Neujahrsessays

Vier Großkrisen stellen die alte Zivilisation infrage: Klimawandel, Artensterben, Pandemie und soziale Schere

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Arbeiten, um in Freiheit selbstbestimmt anständig leben zu können – Würdigung der missachteten Leistungsträger

ape. Die Parole „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ fasste 1789 den zuvor schon Jahrtausende währenden Kampf um eine bessere Gesellschaft als ideelle Maxime zusammen. Gleichheit mag sich heute niemand mehr auf die Fahnen schreiben: Klingt zu sehr nach Gleichmacherei. Brüderlichkeit ist als politikfähiger Begriff perdu: Erinnert an Sonntagspredigt. Freiheit scheint hierzulande ein alter Hut, seit die Deutschen frei reden und geheim wählen dürfen. Benutzt man aber Freiheit im Sinne von Mitwirkung und Selbstbestimmung, ersetzt man Gleichheit durch Gerechtigkeit, Brüderlichkeit durch Solidarität, dann lässt sich die alte Parole als Ideal und Prüfstein für die Gegenwart verstehen.

Bei einer Umfrage gaben neulich fast 60 Prozent der Befragten in Deutschland als wichtigsten  Wunsch für 2011 an: weniger Stress. Im Volksmund meint Stress vor allem: Dauerbeanspruchung, Überlastung, Fremdbestimmung, Erschöpfung durch erdrückende Häufung schnell zu erledigender Aufgaben. Eine satte Bevölkerungsmehrheit fühlt sich also mittlerweile in einem Ausmaß gestresst, das spürbar an ihrer Lebensqualität nagt. Dieser Befund widerspricht der Annahme, Stress sei vorrangig bei Selbstständigen, Managern,  Führungskräften verbreitet. Dauerhafte Überforderung ist zum Massenphänomen geworden. Medizinstatistiker verzeichnen gravierende Anstiege bei Krankheitsbildern, die teils oder gänzlich vom Stress rühren.

Ob Verkäuferin, Briefträger oder Krankenschwester, ob Handwerker, Industriearbeiter, Lkw-Fahrer oder Verwaltungsangestellter: Auch in den „einfachen Berufe“ steigen die Anforderungen rasant. Die Aufgaben je Beschäftigtem wachsen; die Arbeitsmenge wächst; die  Arbeitsnormen wachsen, die Arbeitsgeschwindigkeit wächst. Wachstum allüberall, wenn auch auf einer Ebene, die wir mit dem Begriff eher selten verbinden. Zunehmende Arbeitsdichte ist aber die zwingende –  viel zu wenig gewürdigte – Kehrseite jenes Wirtschaftswachstums, dem sich heutige Gesellschaften   bedingungslos verschrieben haben.

Nicht nur Manager brennen aus

Es ist eine der großen Ungerechtigkeiten unserer Tage, den in „einfachen Berufen“ sich mühenden Menschen die Anerkennung als „Leistungsträger“ und entsprechende Entlohnung zu verweigern. Nicht nur Manager und Selbstständige arbeiten manchmal bis zum Umfallen. Der Friseuse kann es heute ähnlich ergehen, oder dem Maurer, Müllwerker, Paketzusteller. Nur dass Letztere, wenn sie erschöpft in den Feierabend gehen, auch noch jeden Euro umdrehen müssen, um über die Runden zu kommen. Und dass sie keine Millionenabfindung zu erwarten haben, wenn sie Mist bauen.

Leider gibt es keine Methode, die Verausgabung von Lebenskraft pro Arbeitsstunde zu messen. Gäbe es die, und würden sich die Einkommen danach richten: Die immer extremere Öffnung der Einkommensschere hätte sich bald erledigt. Denn was berechtigt etwa Bankmanager 20, 50 oder 100 mal mehr zu verdienen als Dachdecker? Dass sie etwas können, was der Dachdecker nicht kann? Das gilt umgekehrt genauso. Dass sie eine bessere Ausbildung haben und längere Arbeitstage? Das trifft nur teilweise zu und würde bestenfalls die doppelte Einkommenshöhe rechtfertigen. Dass sie große Verantwortung tragen, weil ihr Handeln systemrelevant ist? Kabarettisten würden nach den aktuellen Erfahrungen hier einfügen: Ohne Dachdecker stünden wir dumm da, ohne systemrelevante Bankmanager besser.

Dies ist keine "Neiddebatte"

Im Disput um soziale Gerechtigkeit erhebt sich gewöhnlich rasch der Vorwurf „Neiddebatte“. Nein, um Neid geht es gar nicht – ging es noch nie: nicht bei den Sklavenrebellionen der Antike, nicht bei den Bauernaufständen des Mittelalters, nicht in der Arbeiterbewegung seit dem 19. Jahrhundert,  nicht bei den sozialen Spannungen der Gegenwart. Es geht stets um die Sehnsucht und das natürliche Recht aller Menschen nach einem in Freiheit selbstbestimmten, anständigen und ein bisschen glücklichen Leben. Diese Sehnsucht schließt den Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit ein, also nach angemessener Teilhabe am von allen erarbeiteten Zuwachs an Wohlstand.  

Was  bedeutet: Es kann nicht angehen, dass die Kluft zwischen Reich und Arm immer größer wird, die Reichen schneller reicher, die Armen ärmer werden. Es kann nicht angehen, dass die Entwicklung der 50er-, 60er-, 70er-Jahre hin zur deutschen Mittelstandgesellschaft umgekehrt wird, die Mittelschicht wieder schrumpft, weil viele auf die Rutsche nach unten gezwungen werden. Es kann nicht sein, dass die Produktivität Tag um Tag wächst, die Reallöhne in Deutschland aber seit zehn Jahren feststecken und Renten, Sozialsysteme, Gesundheitswesen erodieren, ja wir unter den Industrienationen gar Weltmeister beim Lohn-Minus sind.

Der jetzige Aufschwung wird‘s richten? Mit Verlaub: Die eine Hälfte dieses Aufschwungs besteht aus schöngerechneten Zahlen. Die andere Hälfte ist teuer erkauft, kaum von Dauer, und was unten ankommt, hält sich erfahrungsgemäß sehr in Grenzen. Das Leben wirft heute ein paar grundlegende Fragen auf, für die sich das kurzatmige Gewusel der Wirtschaftszyklen ohnehin nicht interessiert:

Das Familienleben zerbröselt

Was soll werden, wenn schwindelerregend zunehmende Leistungsanforderungen die Grenze des menschlichen Leistungsvermögens überschreiten? Was, wenn das Ringen um die Erfüllung beruflicher Vorgaben zu allen nur erdenklichen Tages-, Nacht- und Wochenzeiten ein normales Leben unmöglich macht? Wenn Familien- und Liebesleben zerbröseln,  Hobbys, Vereinskultur und Freundeskreise absterben? Wenn Freizeit sich reduziert auf Wiederherstellung der Arbeitskraft nebst lebenslanger Fortbildung derselben?

Dann wäre die Zivilisation wieder dort, wo die Menschen nie hatten hinwollen: beim leben, um zu arbeiten. Weniger Stress! Diesem Wunsch liegt indes das gegenteilige Verständnis zugrunde: arbeiten, um zu leben. Im Geiste von „Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität“ ist Zweck und Ziel allen produktiven Fortschritts: Sicherung der materiellen Überlebensbasis, Hebung des Lebensstandards  und zugleich stetige Erweiterung von darüber hinausgehenden Spielräumen – um die Arbeitsfron zu reduzieren, das eigene Leben selbstbestimmt zu gestalten sowie die Gesellschaft mitzugestalten. Und dies für alle, auch für Kranke, Schwache, Alte.

Bürger gegen "falschen Fortschritt"

Demokratische Freiheiten sind eine grandiose Errungenschaft. Sie bleiben jedoch totes Papier, wenn die Menschen sie nicht nutzen. Sei es, weil ihnen nach der Arbeit Zeit, Kraft und Lust dafür fehlen. Sei es, weil sie das Ringen um privaten Wohlstand und geordnetes Familiendasein ausfüllt. Sei es, weil sie die Gestaltung des Gemeinwesens bei den Berufspolitikern am besten aufgehoben glauben. Nun aber stellt sich heraus: Die bisherige Art von verbrauchendem, großtechnischem, beschleunigendem Wachstumskurs stößt an ihre Grenzen. Mehr noch: Festhalten daran wirkt im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit, Lebensstabilität und -qualität nachgerade kontraproduktiv.

Zugleich stellt sich heraus, dass das Gros der Politiker vom überkommenen Kurs des „Mehr-größer- schneller“, von Gigantismus, von Wachstum um jeden Preis, von Ökonomisierung auch noch der letzten Gesellschaftspore nicht lassen kann oder will. Stuttgart 21 wurde zum Symbol für diesen Kurs des „falschen Fortschritts“. Und der Protest dagegen wurde zum Ausdruck dafür, dass die bisherige Arbeitsteilung zwischen „gestaltender“ Politik-/Wirtschaftssphäre und alle paar Jahre wählendem, sich ansonsten aber mit seinen Privatangelegenheiten abstrampelnden Volk nunmehr aufgekündigt ist.  

Der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben in Freiheit nimmt eine neue Qualität an. Sehr viele Bürger bescheiden sich nicht länger mit der Qual der freien Wahl zwischen tausenderlei Telefonanbietern, Versicherern, Krankenkassen, Stromlieferanten, Fernsehprogrammen, Automarken. Freiheit ist etwas anderes, wird nun auf breiter Front auch so verstanden: Mitreden, mitbestimmen, mitentscheiden über die Gestaltung der eigenen Stadt, des Landes, des Gemeinwesens.

Vieles deutet darauf hin, dass die Politik die Gestaltungshoheit über den öffentlichen Raum künftig  mit dem Souverän, dem Volk, wird teilen müssen. Das ist gut so, wenn auch für alle Seiten ungewohnt. Das birgt einige Risiken, aber viel mehr Chancen. Mancher Politiker denkt noch nach, wie er das zur Einmischung entschlossene Bürgertum elegant ins Leere laufen lassen und wieder ruhigstellen kann. Eine dumme Haltung. Sie verschließt sich der großartigen Möglichkeit einer Reifung der Demokratie durch direkte Beteiligung eines in weiten Teilen gereiften Volkes.

Dilemma der Weltzivilisation  

Wie das kleine Deutschland, so steht auch die Weltzivilisation vor grundlegenden Fragen.  Fragen, die ohne gemeinsames Wirken, ohne weltweite Solidarität der Staaten und Völker nicht befriedigend zu beantworten sind. Dazu gehört die Verknappung der natürlichen Ressourcen bei anhaltend gewaltigem Wachstum von Weltbevölkerung, Energieverbrauch, Produktion und Konsumtion. Ob Erdöl, Erze, Ackerflächen, Holz, Meeresfisch, Süßwasser, Luft: Die Menschheit steckt noch immer im Stadium des Raubbaus. Die Ressourcen-Bewirtschaftung bleibt den Märkten überlassen. Märkte aber wissen nichts von Solidarität, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit. Sie sind allein  guten Gewinnen verpflichtet. Dafür aber braucht es Wachstum, Wachstum, Wachstum. Grenzenloses Wachstum jedoch ist ein der irdischen Natur unbekanntes Prinzip.

Ein Dilemma, zu dem auch der Klimawandel gehört. Der trifft zuerst die Ärmsten am härtesten, obwohl die am wenigsten dazu beigetragen haben. Nun Gerechtigkeit walten zu lassen, ist nicht Sache der Natur, sondern diejenige der Menschen. Und Gerechtigkeit heißt hier: Den Ländern der Dritten Welt muss die Möglichkeit zugestanden werden, sich zu entwickeln, den Lebensstandard ihrer Bewohner zu verbessern. Gerechtigkeit heißt hier auch: Die alten Industrieländer können nicht länger ihr Wachstum zu Lasten der Entwicklungsländer forcieren.

