Mehr Öffnungen machen eine strengere Disziplin aller nötig
Kommentar zur absehbaren Welle von Lockdown-Lockerungen
ape. Es gibt derzeit nichts, das ich mehr herbeisehne als die zügig schrittweise Rückkehr zur normalen Alltagskultur. Doch, eines: Dass wir Herr über die Seuche werden, dass wir sie niederringen auf ein Minimalniveau, von dem aus sie unsere Gegenmaßnahmen nicht mehr großflächig überwinden kann. Andernfalls nämlich wird das nichts mit der Rückkehr zur Normalität, wird der Versuch der Rückkehr bloß in die nächste Welle führen.
Ein solcher Versuch beginnt hierzulande jetzt. Aufschub bis zur Durchimpfung breiterer Bevölkerungsteile wird wahrscheinlich nicht gewährt, zu groß der Öffnungsdruck aus zu vielen Gesellschaftsgruppen. Nun denn, machen wir uns also an diese noch nie erprobte Experimentaloperation am offenen Herzen. Verlauf ungewiss, Ergebnis ungewiss. Sollten jedoch demnächst die Infektionsraten und Todeszahlen nach slowenischer oder vordem irischer Manier explodieren, wären alle Stufenpläne und Öffnungsperspektiven von jetzt auf gleich wieder Makulatur.
Wäre ich religiös, würde ich jetzt inbrünstig beten, dass der Versuch gelingen möge. So aber bleiben mir als Orientierung nur die Naturgesetze, in diesem Fall also die epidemiologischen Gesetzmäßigkeiten. Und daraus leitet sich zwingend ab, dass es überhaupt nur eine einzige Chance für das Gelingen der sich abzeichnenden (m.E. verfrühten) Öffnungsflut geben könnte: Wenn sie, erstens, einhergeht mit einer in Deutschland bisher so noch nie praktizierten Strenge, Stringenz, Konsequenz, Rigorosität aller Bürger, Geschäfte, Institutionen bei der Einhaltung der AHA-Regeln.
Wenn sie, zweitens, hinterlegt ist mit einer kategorischen Exit-Strategie, also Re-Lockdown-Ordnung, auf der lokalen und regionalen Ebene für den Fall, dass hier, da, dort das Infektionsgeschehen wieder in die Höhe schießt. Und diese Strategie muss die Möglichkeit zur zeitweisen Abriegelung von Ortschaften, Kreisen, nötigenfalls Bundesländern einschließen. Ohne Einsatz dieser Möglichkeit wäre jeder Öffnungsplan beim derzeitigen noch sehr dünnen Stand der Durchimpfung zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Ohne Einsatz dieser Möglichkeit gingen etwa Neuseeland, Australien und ein paar andere Länder heute nicht mit Inzidenzen nahe Null einem fast normalen Leben nach.
Was mich in höchsten Maße besorgt, ist, dass fast alle den Öffnungen entgegenfiebern, aber kaum jemandem bewusst zu sein scheint: Je mehr geöffnet wird, umso mehr Verhaltensdisziplin ist bis zur Durchimpfung der Bevölkerung VON ALLEN gefordert - inklusive permanente Testerei, inklusive vor allem auch der Bereitschaft, sich nötigenfalls mit dem eigenen Wohnviertel, der eigenen Stadt oder der eigenen Region zeitweise und im Interesse der Offenheit des übrigen Landes in Kollektivquarantäne zu begeben. Ob wir das hinkriegen?
Andreas Pecht