"Lulu"-Ballett in Koblenz

Von heiter bis tödlich / Premierenkritik

ape/Koblenz. Sinnliche, humorige, erschütternde, nachdenkliche, politische, tänzerisch spannende 90 Minuten. Ballettchef Steffen Fuchs zieht mit seiner von Frank Wedekinds Tragödie inspirierten Tanzrevue „Lulu” am Theater Koblenz allerhand Register, bringt bei unterschiedlichen Zusehern je unterschiedliche Nerven zum Schwingen.

Die Frau als Heilige und Hure, als Verführerin und Missbrauchte, als Täter und Opfer: Das ist Wedekinds Stoff aus Männertraum und Albtraum; das bleibt auch bei der ausgezeichneten Ballettadaption Thema, doch unter teils veränderten Blickwinkeln.

Fuchs' Choreografie hat mehr mit dem wiederholt verbotenen Schauspiel von 1913 zu tun, als einige Premierenbesucher nachher bekritteln. Schon die erste der 14 Revue-Nummern entspricht dem Originalprolog: Eine Menagerie von Typen stolziert winkend vorüber wie zum Beginn einer Zirkus- oder eben Revuevorstellung. Sie würden nachher Sensationelles vorführen, verspricht der Tierbändiger in Marktschreiermanier. Lulu, „das wilde, schöne Tier (...) ward geschaffen, Unheil anzustiften, zu locken, zu verführen, zu vergiften – zu morden, ohne dass es einer spürt”, ruft er bei Wedekind. Tänzer Arkadiusz Glebocki übersetzt das in wortlosen Ballettausdruck. Ergebnis ist ein solistisches Furiosum wilder wie gekonnter Sprünge, Gänge, Figuren enormer Komplexität.

Muss man das Lulu-Schauspiel kennen, um das Lulu-Ballett zu verstehen? Schaden kann's nicht, aber nötig ist es auch nicht. Was sich in Ines Aldas Bühnenbild aus einer hüttengroßen Lade ergießt, kann durchaus für sich selbst sprechen. Diese Büchse der Pandora ist nicht nur alt, sondern schon lange geöffnet, hat Löcher und modert. Von dort her fügen sich zu diversen Musiken Nummer für Nummer getanzte Lebensaspekte zum Schicksalsweg einer jungen Frau. Vom Band kommen Wagner und Gershwin, frivole Chansons aus Opas Zeit oder heutiger Pop.

Dieser Weg spiegelt das Ringen zwischen den Beharrungskräften der Männerdominanz, den Ambivalenzen der fraulichen Selbstbefreiung und der Auflösung hergebrachter Geschlechterrollen. Zugleich spiegelt sich der Prozess in Wandlungen der Ballettstilistik seit anno dunnemals. Wie bei Wedekind versucht sich Lulu als Tänzerin. Bei Fuchs gerät sie in den Streit zwischen klassischem und neoklassischem Ballett. Gut weg kommen beide nicht: Vier zu Pomeranzen aufgeplusterte Schwanensee-Eleven werden von gold-kostümierten, arroganten Schönlingen niedergemacht.

Kaho Kishinami ist wohl die ideale Lulu-Besetzung in dieser seit Fuchs Amtsantritt auf fast allen Positionen neu besetzten Kompagnie. Denn sie kann sich in grundverschiedenen Tanzstilen intensiv ausdrücken. Fabelhaft das dichte Pas de Deux mit Pierre Doncq als Dr. Schön, in dem beide versiert auch zeitgenössische Elemente aus den Stilschulen von Forsythe, van Manen, Thoss, Schläpfer aufblitzen lassen. Hinreißend Kishinamis Wandlung von der in selbstbewusster Kraft durch Männerreihen tanzenden Verführerin zur erschlafft umhergeworfenen Hure, schließlich zur kalten Mörderin ihrer Schinder.

Faszinierend auch zwei Nummern, in denen die äußerlich zarte Lulu und die dominahaft starke Gräfin Geschwitz aufeinandertreffen. Der Tanz gibt hier seine raumgreifende Dimension auf, reduziert sich auf filigransten Ausdruck auf der Stelle. Bei Kishinami ist es schier stille stehender, gleichwohl extrem konzentrierter Minimalismus, während Lisa Gottwik sich mittels eines kompakten Feuerwerks rhythmisch ruckender, zuckender Gesten, Haltungen, Brechungen Ausdruck verschafft.

Dann der wohl meistdiskutierte, gleichwohl am tiefsten berührende Moment: Drag Queens feiern als übergeschlechtliches Symbol im vollem Flitter selbstverliebt einen schicken Event. Vor die illustre Szene tritt eine namenlose alte Frau. Sie legt ihr Gewand ab, dann ihr Unterkleid, dann ihren BH –  und stellt einer von sinnleerer Unterhaltungssucht triefenden Gegenwart in schweigender Würde die Wahrheit des vergänglichen Fleisches entgegen. Was das bedeutet? Alles!  Andreas Pecht

 

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