Im globalen Dorf tendieren die Ungleichgewichte zwischen den Nationen Richtung Ausgleich, zumindest Neuordnung. Mag sein, dass Boomländer wie China oder Brasilien den ökonomische Kolonialismus des Westens beerben. Aber alten wie neuen Wirtschaftsmächten bleiben letztlich gleichermaßen zwei Grundprobleme: Einerseits müssen sie miteinander einen vernünftigen Weg für die Zukunft des globalen Dorfes finden, oder die Menschheit geht einer Epoche von Handels- und Ressourcenkriegen in einer klimatisch erschütterten Biosphäre entgegen.

Wenn Asiaten und Afrikanern der Kragen platzt

Andererseits müssen alle die Kluft zwischen Reich und Arm bei sich verkleinern. Das wäre ökonomisch sinnvoll. Vor allem aber: Irgendwann könnte auch Milliarden von einfachen Afrikanern, Indios, Asiaten der Kragen platzen – wenn sie feststellen, dass die Reichen immer reicher werden, während sie selbst arm bleiben oder im immer schneller rotierenden Hamsterrad  alter und neuer Arbeitsgesellschaften ihre ganze Lebensenergie für ein bestenfalls bescheidenes Einkommen verausgaben müssen.

Hunger ist die Pest der Zivilisation, Armut ihre Cholera, Anhäufung unerhörter Reichtümer in wenigen Händen ihr Schandmal und einfallsloses Festhalten an grenzenlosem Wachstum ihre Bankrotterklärung. Deshalb mag ein Ideal wie „Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität“ zwar weltfremd wirken, dennoch ist das Streben danach alternativlos.

Andreas Pecht

Erstabdruck 3. Januar 2011

Eine bald zehn Millarden Menschen zählenden Zivilisation muss sich von der Verbrennungsenergie emanzipieren

ape. Am Anfang der Zivilisation stand die Zähmung des wildwütigen Feuers. Gebändigt, wurde es zum Spender von Wärme und Licht, zum Kraftlieferanten und Werkzeug. Doch was Segen war, wird nun Fluch: Die Zahl der „Feuerstellen“ ist in die Milliarden gewachsen – sie fressen die globalen Brennstoffreserven weg und ihre Abgase verunstalten das planetare Klima.

Vor dem Kamin sitzen, in die Flammen schauen, dem Knacken der Scheite lauschen: Gemüter werden friedvoller, Worte bedächtiger, Gedanken freier. Das beruhigende Erleben des offenen, aber gebändigten Feuers ist ein Nachklang archaischer Zeiten, da die Glut im Steinkreis oder nachher im Herd Überlebensgarant für Horde und Sippe war.

Wann unsere Vorfahren aufhörten, den Tieren gleich ängstlich vor dem Feuer wegzulaufen, und begannen, es zu nutzen, liegt im Dunkel der Frühzeit verborgen. Die Forschung schreibt erste gegarte Nahrung dem Homo ercetus vor 700 000 Jahren zu. Er selbst konnte noch kein Feuer entzünden, hat sich bei natürlich entstandenen Bränden bedient. Die Kunst, mittels Feuerstein und Zunder Funken zu schlagen, gibt es seit gerade 35 000 Jahren.

Das Zeitalter des Holzes

So oder so: Erst die gezielte Nutzung des Feuers machte die Entwicklung des Menschen zur weltumspannend dominierenden Spezies möglich. Ohne Feuer keine optimierte Nahrungsverwertung durch Braten und Kochen. Ohne Feuer keine Besiedelung kälterer Weltgegenden. Ohne Feuer keine entwickelten Ton-Gefäße, erst recht keine Metallgewinnung. Kurzum: Ohne Feuer keine Zivilisation.

Primärer Brennstoff war über Jahrzehntausende Holz; sieht man von einigen Prozenten ab, die auf Stroh, getrockneten Dung oder seit 4000 Jahren auf Torf entfielen. Die zivilisatorische Entwicklung beruhte bis ins 18. Jahrhundert überwiegend auf regenerativen Energien. Selbst die Schmelztiegel der Antike und des Mittelalters wurden mit Holz respektive Holzkohle befeuert. Höhlen, Zelte, Häuser wurden mit brennenden Fackeln, Kienspänen, Pflanzenölen oder Tierfetten beleuchtet.

Eine ökologische Idylle waren die alten Zeiten dennoch nicht.  Das Wachstum der Populationen und ihr technischer Fortschritt gingen zu oft mit regionalem Raubbau einher. Manche Hochkultur endete als Wüstenei: Sie machte sich selbst den Garaus durch Verschmutzung der nahen Gewässer, Übernutzung der Äcker und Kahlschlag der Umgebungswälder für Brenn- und Bauholz. Die Gewinnung des Holzes in der Ferne und sein Transport über weite Strecken konnten ein Gemeinwesen existenziell schwächen: Ab einem gewissen Punkt übersteigt der Aufwand zur Herbeischaffung von Ressourcen eben die ökonomischen Möglichkeiten einer Gemeinschaft.

Mit Zitronen gehandelt

Aufs Heute übertragen: Wenn Förderung, Aufbereitung und Transport von sibirischer Kohle oder Tiefsee-Öl fast so viel Energie verbrauchen wie die Brennstoffe am Ende hergeben, handelt man sprichwörtlich mit Zitronen. Vor diesem Problem stehen wir. Denn es wurden zwar jüngst beträchtliche neue Öl-Lagerstätten vor Brasilien und Afrika geortet. Aber was nützen sie, wenn das Öl so tief liegt, dass es kaum wirtschaftlich zu fördern ist. Optimistische Prognosen über  noch in der Erdkruste steckende Vorräte an Kohle, Öl, Gas sind bloß Spiegelfechterei, solange sie nicht nach ihrer technischen Erreichbarkeit, ihrer wirtschaftlichen Förderbarkeit und ihrer Brennqualität beurteilt werden. Auch aus Rhein-Sand ließe sich heute noch Gold waschen – Aufwand und Ertrag stünden freilich in irrwitzigem Missverhältnis.

Wir erleben derzeit bei Kohle, Öl, Gas die frühe Phase einer Entwicklung, wie sie die Altvorderen im  18./19. Jahrhundert als Endstadium beim Holz erlebten: Mangel durch Übernutzung. Sprunghaftes Bevölkerungswachstum und industrielle Revolution ließen den Verbrauch von Holz  in bis dahin nie gekannte Höhen schnellen. Die Wälder wurden für Bergwerke, Eisenhütten, Schiffswerften, Lokomotiven, Städte flachgelegt. Der Siegeszug der Dampfmaschine ab 1769 steigerte den Brennstoffhunger ins Unermessliche – machte Holz zu einem raren Gut und fossile Kohle zwangsweise gesellschaftsfähig.

Der Verbrauch von Kohle stieg weltweit von 10 Millionen Tonnen im Jahre 1800  auf 760 Millionen Tonnen um 1900, deckte dann 90 Prozent des Energiebedarfs, konzentriert auf die Industrieländer. Freilich war auch schon im Mittelalter vielerorts Kohle abgebaut worden. Allerdings nur in bescheidenem Maße, denn Kohle galt dazumal als Notbehelf. Man mochte sie nicht, weil dreckig, beim Verbrennen stinkend und ihre Asche für die Gartendüngung unbrauchbar.

Aber es führte an Kohle so wenig ein Weg vorbei wie nachher am Öl. Holz konnte den Energiehunger einer von 800 Millionen Köpfen um das Jahr 1750 auf 1,6 Milliarden gewachsenen Menschheit um 1900 nicht decken. Diese Entwicklung setzt sich seither in Potenz fort. Es hat sich nicht nur die Weltbevölkerung seit 1900 auf sieben Milliarden Menschen heute vervierfacht. Zugleich stieg der Energieverbrauch um das Elffache. Im globalen Durchschnitt verbraucht ein Mensch heute drei mal mehr Energie als sein Vorfahr vor 100 Jahren.

Nachholbedarf der Dritten Welt

Gemessen am damaligen Pro-Kopf-Energieverbrauch ist es, als lebten derzeit nicht 7, sondern 21 Milliarden Menschen auf Erden. Tendenz? Die Weltbevölkerung wird bis 2050 auf reale 9 bis 10 Milliarden anwachsen. Und ohne durchgreifende Energiewende wird der Energieverbrauch pro Kopf sich im Verhältnis zu 1900 dann mindestens vervierfacht haben. Ein Grund: Der Nachholbedarf in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Niemand kann erwarten, dass es beim jetzigen Ungleichgewicht bleibt: In Deutschland werden je Nase und Tag 137 Kilowattstunden verbraucht, in den USA gar 250, während sich Chinesen mit 34,  Inder mit nur 12 kWh bescheiden.

Es ist schlechterdings undenkbar, dass ein bis 2030 noch einmal um 50 Prozent ansteigender Welt-Energiebedarf (so die Prognose) gedeckt werden kann durch die Feuer-Technik, auf der die Zivilisation bis heute beruht. Noch immer beziehen wir 90 Prozent unserer Energie aus dem Feuer, auch wenn die Flammen inzwischen dem Blick vielfach entzogen sind. Hinter fast jedem Heizkörper verbirgt sich eine Feuerstelle, sei es im Keller oder im Fernwärmewerk. Lampen, Computer, Haushaltsgeräte, Maschinen, ICEs funktionieren überwiegend nur, weil in Kraftwerken große Feuer brennen. Schiffe, Flugzeuge und weltweit 800 Millionen Autos werden von mitgeführten Verbrennungskraftwerken angetrieben . . .

Die Menschheit verbrennt derzeit täglich knapp 90 Millionen Barrel Öl. Wenn keiner die Notbremse zieht, sind es in 20 Jahren schon mehr als 130 Millionen Barrel pro Tag, also rund 50 Milliarden Barrel im Jahr. Binnen nur einer Generation (30 Jahre) würden unsere Kinder oder Enkel dann 1500 Milliarden Barrel Erdöl verheizen, bis zum Ende des Jahrhunderts wären das fast  4000 Milliarden. Daneben nehmen sich die seit 1920 insgesamt verbrannten 900 Milliarden Barrel bescheiden aus. Daneben wirken Jubelmeldungen über neu entdeckte Lagerstätten mit vermuteten Reserven im zweistelligen Milliardenbereich bloß noch lächerlich. Ähnliches gilt auch für die anderen Brennstoffe, für Kohle, Gas, Torf, ja selbst für das Holz. Denn regenerativ und klimaneutral ist Holz nur, wenn der Einschlag durch Wiederaufforstung in adäquater Menge und Aufwuchszeit ausgeglichen wird.

Menschheit in der Sackgasse

Es sind diese Dimensionen des globalen Energiebedarfs, die unmissverständlich vor Augen führen: Eine industrielle Weltzivilisation von bald zehn Milliarden Köpfen kann nie und nimmer beim Feuer als zentraler Energiequelle bleiben. Wir stehen vor einer entwicklungsgeschichtlichen Sackgasse: Je kräftiger wir die Feuer stochen, umso mehr machen wir uns via Klimawandel die Umwelt zum Feind und umso eher werden schon unsere nächsten Nachkommen ohne bezahlbaren Brennstoff dastehen.

Aus dem Feuer wurde die Zivilisation geboren, vom Feuer wurde sie genährt. Nach 700 000 Jahren muss sie sich jetzt aber vom Feuer emanzipieren, will sie nicht daran zugrunde gehen. Die Emanzipation ist zwingend, und sie ist möglich. Die Techniken sind alle da, um vom Feuer auf Sonne, Wind, Wasser und Sparsamkeit als zwar nicht einzige, aber künftig dominierende Energiequelle umzusteigen. Wir müssen wollen und uns dabei sputen. Geht nicht? Gibt’s nicht! Weil uns auf dem übervölkerten Planeten sowieso keine Alternative bleibt.

