sie vertrauen. Wäre dem nicht so, wir müssten all unsere Kinderkrippen und Krabbelgruppen zusperren, müssten auf die Dienste von Oma, Opa und Babysitter verzichten.

Kurzum: Blut per se spricht nicht und (ver-)bindet nicht. Das tun nur Liebe, Zuwendung, Fürsorge, Mitgefühl, Verlässlichkeit, Solidarität. Dafür aber ist Blutsverwandtschaft keine Bedingung – und schon gar nicht ist sie ein Garant dafür.    

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 12./13. Woche im März 2018)

Quergedanken Nr. 157

ape. Lassen Sie mich eine kleine Geschichte aus fernen Jugendtagen erzählen. „Och nöö!“, mault Freund Walter. „Nicht schon wieder eine Lehrparabel, bei der man den Hintersinn erst ergrübeln muss. Red‘ Tacheles!“ Das ist ein alter Streitpunkt zwischen uns. Denn ich bin der Ansicht, man darf den Lesern was zutrauen. Und je mehr eigene Schlussfolgerungen sie ziehen, umso größer der Reiz und umso nachhaltiger die Wirkung des Denkanstoßes. Walter sieht das anders und knurrt deshalb achselzuckend: „Mach doch, was du willst.“ Dann also die Story, die wie folgt geht:

Ich bin im vergangenen Jahrhundert in einer Kleinstadt von 7000 Seelen aufgewachsen. Um die Wende von den 1960ern zu den 70ern war ich 14 bis 17 Jahre alt und gehörte dort einer Clique Altersgenossen/innen an, von denen einige im nahen Heidelberg aufs Gymnasium gingen. Von dort brachten wir allerhand Einflüsse aus der damaligen Umbruchswelt der 68er-Studentengeneration mit ins provinzielle Hinterland des Neckartals. Logisch, dass unsere um die 20, an Wochenenden auch mal 50 und mehr Jugendliche umfassende Clique in besagter Kleinstadt bald zu einem, sagen wir: sehr ungewöhnlichen Faktor wurde.

Kein Mensch dort hatte so lange Haare wie wir und trug so eigentümliche Klamotten: die Jungs in verwaschenen bis zerrissenen Hosen, Opas Arbeitsmantel oder zerschlissene Militärparka übergezogen; die Mädels in Schlagjeans oder auch mal einem Minirock, dazu schwere Boots an den Füßen, obenrum Batik-Shirts, Palästinenser-Schals, bunte Flickerldecken und meist weithin „duftend“ nach Patschuli-Öl. Niemand hörte, sang, grölte so seltsame Musik so laut wie wir, tanzte gar an Straßenecken, auf dem Marktplatz, im Park dazu. Und noch niemals hatte dort jemand erlebt, was bei uns Usus war: Knutscherei in aller Öffentlichkeit. Das einzige Element, das wir aus der Väterkultur übernommen hatten, war die Liebe zu Bier und Tabak.

Wir waren per se eine Provokation für die Mehrheitsgesellschaft am Ort – selbst wenn wir keiner Fliege was zuleide taten. Sahen sie uns kommen, wechselten Altbürger die Straßenseite – beschimpften uns als Hippies, Gammler, Faulenzer, Kommunisten. Mancher wünschte uns „ins Arbeitslager“ oder „nach drüben“, einige zischten „Gaskammer“.  Kurzum: Die etwas andere Lebensart eines Teils der eigenen Jugend war für viele der Kleinstädter die fremdeste Fremdartigkeit, die sie in der Heimat je erlebt hatten. Weit fremdartiger noch als die Aussiedler aus den ehemals deutschen Ostgebieten, die sie bis eben stets misstrauisch beäugt hatten; ja, fremdartiger selbst als die Gastarbeiter aus Italien, Jugoslawien, Griechenland, der Türkei.

Fertig. Das war meine Geschichte. Walter reißt die Augen auf: „Und den Rest soll man sich denken? Dann sag‘ mir wenigstens, was aus deinen Kumpanen geworden ist.“ Soweit mir bekannt, verdienen die meisten ihr Brot als Facharbeiter und Handwerker, sind Lehrer, Ärzte, Wissenschaftler, Musiker, Journalisten geworden oder leiten eine eigene Firma. Von zweien weiß ich, dass es das Schicksal nicht gut mit ihnen meinte, ein weiterer hat Suizid begangen. Statistischer Durchschnitt also; vom etwas erhöhten Anteil der Leute mit Hochschulabschluss mal abgesehen. „Und wie ticken die heute“, will Walter wissen. Weiß ich nicht, die Kontakte sind spärlich. Doch ich hoffe, dass sich alle daran erinnern, für die Mehrheit in ihrem Städtchen mal die fremdeste Fremdartigkeit gewesen zu sein.

