Wenn einer eine Reise tut
Quergedanken Nr. 161
ape. Plötzlich sagt Walter: „Ich bin dann mal weg.“ Von jetzt auf gleich schmeißt der Freund seine Naturburschenausrüstung ins Auto. Ein-Mann-Zelt, Schlafsack, Henkelmann, Esbitkocher, den Rucksack mit ein paar Klamotten, Geldbeutel und der Landkartenmappe drin. Wohin soll‘s gehen?, frage ich. Er: „Korsika; via Schweiz, Italien und mit der Fähre von La Spezia oder Genua aus.“ Ich: Wie lange? Er: „Mal schauen.“ Und schon ist er fort – ohne Zielbuchung, ohne Fotoapparat, Navi, Smartphone. Eine unbestimmte Zahl von Wochen hören wir nun gar nichts mehr voneinander. So haben wir es immer gehalten: Fort ist fort. Er wird irgendwann von irgendwoher eine Postkarte schicken, die erst eintrudelt, wenn er längst wieder daheim ist.
Walter war noch nicht auf Korsika, weiß nur aus meinen Erzählungen von lieblichen bis rauen Naturschönheiten und distanziert freundlichen bis raubeinigen Menschen im Hinterland. Über Strände und zentrale Sehenswürdigkeiten hatten wir nie gesprochen, sowas interessiert ihn nicht. Ob der Freund überhaupt auf der Insel ankommt, ist allerdings keineswegs ausgemacht. Er hat da so seine Eigenheiten. Vor zwei Jahren beispielsweise hatte er Katalonien als Ziel angegeben, sich dann aber wochenlang in abgelegenen Regionen Frankreichs vertändelt.
Denn im modernen Sinne fährt Walter weder in den Urlaub, noch bereist er die Welt. Er gondelt vielmehr aufs Geradewohl über Nebenstrecken von Nebenstrecken von Nebenstrecken durch die Lande – und sucht „schöne Plätze“. Das sind nach seinem Verständnis Locations, wo die Uhren langsamer gehen, an denen auf 100 Einheimische und 1000 Hektar Landschaft nicht mehr als zwei Touristen kommen. Fragt man ihn, ob er in diesen gemeinhin als „strukturschwach“ bemitleideten Örtlichkeiten nach einem idyllischen Gestern suche, gibt es die harsche Antwort: „Kein Gestern. Ein Heute, das noch nicht mit dem Marketinglöffel barbiert wurde, um ein geschorenes Morgen zu werden!“
Hochsommer ist eigentlich keineswegs des Freundes bevorzugte Reisezeit. Doch macht er alle vier Jahre eine Ausnahme: Sobald daheim das Weltfußballfieber mit seinen eigentümlichen Symptomen um sich greift. Weshalb ich darauf wetten möchte, dass er sich jetzt ziemlich lange in der italienischen Provinz herumtreiben wird. Denn dort dürfte die Fieberwelle heuer einen deutlich gemäßigteren Verlauf nehmen als in Deutschland, der Schweiz oder Frankreich. Es ist nun mal so, dass Walter mit Fußball rein gar nichts mehr anfangen kann; mit der Sportart nicht, mit dem kommerziellen wie rituellen Drumherum erst recht nicht. Im Vergleich dazu bin ich ein richtiger Sportsmann. Will sagen: Ich kann zumindest einem guten und spannenden Spiel etwas abgewinnen – völlig egal, wer da gegen wen kickt und wer gewinnt.
Ja, ja, nur die Ruhe. Ich weiß, dass für viele Zeitgenossen meine Haltung in dieser Sache noch unbegreiflicher ist als die totale Fußballmuffelei Walters. Jeder mag das halten, wie er will. Von mir aus auch mit Fahnenschwenken, Hymnensingen, kollektiver Glückseligkeit oder womöglich Tieftraurigkeit. Nur, bittschön, es hacke niemand auf mir rum, weil mich an der WM höchstens eines interessiert: Sport, Sport ganz allein. In diesem Sinne verabschiede ich mich mit zwei Wünschen in die Sommerpause: Möge der Freund noch einige schöne Plätze finden und am Ende vielleicht doch Korsika erreichen; möge in den WM-Stadien die jeweils besser spielende Mannschaft gewinnen.
Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 25. Woche im Juni 2018