Andreas Pecht

Erstabdruck am 2. Januar 2010

Das globale Finanzdesaster hat die Heilslehre des Neoliberalismus entzaubert – Zum neuen Jahr Betrachtungen über die Möglichkeit einer Zeitenwende

ape. Es sind große Worte gefallen 2008. Vom Ende des Neoliberalismus war die Rede, gar von der Geburt  eines dritten Weges zwischen Sozialismus und Turbokapitalismus. Im Zuge der Finanzkrise signalisierten  Begriffe wie Zeitenwende oder Paradigmenwechsel einen grundstürzenden Wandel der öffentlichen Meinung. Das traditionelle Neujahrsessay beleuchtet die Abkehr von den Glücksverheißungen der staatsfreien Märkte, die einhergeht mit der Hoffnung auf die Rückkehr des Staates als dominante Ordnungskraft im Interesse des Gemeinwohls.

Das Besondere des Jahres 2008 war – wird es auch 2009 bleiben – die Gleichzeitigkeit von  vier Weltkrisen: Finanz- und Wirtschaftskrise, Klimakrise, Ernährungskrise sowie planetare Übervölkerung. Alle vier stehen in mannigfachen Wechselwirkungen miteinander. Allen vieren ist gemeinsam: Sie sind Ergebnis scheinbar grenzenlosen Wachstums. Eine Weltbevölkerung, die rasend schnell auf acht Milliarden Menschen anschwillt, will ernährt sein. Die gewaltigen Völkerschaften der Schwellenländer sind angetreten zur Aufholjagd in Richtung Erstwelt-Lebensstandard. Die alten Industriemächte wollen ihre Vormachtstellung behaupten und  weiter wachsen.

Aus diesen Faktoren resultiert tendenziell steigender Verbrauch von Ressourcen jedweder Art, seien es Ackerfläche oder Wasser, seien es Erze, Holz, Kohle, Gas oder Öl. Eine der Folgen: Im Wettlauf zwischen Befeuerung des Klimawandels und dessen Begrenzung hat Ersteres deutlich die Nase vorn. Über all dem schwebt ein Paradoxon: Ein Weltwirtschaftssystem, das, erstens, ohne permanentes Wachstum nicht funktioniert; das, zweitens,  kaum nach dem Nutzwert-Ergebnis von Investitionen fragt, sondern bloß nach Rendite.

Über Jahre galt offiziell als ausgemacht, dass solches Gewinnstreben positiv sei, weil es letztlich doch irgendwie zu rechtem Nutzen und Wohlstand führe – wenngleich auf manch schmerzhaften Umwegen. Weshalb auch Privatisierung rundum als probates Mittel galt zur Senkung öffentlicher Ausgaben bei zugleich angeblich verbesserter Erfüllung der vormals öffentlichen Aufgaben. Ob Post, Bahn oder Müllabfuhr, ob Stromnetz, Wasserversorgung oder Straßenbau, ob Gesundheitsdienst, Universitäten oder Altersvorsorge: „Liberalisierung“ wurde als allfälliges Heilsversprechen mit schier religiöser Inbrunst aufgegriffen.

Traumprofit ohne Arbeit?

Dem Versprechen erlagen zuletzt auch jene Bürger, die nach Abzug der Lebenshaltung noch etwas beiseite legen konnten. Sie folgten gutgläubig oder blind vor Gier dem Vorbild und dem Locken der Finanzwirtschaft,  steckten ihr Geld in allerlei Supergewinn verheißende Abenteuer. Das frühe 21. Jahrhundert war wie im Fieber von einer absurden Illusion durchtränkt: Geld arbeite – und zwar profitabler als es Menschen je könnten. Vergessen die Grunderkenntnis allen Wirtschaftens: Neuen Wert, echten Mehrwert, schafft am Ende nur menschliche Arbeit!

Das Resultat ist bekannt. Es darf derzeit als schwerste Finanzkrise seit 1929 bestaunt, in den nächsten Jahren womöglich als harte Wirtschaftskrise durchlitten und nachher von überschuldeten Folgegenerationen ausgebadet werden. Wie dieser Einschnitt das Denken der Menschen verändert, lässt sich vollends noch nicht überschauen.

Unverkennbar ist indes schon dies: 2008 platzte nicht nur eine weitere Spekulationsblase, sondern erlitt vor aller Augen die Heilslehre vom beglückenden Wirken ungehemmter Marktkräfte völligen Schiffbruch. Der Markt und seine großmächtigen Akteure haben ihr Ansehen verspielt. Kaum einer mag ihnen noch vertrauen: die Arbeiter nicht, die Mittelschicht nicht, selbst manch mittelständischer Unternehmer sieht sich von Spekulanten, Bankern und Konzernmogulen mit dem Löffel barbiert.

Das entfesselte Spiel des großen Geldes hat in seinem Furor gleich das ganze Casino zertrümmert und die Weltwirtschaft an die Wand gefahren. Niemand traut den Spielern zu, dass sie aus eigener Kraft die Malaise überwinden; nicht einmal die Spieler selbst. Leitmedien prangern „Das Kapital-Verbrechen“ an,  fordern „Zivilisiert den Kapitalismus“. So böse Befunde gab es lange keine. Denn sie meinen nicht weniger, als dass das weltweit vorherrschende Wirtschaftssystem in seiner jetzigen Ausprägung die Zivilisation insgesamt unterminiere. Auf den Plan gerufen wird deshalb als letzter Retter in der Not der eben noch als antiquiert, unwirtschaftlich, überflüssig gescholtene „Hemmschuh des freien Marktes“: der Staat.

Plötzlich stellt sich heraus, es existiert jenseits vordergründiger Rentabilität, jenseits kurzfristiger Profitinteressen, jenseits des ökonomischen „Krieges aller gegen alle“ (Hobbes) noch ein Interesse höherer Kategorie: das Interesse am Überleben und Gedeihen der Gesellschaft als Ganzes – das Gemeinwohl. Wenn das regellose Kampfspiel der Marktkräfte unfähig ist, die Wirtschaft zum Nutzen aller am Laufen zu halten, muss eine übergeordnete Instanz eingreifen. Da es der liebe Gott nicht tut, bleibt nur der Staat. Kann der das? Gegenfrage: Wer sonst sollte den Job machen, wenn die hauptberuflichen Finanzjongleure entweder den Verstand verloren haben oder wie Goethes Zauberlehrling unfähig sind, die Geister zu bändigen, die sie riefen?

„O weh, der Bock wird Gärtner“, fürchtet da manch einer mit Verweis auf die unrühmliche Figur, die deutsche Staatsbanken in der Finanzkrise abgaben. Doch fatal sind nicht die staatlichen Banken selbst. Fatal ist, dass sie ihr ureigentliches Aufgabenfeld verließen, um sich gemein zu machen mit den Wall-Street-Zockern, dass sie wie diese nur noch im Sinn hatten: Geld scheffeln, um des Geldes willen – dabei jedes Risiko verachtend und im Rausch des großen Spieles ihre besondere Verantwortung als Staatseinrichtung vergessend. Es ist halt so: Wenn staatliche Institutionen die Marktmechanismen zur Maxime des eigenen Handelns erheben, dann droht der Staat zum lächerlichen Spielball dieses Marktes und der dort mächtigsten Akteure zu verkommen.

Auf diesem gefährlichen Pfad der Unterwerfung von Staat und Gesellschaft unter das Primat der Profitabilität wandelte nicht nur die deutsche Staatspolitik zuletzt in ungebührlicher Häufigkeit. Doch jetzt muss sie ihn verlassen, will sie das Gemeinwesen aus dem durchs Markttreiben verursachten Notstand retten. Was ist das eigentlich, der Staat, auf den sich nun alle Hoffnungen richten? Das obige Foto zeigt den Kopfteil der Titelillustration zu Thomas Hobbes' Schrift „Leviathan“ von 1651. Der Autor attestiert frei nach Plautus, dass „der Mensch dem Menschen ein Wolf ist“. Deshalb bedürfe jede Gesellschaft einer übergeordneten Instanz, die ihr Überleben sichert.

Der Staat sind wir

Zu diesem Zweck wird jene Instanz, der Staat, von der Gemeinschaft mit großer Macht ausgestattet, auf dass er sie zum Wohle aller einsesetze. Einiges am Modell von Hobbes ist mit moderner Demokratie kaum vereinbar. Grundlegend aber bleibt: Der Staat ist das Ergebnis einer Übereinkunft zwischen seinen Bürgern, getroffen  zwecks Überleben, Frieden, Wohlfahrt und Schutz für jedermann. Dem heutigen demokratischen Staat fällt darüber hinaus die Rolle des Garanten möglichst weitgreifender Individual-Freiheiten zu.

In der Illustration zum „Leviathan“ setzt sich der Körper des Staates (den sich Hobbes vor 360 Jahren noch als aufgeklärte Monarchie wünschte) aus einer Vielzahl von Menschen zusammen. Das versinnbildlicht: Der Staat, das sind letztlich wir alle – mögen uns Finanzamt, Verkehrspolizei, Gemeindeverwaltung oder die Politik schlechthin im Einzelfall noch so sehr ärgern.
Geschimpft wird über den Staat seit eh und je. In den letzten 20 Jahren allerdings wurde er mehr und mehr als Ursache schlechthin für alles Übel ringsumher betrachtet. Wuchernde Bürokratie, steigende Steuern und Sozialabgaben, farblose bis haltlose Politiker, schlechte Politik . . . waren Öl ins Feuer der Staatsverdrossenheit. Derweil avancierten die Großakteure der Banken und Konzerne zu fürstlich honorierten Helden der Moderne. Fortschritt schien es bloß noch im Reich der Global Player zu geben.

Mehr noch: Die Mechanismen der globalen Ökonomie hatten bald die Statur unabänderlicher Naturgesetze angenommen. Denen haben wir Jahr um Jahr immer weitere Bereiche des Lebens unterworfen. Bis wir unser Sozialsystem kaum noch wiedererkennen. Bis Schulen und Universitäten gänzlich auf Berufszurichtung statt Menschenbildung verpflichtet sind. Bis Mitbestimmungsrechte und Sozialbindung des Kapitals vollends der Vergangenheit angehören. Bis mit den Ruhephasen der Sonn- und Feiertage auch der geregelte Feierabend verschwindet. Bis am Ende selbst Freizeit und Erholung, Familie und Freundschaft, ja sogar die Künste in den Dienst von „Wettbewerbsfähigkeit“ und „Standortentwicklung“ gezwungen sind.

Jetzt allerdings macht die große Krise des Finanzkapitalismus mit einem Mal deutlich: Die Mechanismen des Marktes sind keine Naturgesetze, denen man sich nur immer weiter anzupassen habe; vielmehr handelt es sich um menschliche Verkehrsformen, die folglich  auch beeinflussbar, ja veränderbar sind. Demnach war es keine Altherren-Spinnerei, als Helmut Schmidt vor mehr als zehn Jahren forderte, die Staaten sollten der Wirtschaft ein Reglement aufladen, das zu vernünftigem Handeln zwinge. Der Ruf nach einem anderen, einem regulierten  Kapitalismus ist übers Jahr 2008 allgemein geworden, wird markig vorgetragen von Linksaußen bis tief hinein ins rechtsbürgerliche Lager. Wer hat die Kraft und die Macht zu regulieren? Der Staat.

Politik kann und muss gestalten

Der Staat (die Staatengemeinschaft) allein kann den Kapitalismus davor bewahren, zum Totengräber seiner selbst zu werden. So weckt die Finanzkrise zugleich die Hoffnung, wir könnten wieder Herr unsrer Geschicke sein, statt nur den Diktaten einer vermeintlich naturgesetzlichen Globalökonomie zu gehorchen. Dazu muss der Staat aber auch regulieren wollen, muss die Politik Wille wie Mut aufbringen, vor allem den eben noch schier allmächtigen Konzernen Vernunft und Rücksicht auf die Allgemeinheit abzuverlangen, nötigenfalls abzuzwingen.