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 09. Woche im Februar/März 2018)

Quergedanken Nr. 156

ape. Wir müssen mal wieder über Mode reden. Es hat nämlich Freund Walter eine verstörende Theorie entwickelt. Sie könnte die gesamte abendländische Kleiderordnung der Neuzeit infrage stellen. Denn danach sei der Regelumstand, dass Männer nur Hosen tragen, während Röcke den Frauen vorbehalten sind, wider die Natur. „Betrachtet man den Körperbau der Geschlechter“, so Walter, „wäre die umgekehrte Kleiderordnung vernünftig.“ Klar, dass mir etliche Fragezeichen ins Gesicht geschrieben stehen. Weshalb er zwecks Einstieg in die nähere Erläuterung auf meine eigenen Ausführungen zum Büstenhalter vor knapp zwei Jahren verweist.

Damals hatte ich erklärt: Der BH ist von seiner naturgemäßen Funktionalität her das einzige (!!!) geschlechtsspezifische Kleidungsstück der Menschheitsgeschichte. Was leicht nachvollziehbar war, insofern man quer durch Zeitalter und Kulturen immer wieder Hosen, Röcke, Kleider, Jacken, Hüte, Schleier, Schuhe etc. etc. bei beiden Geschlechtern findet. Niemals indes trugen Männer BH oder einen seiner Vorläufer. Wozu auch? So weit, so gut. Was aber hat das mit Männern und Röcken zu tun? „Ei“, sagt Walter, „Männer haben doch auch ihre Ausstülpung nach außen.“ Da ich begriffsstutzig glotze, setzt er nach: „Kreuzgewitter, halt das Gelege, Gehänge, Gelärsch, Gemächt im Schritt.“

Jetzt fällt der Groschen. Der Zusammenhang mit der angeblichen Naturwidrigkeit von Männerhosen bleibt mir dennoch schleierhaft. Ungeduldig schmeißt der Freund nun mit höherer Biologie um sich: „Frauenbrüste hat die Natur nach außen gestülpt wegen der Stillerei. Warum aber hat sie des Mannes Glocken außen angehängt, statt sie warm und beschützt ins Innere des Körpers zu legen? Antwort: Um die Testikel luftig und kühl genug zu halten für die optimale Spermienproduktion. Was passiert nun, wenn wir die Apparatur in enge Hosen quetschen? Ihr geht die Luft aus und sie überhitzt. Das mindert die Potenz und die Zeugungsfähigkeit. Mal ganz davon abgesehen, dass man(n) immer wieder rumfummeln muss, um zwick-zwackende Fehllagerungen in der Bux zu korrigieren.“

Deshalb sei, so Walter, der Rock das ideale Untenrum-Kleidungsstück für Männer – sowieso für all jene, die die meiste Zeit sitzen, statt durchs Gebüsch Hirschen nachzujagen oder sich auf Schlachtfeldern herumzuschlagen. „Nie war der Männerrock wichtiger als heute!“ geht sein Resümee. Dagegen lässt sich wenig sagen, jedenfalls für den Sommer oder beheizte Räume. Warum aber bleibt der Männerrock dann Schottenfolklore oder ein nur gelegentlich auftretendes, stets belächeltes Randphänomen der Modeavantgarde? „Streng dein eigenes Hirn an“, raunzt der Freund.

Plötzlich geht mir ein Kronleuchter auf: „Wer hat hier die Hosen an?“, so fragt der Volksmund seit etwa 200 Jahren nach der Macht im Hause und anderswo. Der Bezug dieser Metapher auf die in unseren Breiten traditionelle Vorherrschaft von Mannsbildern in Hosen hat sich ins kollektive Bewusstsein derart tief eingegraben, dass selbst die bisherige Frauenemanzipation ihn nicht aus der Welt schaffen konnte. Längst tragen zwar auch die Damen Hosen, aber noch immer die Männer keine Röcke. Sie fürchten Verweiblichung – statt endlich sich den Genuss dieses gerade für den Mann körperlich so angenehmen Kleidungsstückes zu erlauben. „Jetzt hast du‘s“, applaudiert Walter und ruft aus: „Männer, emanzipiert euch: Tragt Röcke!“ Jawoll – es müssen ja nicht gleich die ganz kurzen sein.  