Die Gemeinschaft der Bürger wird sehr  genau zu beobachten haben, ob die von ihr per Wahlurne beauftragten Funktionsträger des Staates so verfahren. Oder ob sie Abermilliarden unseres Geldes nur hergeben, um die Karre Kapitalismus aus dem Dreck zu ziehen: Auf dass sie nachher in gewohnter Manier flugs dem nächsten noch größeren Crash entgegen rase.

Mit unserem Geld wird nun der Kapitalismus vor unfreiwilligem Selbstmord bewahrt. Weshalb es  nur recht und billig ist, Gegenleistungen einzufordern. Etwa: Sozialen Anstand, Mitverantwortung für das Gemeinwesen und angemessene Beteiligung an dessen Kosten, auskömmlichen Lohn für alle arbeitenden Menschen, Mitversorgung der Schwachen. Schließlich ein vernünftiges Wirtschaften, das auf einem lebenswerten Planeten unser aller kulturelles Menschentum um seiner selbst willen respektiert – statt es zum bloßen Humankapital herabzuwürdigen und profitabel zu verbrauchen.

Andreas Pecht

Erstabdruck 2. Januar 2009

Ergänzend zum Thema sei auf einen zeitgleich bei "zeit online" erschienenen Artikel "Die Entstaatlichung stoppen" von Erhard Eppler verwiesen: www.zeit.de/online/2008/52/Eppler-de

Die Marktwirtschaft wird zur Marktgesellschaft: Kunst und Bildung, Kindheit und Freizeit müssen sich zusehends durch Effizienz legitimieren

ape. Zwei Drittel der Deutschen halten sich für religiös. Drei Viertel meinen, die Regierung tue zu wenig für soziale Gerechtigkeit. Und für fast alle ist Liebe das Wichtigste und Schönste auf Erden. Größer kann der Widerspruch zwischen ideeller Herzensstimmung und einer nahezu allumfassend auf Effizienz, Nützlichkeit, Rentabilität ausgerichteten Gegenwart kaum mehr sein. Zum Jahresbeginn 2008 einige Gedanken über das sich verstärkende Befremden zwischen der Realität und dem Menschlichen.

Ein Gespenst geht um in der Welt. Das Gespenst der Marktgesellschaft. Marktgesellschaft? Wir kennen das Wort Marktwirtschaft, begreifen es als Synonym für eine Kapitalismus genannte Wirtschaftsweise. Wir wissen um die Soziale Marktwirtschaft und verstehen darunter einen domestizierten, gezähmten Kapitalismus, der nicht zuletzt auf soziale Gerechtigkeit verpflichtet ist, sein sollte. Was aber meint Marktgesellschaft?

Der in jüngerer Zeit vermehrt im öffentlichen Diskurs auftauchende Begriff ist nicht wirklich neu. Im vergangenen Jahrhundert wurde er häufig nur als anderer Ausdruck für Marktwirtschaft benutzt. Oder er bezeichnete schlicht eine auf marktwirtschaftlicher Basis agierende Gesellschaft. „Marktgesellschaft“, ein im Grunde also unverdächtiges Wort – dem sich neuerdings aber ein bedrohlicher Unterton beigesellt. Der Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer spricht von einem aktuell „forcierten Übergang von der Marktwirtschaft zur Marktgesellschaft“. Der zeige sich darin, „dass ökonomistische Prinzipien wie Effizienz und Nützlichkeit das soziale Leben durchdringen und andere, nicht marktrelevante Grundsätze  zurückdrängen“.

Nützlichkeit, Zweckmäßigkeit, letztlich Rentabilität werden in Bereichen zu Leit-Maßstäben, in denen vordem Mitgefühl und Fürsorge, Muße und zweckfreies Spiel, Liebe und Lust, ungebundene Geistigkeit und frei schwebende Gefühligkeit vorherrschten: Soziale Pflege und Solidarität, Kunst und Kultur, Partnerschaft und Familie, Kindheit und Bildung beispielsweise. In diesem Sinne bedeutet „Marktgesellschaft“, zugespitzt formuliert: Die Gesetze des Marktes durchdringen, prägen und dominieren die gesamte Gesellschaft. Alle Werte werden in Geldwerte umgemünzt, alle Maßstäbe entlang der Kategorie Nützlichkeit geeicht.

Heitmeyers Forschungen über „Deutsche Zustände“ befassen sich mit Einstellungen der Deutschen gegenüber wirtschaftlich schwachen Gruppen wie Fremden, Obdachlosen, Langzeitarbeitslosen oder Behinderten. Und er findet „Hinweise auf die moralvernichtenden Effekte des dominierenden Marktes“, insofern unter den allgemein sich verstärkenden Nützlichkeits-Aspekten abwertende Haltungen gegenüber schwächeren Bevölkerungsgruppen zunehmen. „Menschen, die wenig nützlich sind, kann sich keine Gesellschaft leisten“, dieser Aussage stimmten bei einer Umfrage 33,3 Prozent der befragten Deutschen zu. Die These „wir nehmen in unserer Gesellschaft zu viel Rücksicht auf Versager“ erfuhr 42,3 Prozent Zustimmung.

Die ökonomistische Orientierung ist in den Köpfen angekommen, ringt dort mit älteren sozialen und humanen Grundeinstellungen. Der Wandlungsprozess von der Marktwirtschaft zur Marktgesellschaft geht schleichend vor sich. Erst der Rückblick macht das Ausmaß seines Fortschreitens auch auf Feldern bewusst, die man für weitgehend unanfällig gehalten hatte. Kunst und Kultur beispielsweise haben während der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte einen tief greifenden Bedeutungswandel vom „weichen Gesellschaftsfaktor“ zum „harten Wirtschaftsfaktor“ durchgemacht.

Als zu  Beginn der 90er Sparwellen durch die Kulturförderung der Öffentlichen Hand zu fluten begannen, versuchten Intendanten, Festivalmacher, Künstler ihr Metier in den Rang eines ökonomisch nützlichen Elements für den Standortwettbewerb zu erheben. Eine in dieser Szene ungewöhnliche Argumentation, die Anfangs oft bloß als bemühter Lobbyismus in eigener Sache belächelt wurde. Heute spielt das kulturelle Angebot bei jeder Regionen-Bewertung, jedem Städte-Ranking und jeder Prognose auf die Zukunftschancen urbaner wie ländlicher Quartiere im Orchester aus Gewerbe, Verkehrserschließung  und Bildungseinrichtungen gleichberechtigt mit. Heute klotzen und protzen Landes- und Kommunalpolitik sowie Tourismuswerbung mit allem, was sich am Ort irgendwie als Kunst und Kultur bezeichnen lässt. Burgen und Schlösser, Theater und Museen, Kulturfabriken und Kleinkunstclubs, Festivals und Sonderevents aller Künste: Wehe der Stadt, die derartiges nicht zu bieten hat.

Kunst und Kultur sind somit nicht länger zivilisatorische Werte an sich, sie werden tatsächlich als Wirtschaftsfaktor begriffen. Und als solcher auch bewertet: Wie man den Wert einer Fernsehsendung nach der Einschaltquote bemisst, so nunmehr den Wert von Konzerten, Ausstellungen oder Theaterinszenierungen nach der Menge und Zahlungsfähigkeit des Publikums, das sie mobilisieren. Keine Frage: Vor vollem Haus zu spielen ist angenehmer als vor halbvollem oder fast leerem. Wenn die Künstler allerdings anfangen, sich im Hinblick  auf Publikums-Zugkraft zu verbiegen, dann verabschiedet sich die Kunst von ihrem Selbstverständnis. Kunst und Kultur werden sich selbst fremd, sobald sie ökonomische Nützlichkeit als Primat fürs eigene Schaffen anerkennen.

Dies ist eine schwierige Diskussion, weil in den meisten Köpfen längst als selbstverständlich gilt, dass auch Kunst „sich rechnen muss“, sich durch Nützlichkeit zu legitimieren hat. Ein Selbstverständnis indes, das deutscher Geistestradition widerspricht, wie wir sie in der Weimarer Klassik, im Idealismus, in der Romantik begründet finden. Den Rückgriff auf diese Tradition mahnt eines der wohl wichtigsten Bücher des Jahres 2007 an: Rüdiger Safranskis „Romantik. Eine deutsche Affäre“ (Hanser). Darin werden Philosophie und Literatur vom Ende des 18. Jahrhunderts und das ganze 19. hindurch dargestellt als Gegenbewegung zum ebenso gefühlskalten wie geschäftstüchtigen Negativ-Ausfluss des Rationalismus: dem Diktat der Nützlichkeit, das etwa Friedrich Schiller so sehr beklagt: „Der Nutzen ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte fronen und alle Talente huldigen sollen. Auf dieser groben Waage hat das geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht.“

Schiller auch war es, der uns vor mehr als 200 Jahren ins Stammbuch schrieb, dass das ureigentlich Menschliche sich nicht aus wirtschaftlichem Tun definiert, sondern „der Mensch nur da ganz Mensch ist, wo er spielt“. Der Dichterphilosoph meint mit „Spielen“ Freiheitsräume gegenüber den Diktaten von animalischen Affekten sowie von Geschäften und profaner Nützlichkeit. In diesem Sinne ist, so fasst Safranski den Schiller zusammen, „Kunst also erstens Spiel, zweitens Selbstzweck und drittens kompensiert sie die spezifische Deformation der bürgerlichen Gesellschaft: das entwickelte System der Arbeitsteilung“. Das Spiel der Kunst ermuntere den Menschen zu tun, was ihm Arbeitsteilung und Marktdominanz verwehren:  Alle seine Kräften zu entfalten – Verstand, Gefühl, Einbildungskraft, Erinnerung und Erwartung. Diese Funktion aber kann die Kunst nur erfüllen, „wenn sie sich selbst will“, wenn sie - wie Liebe, Freundschaft oder bisweilen die Religiosität - ihren Zweck in sich selbst findet. Dann „kann es geschehen, dass sie (die Kunst) auch, gewissermaßen unbeabsichtigt, der Gesellschaft dient“.

Der Gedanke von der Vollendung des Homo sapiens im autonomen Homo ludens, im spielenden Menschen, stellt gewissermaßen den Gegenpol zur Marktgesellschaft dar. Dieser Zusammenhang wird nirgendwo deutlicher als im gegenwärtigen Umgang mit Kindheit und Schulzeit. Ausgerechnet jene Lebensphase, in der das Spielen noch am meisten als urwüchsig das Individuum bildende Kraft wirkt, soll nun fortschreitend verschult werden: die Kindheit. Kindergärten werden zu Institutionen frühschulischer Ausbildung umgemodelt. Der natürliche Spieltrieb der Kleinen wird kanalisiert, wird „nutzbar“ gemacht als Instrument früher Schulung. Ehedem freies Spiel verwandelt sich in von Erwachsenen vorgegebene Lernstrukturen – zum Zwecke der Effizienzsteigerung des gesamten Bildungsweges.

Natürlich, diese Entwicklung wird in teils guter Absicht vorangetrieben: Um Defizite und Ungleichgewichte auszugleichen, die Familien, Gesellschaft, Umwelt, Kultur und Unkultur den Kindern mit in die Wiege legen und auf den Weg geben; um die späteren Chancen des Nachwuchses auf dem Überlebens-Markt zu verbessern. Aber wird da nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet? Stiehlt man den Kindern nicht auch die Kindheit, wenn man ihr Spiel seiner selbstvergessenen Zweckfreiheit, seiner anarchischen Neugier beraubt und es vollends einem strikten Reglement der Nützlichkeit unterwirft? Ähnliche Fragestellungen lassen sich gegenüber den nachfolgenden Bildungsgängen aufwerfen. Man lernt für das Leben, nicht für die Schule – diese uralte Weisheit ist in ein großes Missverständnis umgeschlagen, insofern heutzutage unter Leben zumeist bloß Erwerbsleben verstanden wird.

„In demselben Maße, wie die Gesellschaft im Ganzen reicher und komplexer wird, lässt sie den Einzelnen in Hinsicht auf die Entfaltung seiner Anlagen und Kräfte verarmen“, schreibt  Safranski in Anlehnung an Rousseau, Schiller, Hölderlin und Hegel, an Karl Marx und Max Weber. Wir finden diese Aussage bestätigt etwa in der Verkürzung der Gymnasial- und Studienzeiten, im wachsenden Anteil der technisch-naturwissenschaftlichen Fächer am Schulunterricht, in der Verschulung des Hochschulstudiums im Rahmen des Bologna-Prozesses. Das gesamte Bildungswesen hat sich von Humboldt verabschiedet und  den Weg zum wirtschaftlich nützlichen Ausbildungswesen eingeschlagen. Sicher, das erhöht die Chancen des Einzelnen auf den Märkten. Zugleich aber reduziert es seine Chancen auf Ausformung einer im humanistischen Sinne reifen Persönlichkeit. Eigentlich steht die Bildungspolitik also vor einem schwerwiegenden Dilemma. Doch sorgt sie sich darum eher wenig, weil sie mit forschem Pragmatismus die Weichen längst in Richtung wirtschaftliche Nützlichkeit gestellt hat.

Die Entwicklung zur Marktgesellschaft macht weder vor Kunst und Kultur noch vor Kindheit und Bildung halt. Sie macht vor gar nichts halt. Sport zum Beispiel ist ein großes Geschäft, und Freude daran genügt nicht mehr als Motiv, ihn auszuüben: Sport ist nützlich, er stärkt die Gesundheit, erhöht das Leistungsvermögen und verlängert das Leben. Selbst der Kampf um den Erhalt unserer Umwelt folgt nicht der Einsicht ins Notwendige, sondern gehorcht den Gesetzen des Marktes; siehe CO2-Ablasshandel. Entweder wird Klimaschutz zu einem großen Geschäft oder es findet keiner statt – die internationale Umweltpolitik hat sich nicht erst in Bali dieser Logik hingegeben. Und sogar das Kinderkriegen darf nicht mehr einfach um seiner selbst willen betrieben oder unterlassen werden: Kinder zu zeugen, gilt hier und heute vor allem als ökonomische Notwendigkeit zwecks Beschaffung von Geldmitteln für die Sozialsysteme.

Die Krux am rationalen Nützlichkeitswahn ist: Er macht, vielleicht, den Magen voll, lässt aber das Herz frieren und verödet mannigfach sinnliche wie intellektuelle Potenziale. Kurzum: Ein vollends zur Marktgesellschaft verkommenes Gemeinwesen verurteilt seine Individuen dazu, eine Existenz als „Bruchstücke“ (Schiller) ihrer selbst zu führen. Wenngleich auf wesentlich niedrigerem Niveau als heute, so bestand diese Tendenz doch bereits im 19. Jahrhundert. Die große geistig-kulturelle Gegenbewegung dazu war die Romantik, diese schwärmerisch-seelenvolle Hinwendung zum Fantastischen, Träumerischen, Ganzheitlichen, auch Metaphysischen – zur verspielten und deshalb „erhabenen Nutzlosigkeit“. Klägliche Überreste davon treiben uns heute zu Romantikabenden in Romantikhotels oder vor die Leinwände und Mattscheiben, über die mit Sehnsüchten nach Herzenswärme und freiem Abenteurertum aufgeladene Schinken flimmern. Vom romantischen Universalgeist ist das kleine Glück eines verdrückten Tränchens oder kurzen Schauderns geblieben. Aber auch das gehört längst zum Geschäft.   

Andreas Pecht

Erstabdruck am 2. Januar 2008 in  der Rhein-Zeitung, wo seit den späten 1990ern im Kulturteil jährlich mein "Neujahrsessay"  publiziert wird

Mit dem Veränderungsdruck globalisierter Gegenwart wachsen menschliche Urängste und das natürliche Schutzbedürfnis

ape. Das alte Jahre wurde, das neue wird  von zwei  gegenläufigen Haupttendenzen geprägt. Einerseits stellen  Globalisierung und Klimawandel  bisherige Lebensart radikal in Frage. Je heftiger sie das tun, umso stärker wird andererseits die naturwüchsige Sehnsucht der Menschen nach Vertrautem und nach Geborgenheit. Im nachfolgenden Essay  wird dieses Spannungsgefüge etwas genauer betrachtet.

Nichts bleibt, wie es war; nichts wird bleiben, wie es ist. So lautet das einzige Versprechen, dessen Umsetzung die Moderne tatsächlich garantiert. Beim Übrigen gilt: Ausgang ungewiss. Das  Versprechen ist ein zweischneidiges. Denn einerseits strotzt die Spezies Mensch von Neugierde, Abenteuerlust, Veränderungswillen. Andererseits bedürfen die Individuen der Geborgenheit, also der Sicherheit und verlässlichen Versorgung, der Vertrautheit einer Heimstätte, der kulturellen Verwurzelung, des menschlichen Miteinanders. Zwischen beiden Polen ein Gleichgewicht herzustellen, dem gilt humanes Streben. Die Gegenwart indes scheint von solchem Gleichgewicht weiter entfernt denn je.

Wer oder was ist verantwortlich?  Ökonomie, Politik und Kultur geben unisono Antwort mit dem Wort Globalisierung. Dieses erfährt im öffentlichen Sprachgebrauch viel sagende Spezifizierungen: globaler Kapitalismus, Turbo-,  Raubtier-, neuerdings auch Brachialkapitalismus. Die Globalisierung – besser sagt man wohl: diese Art Globalisierung – zeichnet einen Weg  vor,  der an „Reformen“ nicht vorbeikomme, wie es heißt. Wobei das Wort Reformen verharmlost, was vor sich geht: ein grundstürzender Wandel unserer Lebenskultur, eine Revolution. Die ist allerdings von oben verordnet und hat den Makel, dass die Ziele ihrer Führer an den Erfahrungen und den Bedürfnisses „prekärer“ Unterschicht und abstiegsverängstigter Mittelschicht meist vorbei gehen.

ARBEITNEHMER SUPERMANN UND SUPERFRAU

Nichts bleibt, wie es war.  Ob der „reformierte“ Sozialstaat schließlich den Namen Sozialstaat noch verdient, ist fraglich. „Je mehr der Sozialstaat diskreditiert wurde, umso kälter wurde auch der Ton in den Betrieben“, schreibt Heribert Prantl in seinem Buch über „die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit“. Das ganze Land wird nurmehr als Wirtschaftsstandort durchdekliniert. Darin setzt sich  ein neues Verständnis vom  Arbeitnehmer fest: die vielseitig gebildete, grenzenlos flexible, allseits mobile, über jede Gebühr belastbare und dabei möglichst preiswerte Arbeitskraft. Supermann und Superfrau, die nur eines nicht haben dürfen: Schwächen – und versorgungsbedürftige Kinder oder Alte.

Nichts bleibt, wie es war. Künftige Arbeitsbiografien werden anders verlaufen als  bisherige. Wie, auch das lässt sich am Sprachgebrauch ablesen. Wirtschaft, Politik, Medien sprechen nur noch von der Notwendigkeit neuer „Jobs“. Das gemeine Volk ist  allerdings nicht so furchtbar scharf auf Jobs. Was dort gewünscht, ersehnt, für nötig befunden wird, nennt sich „Arbeitsplätze“.
Job und Arbeitsplatz, das sind keineswegs bloß verschiedene Wörter für dieselbe Sache. Arbeitsplatz meint eine feste, verlässliche, entwicklungsfähige, auf Gegenseitigkeit und Langfristigkeit angelegte Anstellung. Jobs hingegen sind, wie in den USA vorexerziert, bloß lose Verbindungen auf Zeit. Jobs sind Beschäftigungen, mit  denen man schlecht oder recht Geld verdient, aber auf die sich kaum je eine solide Lebensplanung aufbauen lässt. Wenn die einen ohne Job arm sind, die anderen trotz Job arm bleiben oder werden, dann ist eingetreten wovor Gabor Steingart im „Spiegel“ warnte: „Die Vergangenheit der Urgroßväter, als der Sozialstaat noch nicht erfunden war, kehrt in Gestalt der Moderne zurück.“

Mit Job verbindet sich ein gänzlich anderer Lebensentwurf als mit Arbeitsplatz.  Der Kampf um Arbeitsplätze war in Deutschland stets auch ein Kampf um verlässliche Lebensperspektiven, um Entwicklung vom Schlechteren zum Besseren, um die Möglichkeit zur Sesshaftigkeit oder um Chancen zum Ausstieg aus der Erb-Armut. Der Begriffswechsel vom Arbeitsplatz zum Job flankiert unbewusst oder gezielt einen Grundwertewechsel im sozialkulturellen Selbstverständnis der Republik.

SIMGLES AM ALLERBESTEN GEEIGNET

Nichts bleibt, wie es war.  Von einem Job zum nächsten springen, von einem Ort zum andern ziehen,  wechselnd zwischen Phasen von Arbeitslosigkeit und Phasen extrem verdichteter, arbeitszeitlich ausufernder Beschäftigungen: So werden, heißt es, bald die meisten Arbeitsbiografien aussehen. Arbeitswelten schaffen sich ihre Sozialstrukturen. Die frühzeitlichen Jäger und Sammler lebten in Horden zusammen. Zur Gesellschaft von Ackerbauern und Handwerkern gehörten als Sozialform Haushalt und Großfamilie. Das Industriezeitalter brachte die Kleinfamilie. Zu den geschilderten Anforderungen der industrie-elektronischen Globalmoderne passen nun schwach gebundene Paare oder gleich völlig ungebundene Singles objektiv am allerbesten.

ABSTURZ IN UNGEWISSE

Folgerichtig vollzieht sich die Wendung weg von der  Kleinfamilie hin zum quasi solitären Dasein auch. Mit den  bekannten Folgen: Vom Zerreißen der privaten Solidarnetze und der daraus folgenden Belastung der Sozialsysteme über rückläufige Geburten bis zur massenhaften Vereinsamung. Damit einher geht die tiefgreifende Verunsicherung der Menschen.
Übrigens nicht nur hierzulande. China erkauft seinen Wirtschaftsboom mit einer umfassenden Zerrüttung aller gewachsenen Sozialstrukturen und gigantischem Umweltraubbau.  In der gesamten Dritten Welt zerbrechen  die Strukturen kleiner Landwirtschaft und familiären Kleingewerbes, in denen die  Menschen über Generationen lebten und arbeiteten.

Nichts bleibt, wie es ist. Mehrere Milliarden Erdenbewohner sehen einer ungewissen, unberechenbaren Zukunft entgegen. Man muss kein großer Psychologe sein, um zu prognostizieren, dass  Forderungen nach noch mehr, noch radikaleren, noch schnelleren Umwälzungen im Sinne neoliberaler Weltwirtschaftsordnung überwiegend als Bedrohung empfunden werden dürften.
Die sogenannte „Sozialdemokratisierung“ der CDU ist eine Reaktion auf diesen Sachverhalt, Kurt Becks jüngstes Plädoyer für eine Reformpause eine andere. Die Politik beginnt zu begreifen, dass es eine demokratische Zukunft nicht geben wird, wenn soziale Interessen, wenn urwüchsige Geborgenheitsbedürfnisse der Menschen auf dem Altar des blanken Ökonomismus geopfert werden. Der aktuelle Konjunkturaufschwung ändert an diesem Befund im Grundsatz wenig. Das Volk weiß recht gut, dass ein Konjunkturhoch, so schön es für den Moment sein mag,  keine verlässliche Zukunftsperspektive darstellt. Der soziale Preis für den jetzigen Aufschwung war enorm. Derjenige für die Überwindung des nächsten Abschwungs von 2009 oder 2011 an wird noch höher sein. Wann ist er zu hoch?