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 4./5. Woche im Januar 2018)

Quergedanken Nr. 155

ape. Tja, lieber Walter, jetzt hat es dich doch erwischt. Du magst dich noch so sehr in den Schatten des Inkognito herumtreiben: Künftighin bist du nicht mehr nur ein bisschen berüchtigt, sondern den Mittelrhein rauf und runter richtig berühmt. So sprach ich jüngst zum besten meiner Freunde und eröffnete ihm: Es hat jemand ein Schauspiel über dich geschrieben, das demnächst im Theater Koblenz auf die Bühne kommt. Natürlich zeigt Walter mir den Vogel und knurrt: „Verarschen kann ich mich selber.“ Worauf ich den offiziellen Programmprospekt des Theaters hervorkrame. Dort steht schwarz auf weiß gedruckt für den 16. Januar 2018: „Mein ziemlich seltsamer Freund Walter. Stück für junge Menschen von Sibylle Berg. Premiere.“ Und siehe, mein alter Kumpel entsetzt sich derart, dass ihm die Kaffeetasse aus der Hand fällt.

Kleinlaut fragt er: „Du hast bestimmt das Textbuch schon gelesen: Was steht drin über mich?“ Das, mein Lieber, was ich schon immer befürchtet hatte, wird hier bestätigt. Du bist in Wahrheit ein Außerirdischer namens Klakalnamanazdta und ein uralter Knacker mit 345 Erdjahren auf dem Buckel. Meist wandelst du unsichtbar unter uns Menschen und gehörst obendrein zu einer geschlechtslosen Alien-Spezies – ähnlich jenem Riesenhasen Harvey, der als unsichtbarer Filmfreund von James Stewart die Welt narrt. Das Attribut „geschlechtslos“ provoziert des Freundes aktuelle Lebensabschnittsgefährtin zu einem wissenden Prusten. Was ihn sichtlich irritiert. Noch mehr beschäftigt ihn allerdings die Sache mit dem Namen. „Klakakladingsbums soll ich heißen, heiße doch aber sogar im Stück Walter. Wie denn nun?“

Klar, ich musste ihm dann die ganze Story erzählen – von der neunjährigen Lisa, die Klakalnamanazdta einfach Walter nennt, weil eben Opas so heißen und die Kleine sich nach einem guten Opa sehnt. Denn ihr Leben als Außenseiterin und Kind erst arbeitslos, dann antriebslos und lieblos gewordener Eltern ist schwierig. Mehr will ich hier über das humorig-nachdenkliche Belehrstück nicht verraten. Schließlich sollen junge Menschen es im Theater anschauen und noch was davon haben. Vielen Erwachsenen könnte ein Besuch übrigens ebenfalls nicht schaden. Stößt einem doch Walters oft sonderbare Außerirdischensicht – wie Leser meiner Kolumne seit Jahren erleben – die Nase in manchen Matsch und Quatsch der menschlichen Verhältnisse.

„Was lässt dich so sicher sein, dass das Stück mich meint?“, fragt Walter. Na ja, weil dieser Alien ständig Sachen sagt, auf die außer dir niemand käme. Zum Beispiel: Das wirklich Wichtige im Leben sei „kuscheln und spazieren gehen“. Was die kleine Lisa arg irritiert. Denn die kennt Erwachsene vor allem als Leute, die immer Geldsorgen haben, dauernd arbeiten und gestresst sind – sofern sie nicht mit Geldnöten arbeitslos auf Sofas sitzen. Und wie du, mein Freund, kommt auch der Walter im Stück mit dem irdischen Konzept des Geldes nicht klar. Beide haltet ihr die Ansicht für Humbug, wonach Geld das Allerwichtigste auf Erden sei, neben der Arbeit, mit der man es verdiene.

Und da wäre als letztgültiger Idenditätsbeweis eben die Sache mit der Unsichtbarkeit. Es besteht nun kein Zweifel mehr, dass du es bist, der mich regelmäßig unsichtbar heimsucht – und aus purer Bosheit Hausschlüssel oder Geldbörse versteckt, Weinvorräte aussäuft, das Klopapier aufbraucht und ständig Staub über die Bücherregal streut. Bursche, dank des Theaters bin ich dir nun auf die Schliche gekommen!    

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 52. Woche im Dezember 2017)

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