Die Globalisierung stellt Traditionen, Lebensweisen, ja ganze Kulturen in Frage.  Hier sind es Einkommensniveau, Sozialstaat, Arbeitsordnung, Kleinfamilie ... Anderswo sind es religiöse oder ethnische Lebensart, regionale Besonderheiten des Wirtschaftens, nationale Eigenarten. Je radikaler der entwurzelnde, sämtliche Lebensbereiche ökonomisierende Zugriff der Globalisierung, umso kräftiger die Gegenbewegungen, umso größer die Sehnsucht nach Sicherheit und Verwurzelung in vertrautem Grund.

RENAISSANCE DER RELIGION

Die weltweite Renaissance des Religiösen ist solch eine Gegenbewegung. Glaube stiftet Sinn, stiftet Regeln, stiftet Halt, stiftet dem, der sich ihm hingibt, Geborgenheit. Im Glauben kann der Gläubige etwas von dem wiederfinden, was dem ökonomischen Weltlauf unter die Räder kam. Leider  kehren mit dieser Renaissance des Religiösen auch die dunklen Seiten der Religionen zurück: Sendungseifer, Selbstgerechtigkeit, Intoleranz, Rechthaberei bis hin zum Hegemonialanspruch auch im weltlichen Raum. Am radikalsten ausgeprägt sind diese Schattenseiten zurzeit im islamischen Fundamentalismus, aber es gibt sie nicht nur dort. Gegenbewegungen zur Seelenlosigkeit der Globalisierung existieren in mannigfachen Formen. Nationalchauvenismus und Fremdenfeindlichkeit sind zwei der hässlichsten.

Eine ganz andere Form stellt in den westlichen Industrieländern die emotionale Hinwendung zum Familiären dar. Das Ausmaß dieses Trends lässt sich aus der Besorgnis über sinkende Geburten allein nicht erklären. Auffallend am diesbezüglichen Diskurs ist  die maßlose Idyllisierung  von Familie. Sie wird quasi zum Allheilmittel per se für alle Bildungs-, Verhaltens-, Kriminalitäts- und Gesundheitsprobleme stilisiert. Dass diese Probleme auch in Familien grundgelegt werden, wird übersehen. Dass Familie auch ein Ort der Unterdrückung ist, dass die meisten Gewalttaten in Familien stattfinden, wird ausgeblendet.

Warum diese Blindheit für  die Tatsache, dass Familie Himmel, aber eben auch Hölle sein kann? Weil man sie als letztes von Liebe und Selbstlosigkeit erfülltes Refugium sehen möchte. Als privates Eden. Als Geborgenheitsraum, in dem du um deiner Selbst willen respektiert wirst und nicht nur nach dem Nutzen fürs Profitcenter bewertet. Es ist logisch,  aber doch eine der großen Fatalitäten der Moderne: Die Sehnsucht nach Familienidylle ist am größten, wo die Bedingungen für Familie am schlechtesten sind – in einer Turboarbeitswelt mit Turboarbeitern.

URANGST VOR NATURGEWALTEN

Die Sehnsucht nach Geborgenheit nimmt mit der Unsicherheit der Lebensumstände und damit der Angst vor der Zukunft zu. Das ist kein Spleen von Schwächlingen, sondern von der Natur gedacht als Vorsorge motivierender Überlebensmechanismus.  Den die Globalisierung freilich ignoriert, solange sie niemand zu Verstand bringt. Wir erleben zurzeit, wie eine von  unvernünftiger Wirtschafterei verursachte Bedrohung eine menschliche Urangst reaktiviert: die Angst vor den Naturgewalten.

Im Falle Klimawandel bleibt nun ausnahmsweise etwas, wie es war: Deutsche Politiker und Industrie-Lobbyisten machen ein Geschrei um zwölf Millionen Tonnen CO2-Verdreckungsrechte, die ihnen die EU nicht zugestehen will. Um die verbleibenden 450 Millionen Tonnen sorgt sich indes keiner. Das Publikum verfolgt staunend einen irrwitzigen Streit. Denn eigentlich müsste es darum gehen, den globalen CO2-Ausstoß  möglichst rasch zu halbieren. Nur mit einer Halbierung lässt  sich der Klimawandel halbwegs eindämmen. Die Mindestanforderung an Deutschland heißt also nicht zwölf, sondern 225 Millionen Tonnen CO2 weniger.  Wirtschaftlich nie und nimmer machbar, kommt der Einwand. Schlecht gesprochen. Denn erstens schert sich die Natur wenig darum, was wir für machbar halten. Und zweitens demonstriert die politische und wirtschaftliche Elite damit, dass sie entweder nicht begreift, was ihre Pflicht ist, oder ihr einfach nichts einfällt, wie sie erfüllt werden könnte.

Die Welt verändert sich, das ist unvermeidbar. Wie und in welche Richtung, das allerdings können Menschen beeinflussen. Und es wäre dabei hilfreich, würde man sich auf den ureigentlichen Zweck der Politik und des Wirtschaftens besinnen: Wohlfahrt und Glück für alle. Ein Satz aus der schweizer Verfassung könnte als Anhalt dienen: „Die Stärke eines Volkes misst sich am Wohlstand der Schwachen.“

Andreas Pecht

Wirklich globales Denken könnte zur Folge haben, dass die fatale Kleingeistigkeit des Wirtschafts-Globalismus auffällt

ape. Alle reden von Globalisierung. Und davon, dass man sich ihren Herausforderungen endlich stellen müsse. Dieses Essay geht der Frage nach, ob es den Zeitgenossen mit dem globalen Denken und Handeln ernst ist. Zweifel kommen auf, sobald Themen wie Bevölkerungsentwicklung und Wirtschaftswachstum ihre tatsächliche Global-Dimension offenbaren.

Globalisierung. Ein Wort, das gewaltig dröhnt in den Köpfen. Ist es Sammelbegriff für jene regellos entfesselten Kräfte kapitalistischen Wirtschaftens, die alle bisherigen Gewissheiten umstürzen, die sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Unerbittlichkeit und Zwanghaftigkeit reiner Geldverhältnisse reduzieren? Oder ist Globalisierung doch eher Ausdruck für einen, bisweilen schmerzhaften, Weg in eine lichte Zukunft, die auch den Elenden dieser Welt Teilhabe am so nie da gewesenen Reichtum gewährt?

Es gehört zu den Phänomenen der Globalisierung - des Wortes wie der realen Prozesse -, dass sie sich derartigen Fragestellungen ziemlich erfolgreich entzieht. Der Trick geht so: Globalisierung wird als quasi naturgesetzliche Entwicklung ausgegeben; sie finde halt statt, sei unaufhaltsam, folge nicht menschlichem Willen, sondern Automatismen. Die Leute mögen davon halten, was sie wollen, es spiele keine Rolle, erklären die in Wirtschaft, Politik und Medien stark vertretenen "Realisten". Sie belächeln Zeitgenossen als naiv und weltfremd, die Fragen obiger Art auch nur andeuten. Diskussion um Sinn, Unsinn oder Richtung der Globalisierung gilt ihnen als reine Zeitverschwendung: Den Selbstlauf der globalen Ökonomie ficht weder Kritik noch Politik noch Moral an.

"Realisten" zu kurzsichtig

Doch diese "Realisten" haben eine Schwäche: Ihr Blick greift zu kurz, und damit an den tatsächlichen Erfordernissen der globalen Realität vorbei. Warum? Weil sie unter Globalisierung nur den Prozess ökonomischer Internationalisierung verstehen. Diese beschränkte Sicht führt interessanterweise gerade zu einem nicht-globalen Umgang mit den gesellschaftlichen Folgewirkungen der Globalisierung. Während die Global-Player das ganze Erdenrund als Spielfeld benutzen, tobt in den Niederungen nationaler und regionaler Politik ein Hauen und Stechen jeder gegen jeden um das gefällige Herausputzen von Standorten. Als gut und richtig gilt fortan einzig, was den eigenen Standort ökonomisch reizvoll macht - für die wohlfeile Vernutzung durch die Global Player.

Nicht nur, dass man sich mit dieser provinziellen Art dem "Teile und Herrsche" des Globalismus schutzlos ausliefert. Damit einher geht zugleich Blindheit für andere, wirklich existenzielle Global-Probleme. Fatale Folge: Politik und allgemeines Denken tapsen perspektivisch in allerlei Fallen. Man schaue beispielsweise auf eines der zentralen Probleme für die künftige Entwicklung des Planeten, die Bevölkerungsfrage. "Deutschland braucht wieder mehr Kinder", tönt es unisono auf allen Kanälen und aus sämtlichen deutschen Parteimündern. Die Politik plant in Serie Programme zur Erhöhung der Geburtenrate. Die Argumente dafür sind hinlänglich bekannt.

Über die Effizienz von Zeugungs-Fördermaßnahmen wird im Land heftig gestritten. Globale Gesichtspunkte kommen dabei allerdings nicht vor! Man nehme die penetrante Aufforderung, sich den Herausforderungen der Globalisierung endlich zu stellen, einmal ernst und wende sie auf dieses Thema an. Von globaler Warte aus mutiert das deutsche Allparteien-Ziel "mehr Kinder" zur Absurdität. 6,5 Milliarden Menschen leben derzeit auf der Welt. Viel zu viele! Weshalb die UNO seit Jahrzehnten die Eindämmung des Wachstums der Weltbevölkerung als wichtigste Menschheitsaufgabe betrachtet. In den 1980ern stand die hochgerechnete Zahl von zehn Milliarden Menschen noch vor 2050 als Menetekel am Horizont. Ende der 1990er wurde die Berechnung auf neun Milliarden nach unten korrigiert. Drei Hauptgründe sprachen für eine solche Verlangsamung des Bevölkerungswachstums: erstens die rigide Ein-Kind-Politik Chinas, zweitens eine bescheidene Verkleinerung der Zuwachsrate bei den Geburten auch in anderen Schwellenländern, drittens die sinkende Geburtenrate in den Industrieländern.

Es war ein Hoffnungsschimmer, der jetzt zu verglimmen droht. Denn mittlerweile treibt China mit seiner 1300-Millionen-Bevölkerung auf ein Altersproblem zu, gegen das sich unsriges vergleichsweise niedlich ausmacht. Sollte das Riesenreich nun nach deutschem Muster verfahren und die Lösung des Altersproblems im Versuch einer systematischen Erhöhung der Geburten suchen, wären die Folgen katastrophal. Die Menschenzahl in China würde explodieren. Wenn obendrein ausgerechnet die reichsten und die größten Länder vorexerzieren, dass sie glauben, nur mit kräftigem Bevölkerungswachstum ihre Zukunft meistern zu können, wieso sollten andere Gesellschaften Afrikas, Asiens und Lateinamerikas ihre Bemühungen um Geburtenkontrolle fortsetzen? Global betrachtet sind die Anstrengungen Deutschlands zur Steigerung der Binnen-Geburtenrate ein Unding. Denn die Welt ist überfüllt mit Menschen.

Statt sich den Kopf zu zerbrechen, wie künftige Gesellschaften die Chancen sinkender Geburtenraten nutzen und zugleich mit hohem Altenanteil zurecht kommen können, reitet sich die Moderne immer tiefer in eine Zwickmühle hinein. Einerseits: Werden wenige Kinder geboren, scheint die Versorgung der größer werdenden Seniorenpopulation gefährdet. Andererseits: Werden viele Kinder geboren, entzieht sich die Spezies Mensch auf lange Sicht die eigene Lebensgrundlage durch Übernutzung der begrenzten Ressourcen Luft, Wasser, Land und Bodenschätze. Noch im späten 20. Jahrhundert haben die Sozialkundebücher unserer Schulen über den "Circulus vitiosus der Armut" aufgeklärt: In früheren Agrar-Gesellschaften und in der Dritten Welt wurden viele Kinder als Garant für ein versorgtes Alter, für die Zukunft der Sippe, des Volkes angesehen. Doch der Kindersegen hatte Verarmung zur Folge, diese wiederum noch mehr Kinder... Ein solcher Kreislauf galt für die aufklärerisch und industriell entwickelten Länder als überwunden.

Just zu Beginn des 21. Jahrhunderts aber sind Zweite und Erste Welt offenbar wild entschlossen, zum unglückseligen Prinzip ihrer Vorfahren zurückzukehren. Viele Kinder seien zur Sicherung der Renten unabdingbar, heißt es wieder. Vergessen scheint, dass viele Kinder auch viele Münder sind. Und dass "viele Kinder" ebenso heißt: noch mehr Enkel und noch mehr Münder und noch mehr Arbeitsuchende und noch mehr Rentner und noch mehr Ressourcen-Verbraucher. Sämtliche Probleme der Gegenwart würden durch Erhöhung der Geburtenrate in verschärfter Form an die Folgegenerationen weitergereicht. Wobei es für das globale Dorf im Grundsatz keine Rolle spielt, in welcher Hütte mehr und in welcher weniger Kinder geboren werden. Ausschlaggebend für das Leben aller ist die Gesamtzahl der Dorfbewohner, weil alle Hütten auf derselben globalen Scholle und unter demselben globalen Himmel stehen.

Was uns zur nächsten Zwickmühle führt: der Maxime vom ökonomischen Wachstum. Aus aller Münder schallt es: "Wir brauchen mehr Wirtschaftswachstum." Nehmen wir als Exempel den Traum der Automobilindustrie von der Motorisierung der bislang unterentwickelten Länder. Allein die Vorstellung, es könnte etwa in China ein Motorisierungsgrad wie in Deutschland erreicht werden, muss jedem, der nur ein bisschen ökologischen Verstand besitzt, den Angstschweiß auf die Stirn treiben. Die wahnwitzige deutsche Automobilrate (ein Auto pro zwei Bürger, Tendenz weiter steigend) auf China übertragen, hieße: Die globalen Ressourcen müssten 650 Millionen zusätzliche Verbrennungskraftwerke auf Rädern aushalten. Das wäre grob eine Verdoppelung des derzeitigen Weltbestandes von rund 750 Millionen Fahrzeugen.

Bald 2,5 Milliarden Autos?

Schon heute verursachen Automotoren ein Fünftel des weltweiten CO2-Ausstoßes. Nimmt man die Produktion der Autos sowie Herstellung und Erhalt der Infrastruktur für ihren Betrieb hinzu, ist es ein Drittel. Sämtliche Entwicklungs- und Schwellenländer weisen eine eindeutige Tendenz in Richtung Automobilgesellschaft nach westlichem Vorbild auf. Deshalb soll es in 25 bis 30 Jahren nach Experten-Hochrechnung etwa 2,5 Milliarden (!) Autos auf Erden geben; so viele, wie es 100 Jahre davor Menschen gab. Das ist jede Menge vom heiß ersehnten Wachstum. Das ist aber zugleich auch blanker Irrsinn. Die totale Automobilisierung der Welt wäre eine entwicklungsgeschichtliche Sackgasse mit unübersehbar selbstmörderischer Tendenz - man betrachte allein die heutigen Auswirkungen des Wachstums aus dem 20. Jahrhundert: von der Unterwerfung unserer Landschaften und Lebensarten unter das industriell-automobile Diktat über den Raubbau an den Ressourcen bis hin zum globalen Klimawandel mit seinen Verheerungen.

Am Beispiel Auto wird deutlich, wie sehr wir uns haben in die Wachstums-Zwickmühle manövrieren lassen. Einerseits weiß man, dass noch mehr Autos weder fürs eigene Land noch für die globale Ökologie vertretbar sind. Andererseits haben wir uns wirtschaftlich von der Autoproduktion so sehr abhängig gemacht, dass bereits nur gleich bleibende Verkaufzahlen zur Krise führen. Dennoch heißt der blind verfolgte Zukunftskurs: weiter so - aber mehr, besser, schneller, billiger. Doch keines der großen Probleme der Gegenwart ist durch quantitative Ausweitung der globalen Produktion lösbar. Anarchisches Wachstum schafft im Zeitalter der Globalisierung nur immer neue Probleme, lässt obendrein alte schon im nächsten Wirtschaftszyklus wieder und schärfer wirksam werden.

"Je größer man denkt, desto beschissener sieht es aus", legt Ian McEwan in seinem jüngsten Roman einem 17-Jährigen von heute in den Mund. Der Bub hat leider Recht. Vielleicht ist das der Grund, weshalb so viele Leute (vorneweg besagte Realisten) zwar gerne von den Herausforderungen der Globalisierung schwatzen, aber gerade bei den wichtigsten Zukunftsfragen von wirklich globalem Denken und Handeln lieber nichts wissen wollen.

Andreas Pecht

Erstabdruck Anfang Januar 2006

Die Würde des Menschen ist das höchste irdische Gut

ape. Fragen der Religion und Religiosität haben sich während des zurückliegenden Jahres in der öffentlichen Diskussion breit gemacht wie lange nicht. Die westlichen Demokratien suchen nach Antworten auf die Bedrohung durch fundamentalistischen Terror und die He-rausforderung durch die Renaissance des Islam. Unser Autor warnt in seinem traditionellen Neujahrs-Essay davor, Gleiches mit Gleichem zu beantworten und so das große Erbe der europäischen Aufklärung zu gefährden.

"Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" Noch vor ein paar Jahren war die Ansicht in der westlichen Hemisphäre verbreitet, Immanuel Kants "Wahlspruch der Aufklärung" könne alsbald vollends verwirklicht sein. Gedanken- und Glaubensfreiheit waren in den Demokratien selbstverständlich; von Hautfarbe, Geschlecht, sozialer oder ethnischer Herkunft unabhängige gleiche Bürgerrechte für alle hatten Verfassungsrang erlangt. Das abergläubische Mittelalter schien ebenso überwunden wie die Epoche der Religionskriege und die der Klassenkämpfe. Man hielt die Vorherrschaft von Vernunft und Toleranz im Umgang der Menschen und Staaten miteinander für eine realistische Möglichkeit.

Doch binnen gerade mal 15 Jahren werden die Ergebnisse des im 16. und 17. Jahrhundert begonnen "aufklärerischen" Prozesses von mehreren Seiten in die Zange genommen. Die mit der Revolution des Ayatollah Khomeini im Iran begonnene Renaissance des Islam entwickelt sich nach dem Zusammenbruch des so genannten "sozialistischen Lagers" weltweit zur zentralen Gegenbewegung wider die globale Expansion der "westlichen Kultur" und die Vorherrschaft ihrer Industrien. Zeitgleich beginnt im Westen selbst die Umwandlung bisheriger Sozialer Marktwirtschaften in "freie" Instrumente der Globalisierung. Wiederum fast zeitgleich machen sich auch in den westlichen Gesellschaften längst überwunden geglaubte Verhaltensmuster breit.

Wieder die Gretchenfrage

Galt eben noch die friedliche, gleichberechtigte Koexistenz von Nationen und Kulturen als weltpolitisch erstrebenswerte Maxime, so greift nun wieder Sendungsbewusstsein um sich. Fühlte man sich eben noch gut aufgehoben als Gleicher in der Gemeinschaft der Völker, so macht sich nun wieder das Drängen nach größer, besser, überlegen breit. Betrachtete man eben noch Religion als Privatsache und die religiöse Neutralität des Staates als Selbstverständlichkeit, so wird auf einmal die Gretchenfrage aus Goethes "Faust" - "wie hältst du"s mit der Religion"- zum Dauerbrenner nicht nur in der privaten, sondern auch in der öffentlichen, selbst in der staatspolitischen Diskussion.

Als gäbe es den Wertekanon des Grundgesetzes nicht, hallten im zurückliegenden Jahr mannigfach Rufe durch unser Land, dem Drängen diverser Moslems nach Gottesstaaten müsse der Westen die Rückbesinnung auf seine christlichen Wurzeln entgegensetzen. Religiösem Eiferertum mit religiösem Eifer begegnen? Ein solcher Ansatz wäre eindeutig voraufklärerisch. Schon vergessen, was etwa Lessing in seinem Theaterstück "Nathan der Weise" versucht, seinen Zeitgenossen und den Nachgeborenen ins Stammbuch zu schreiben? Dass der Zwist rechthaberischer und allein seligmachender Religionen nur Unglück über die Menschen bringt; dass noch über dem Recht der Gläubigen die Unantastbarkeit der Würde jedes Menschen steht.

Das Erbe der Aufklärung besagt: Religion kann kein Bestimmungsfaktor für die allgemeine Ordnung eines aufgeklärten Gemeinwesens sein, weil es dadurch für Andersgläubige und Ungläubige zur Zwangsjacke würde. Von 82 Millionen Bundesbürgern gehören 54 Millionen einem halben Hundert verschiedener christlicher Gemeinschaften an. Daneben leben rund drei Millionen Moslems im Land. Von den übrigen 25 Millionen Bürgern ist die überwiegende Mehrheit schlicht religionslos. Mindestens ein Drittel der Bevölkerung würde von einem wie auch immer religiös definierten Gemeinwesen an den Rand gedrängt, am Ende gar unterdrückt.

In früheren Zeitaltern haben Könige, Fürsten, Grafen ihre Unteranen zu ihrer jeweiligen Religion gezwungen. Dies Prinzip hat schon einmal Europa in Schutt und Asche gelegt. Die Denker und Reformer der Aufklärung machten ihm den Garaus, indem sie vom Grundsatz her Religion zur Privatsache erklärten, und den Staat in den Rang des neutralen Garanten der Würde und Freiheit a l l e r Bürger setzten. Katholik oder Protestant, Moslem oder Buddhist, Esoteriker oder Atheist - gemeinsam sind allen die universellen Menschenrechte sowie die Rechte und Pflichten des Staatsbürgers. Der Privatmann mag seinen Gott über den Gott seines Nachbarn zur Rechten stellen, beide mögen sich privatim für etwas Besseres halten als ihr völlig gottloser Nachbar zur Linken - dem aufgeklärten Staat sind sie alle drei gleich lieb und schutzbefohlen. Einen höheren gemeinsamen Wert als diesen "urhumanen" kann es auf Erden kaum geben - und anders als bei den Regeln des Himmels bedarf es dazu nicht des Glaubens, sondern "nur" der Vernunft.

Doch mit dieser geht es neuerdings rapide bergab. Dass die nie von einer der europäischen Aufklärung vergleichbaren Bewegung durchdrungene moslemische Kultur sich schwer tut mit der weltlichen Vernunft, ist eine Sache. Und die wird nicht einfacher durch die Arroganz westlicher Macht und die trübsinnigen Unarten ihrer merkantilen "Kultur". Die totale Unterwerfung aller Lebenssphären unter die Gesetze von Verkaufbarkeit und Käuflichkeit kann Moslem, Christ und Atheist gleichermaßen in Rage bringen. Im Grabe würden sich die großen Aufklärer von Kant und Lessing über Diderot, John Locke, David Hume bis Rousseau und Voltaire umdrehen, müssten sie nur einen Tag die "Geistigkeit" von Big-Brother-Containern, Dschungelcamps, einschlägigen Gewalt- oder angeblichen Erotik-Blockbustern erleben.

Vernunft auf dem Rückzug

"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit" sagte Kant - nicht ahnend, dass Zeit zum Nachdenken einmal als Langeweile begriffen und mit abgeschmackten Zeitvertreiben bekämpft werden würde. Die Aufklärer bauten auf den selbstwussten, informierten, nachdenklichen, aufgeschlossenen, sich in die öffentlichen Belange couragiert einmischenden Bürger. Doch der macht sich rar im frühen 21. Jahrhundert: versinkt im Fernsehsessel; nutzt seine Freiheit zur Wahl unter 22 Telefonanbietern; beweist seine Mündigkeit, indem er sinkende Arbeitseinkommen akzeptiert, zugleich ebenso "vernünftig" mehr konsumiert, mehr für Krankenversicherung und Altersvorsorge ausgibt (geben soll).

Im Kleinen wie im Großen

Es ist fatal, aber dem Erbe der Aufklärung wird von den Erben der Aufklärung selbst das Wasser abgegraben. Das geschieht im westlichen Alltag, das geschieht auch in der großen Politik. Amerika leistet sich einen Präsidenten, der sein Tun im Inneren wie im Äußeren als göttliche Sendung, damit als sakrosankt und für alle Welt Glück bringend ausgibt. Ein US-Präsident, der meint, im Namen des christlichen Gottes zu handeln - wie der Terrorist Osama bin Laden meint, im Namen Allahs zu handeln. Osama bekämpft Amerika als potenziellen Totengräber der islamischen Kultur, George W. bekämpft den Islamismus als potenziellen Gefährder des American Way of Life. Womit wir wieder bei Lessing wären, denn aus der religiösen Rechthaberei beider Fraktionen erwächst Unheil für beide und für Unbeteiligte. Wobei, wie stets in der Geschichte, zu den religiösen Gründen jede Menge ganz handfester hinzukommen.

Mehr noch: Die Verfestigung der Frontstellung verschärft nicht nur die Formen des "Krieges", sondern legitimiert die Ausbreitung einer Kultur der Unfreiheit im Innern der verfeindeten Lager. Nie wurden in Amerika Bürgerrechte so massiv abgebaut wie seit den Anschlägen vom 11. September 2001. Wobei es den Anschein hat, als nutze die jetzige Regierung die Situation auch, um der eigentlich multikulturellen US-Gesellschaft eine nationalistische und christreligiöse Leitkultur überzustülpen. Dafür gibt es im Moment in den Vereinigten Staaten augenscheinlich eine knappe (Wahlstimmen-) Mehrheit. Doch die Durchsetzung hat einen hohen Preis: Die Spaltung des Landes in einen "wertkonservativen" und in einen liberalen Bevölkerungsteil. Frage: Ab wann empfindet sich Letzterer an den Rand gedrängt oder in die Zwangsjacke gesteckt? Wenn die Evolutionslehre zu Gunsten der Schöpfungslehre aus den Schulbüchern verdrängt wird? Wenn homosexuelle Liebe wieder unter Strafe gestellt wird? Wenn Parlamentarier nur noch werden kann, wer bereit ist, auf die Bibel zu schwören?

Schaden für alle

Ansichten, wonach die Renaissance des Islam die hauptsächliche oder einzige Gefahr für das Erbe der Aufklärung darstellt, greifen zu kurz. Nicht minder schwerwiegend würde sich auswirken, wenn die westlichen Demokratien sich im Gegenzug von ihren bisherigen aufklärerischen Grundsätzen abwenden. Nichts gegen Religiosität! Solange sie dem Andersdenkenden seine Freiheit und die Finger von der Neutralität des Staates lässt. Wer auch immer aus welchem Glaubensgrund auch immer in eine andere Richtung drängt, er schadet letztlich sich und uns allen.

Andreas Pecht

Lustvolle Auseinandersetzung mit der Welt ist jeder Paukerei weit überlegen

ape. Seit Pisa ist die deutsche Schul- und Bildungswelt nicht mehr, was sie war. Das zurückliegende Jahr stand im Zeichen großer bildungspolitischer Diskussionen und kleiner Reformansätze. Die Ressource "Geist" wurde als zentraler Faktor für die künftige Stärke des Standorts Deutschland entdeckt. Doch der Missverständnisse sind viele. Damit setzt sich heuer unser traditionelles Neujahrs-Essay auseinander - vor allem mit dem ärgsten Missverständnis: der neuerlichen Reduzierung von Lernen auf Wissensaneignung.

Kleine Kinder sind eine geballte Ladung aus Neugierde, Entdeckerdrang, Pioniergeist, Lernfreude. Schon der Säugling rückt mit Haut, Mund, Händen seiner unmittelbaren Umgebung zu Leibe. Mit Lust will er sie erschmecken, erfühlen, ertasten, mit Entzücken die Welt ergreifen, sie be-greifen. Und die Erwachsenen ringsumher werden eingespannt in diesen Prozess der Weltgewinnung: Gib mir dies, bring mich dorthin, lehr mich jenes! Liebe und Wärme, Nährung und Reinigung, Spiel, Entdecken und Lernen: der Säugling unterscheidet nicht, für ihn fällt alles ineinander, ist Körperliches, Geistiges, Sinnliches unteilbares Grundbedürfnis; des Lebens Elixier.

Doch irgendwann schon in der früheren Kindheit beginnt dann etwas aus dem Ruder zu laufen. Das eine Grundbedürfnis wird zusehends zergliedert in Pflichten und Normen hier, Liebe, Spiel und Genuss da. Je nach Umgebungsbedingung kommt die Zergliederung früher oder später, fällt schärfer oder weniger scharf aus. Das Bauernkind voriger Jahrhunderte war in Zeiten harten Überlebenskampfes, kaum dass es laufen konnte, schon Arbeitskraft. Das Adelskind hingegen wurde zur gleichen Zeit dem Gesellschafts-Reglement unterworfen. Beiden wurde derart das Kindsein genommen. Kinder galten bis ins 18. Jahrhundert - hier der Not, dort der Norm gehorchend - als noch etwas schwächliche kleine Erwachsene. Es war der französische Zivilisationskritiker und Pädagoge Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), der erstmals der Kindheit die Bedeutung einer eigenständigen Lebensphase zusprach.

GEISTIGE PFLEGE

Das ist nun gut 250 Jahre her, prägt das Bild vom Kinde als eines zu liebenden, zu hegenden, zu fördernden Schutzbedürftigen mit freilich ganz eigenen berechtigten Interessen und Ausdrucksformen bis auf den heutigen Tag. Die Geschichte der Pädagogik hat folgend zahlreiche Denker und Praktiker hervorgebracht, deren Einsichten und Methoden dieses Verständnis von Kindheit verfeinerten, es schul- und lebenspraktisch zur Anwendung bringen wollten, teilweise gebracht haben.

Philanthropen, spätere Humanisten, Reformpädagogen, bei allen Unterschieden ist vielen von ihnen eine Überzeugung gemein, die sie teilen mit antiken Geistern wie Plato, Aristoteles, Cicero oder dem ersten systematischen Pädagogen der Neuzeit, dem Italiener Piero Paolo Vergerio (1370-1444): Erziehung sei "cultura" (Cicero), also "geistige Pflege" im Sinne einer Sorge für das natürliche Wachstum des Individuums.

AUSGANGSPUNKT INDIVIDUUM

Für Vergerio ist Erziehung nicht die Einübung nach einem vorgegebenen Modell, sondern dient der Entfaltung und Vervollkommung der natürlichen Fähigkeiten des Kindes, einer Formung des ganzen Charakters zur reifen moralischen Persönlichkeit. Ausgangspunkt dieser Art von Pädagogik ist immer das einzelne Kind, Ziel dieser Art von Pädagogik ist stets dessen optimale Entfaltung.

Zwischen solchem Anspruch und der schulischen wie auch familiären Wirklichkeit liegen noch heute Welten. Die Diskrepanz rührt nicht allein von der Kluft zwischen pädagogischen Idealen und den Zwängen der Wirklichkeit. So manche Pädagogik begründete einst auch sich ungut entwickelnde, aber bis heute zäh nachwirkende Traditionen. Ihre Wurzeln reichen in die Reformationszeit zurück. Johannes Sturm (1507-1589) entwarf eine protestantische Pädagogik, in der erstmals die noch von Melanchthon geforderte allumfassende, enzyklopädische Erziehung dem Ziel einer "weisen und beredten Frömmigkeit" untergeordnet wurde.

Sturm war auch einer der ersten, bei dem die rationelle Planung der Lehr- und Lernprozesse herausragende Bedeutung gewann. Auf katholischer Seite waren es fast zeitgleich die Jesuiten, die ihre Zöglinge in Klassen einteilten, die nach einem strengen Stundenplan mit vorgeschriebenen Lehrbüchern und Methoden unterrichteten. Straffe Lehr- und Lernordnung, Bewährungsproben, strenge Prüfungen, standardisierte und religiös ausgerichtete Lehrerausbildung - die Prinzipien der jesuitischen "Kollegs" (Gymnasium) des 16. Jahrhunderts haben im Schulwesen und dem populären Verständnis davon bis heute wahrscheinlich deutlichere Spuren hinterlassen als alle individualpädagogischen Ansätze zusammen. Die "Lehranstalt", die Schülern von außen vordefinierte Inhalte, Fertigkeiten, Kenntnisse und Verhaltensmuster beibringt, beibiegt, einbleut hat sich in Deutschland im Grundsatz als überzeitliche Regeleinrichtung behauptet. Von den großen Pädagogik-Reformen vorher und seither sind vor allem Verfeinerungen der Beibieg-Didaktik, formale Humanisierungen im Umgang und psychologische Methoden-Hilfen für den Unterricht geblieben.

Wie tief dieses (Selbst-)Verständnis von Schule als "Lehranstalt" für abrufbare Wissenskanons und Fertigkeiten sitzt, zeigte im zurückliegenden Jahr etwa der Beschluss der Kultusministerkonferenz, sich auf bundesweit einheitliche Schulleistungstests zu einigen. Pisa hatte bei deutschen Schülern vor allem ein Defizit in selbständiger Denkfähigkeit offenbart. Wie reagiert man hier zu Lande darauf? Was wird als aktuell wichtigster Reformschritt der Nach-Pisa-Zeit gefeiert? Stärkere Zentralisierung, mehr Prüfungen, Erhöhung des Drucks zur Aneignung standardisierten Wissens. Zugespitzt formuliert, verhält sich die Kultuspolitik wie der Volksmund gerne schwatzt: Weil die Anderen besser sind, müssen die Unsrigen eben auf den Hosenboden gezwungen werden und mehr pauken.

Gott sei Dank gibt es auch ein paar klügere Ansätze, etwa das rheinland-pfälzische Ganztagsschulen-Programm, sei es auch noch so mangelhaft. An dem nun freilich wieder gemäkelt wird, dass es während der Nachmittage noch zu wenig "Lehranstalt" sei, weil ja nicht Stund um Stund durchunterrichtet werde. In der Mäkelei spiegelt sich das alte Missverständnis wider, (klassischer) Unterricht sei das Herz allen Lernens. Falsch, völlig falsch! Eigenes Tun ist das A und O des Lernens: forschen, entdecken, versuchen, nachdenken, besprechen, üben, rekapitulieren, arbeiten, spielen ž einzeln, zu zweien, in der Gruppe, mit oder ohne Lehrer. Die Bedeutung des Klassen-Unterrichts fürs Lernen wird landläufig maßlos überschätzt - wie der Wert von Faktenwissen maßlos überschätzt wird.

Nachgerade hanebüchen ist deshalb auch ein Vorschlag aus der Bayerischen Wirtschaft, künftighin schon vierjährige Kinder "arbeitsorientiert" zu verschulen. Nicht, weil deutsche Vierjährige nicht lernen wollten. Das Gegenteil ist doch der Fall: Je jünger die Kinder, desto größer ihre Lernlust. Leider hat Pisa für Deutschland zugleich offenbart: Je mehr Schuljahre unsere Kinder auf dem Buckel haben, umso größer wird ihre Lernunlust. Könnte es sein, dass ausgerechnet unsere Art der Schule, unsere "Lehranstalt" den Sprösslingen die Freude am Lernen austreibt?

VORBILD KINDERGARTEN

Viel besser als das Schulwesen insgesamt stehen unsere Kindergärten und Grundschulen im internationalen Vergleich da. Was ist dort anders als an den Gymnasien? Spielen und Lernen, Entdecken und Erproben, Zuwendung und Förderung, soziales Miteinander und Füreinander, Praxis und Theorie, Zielorientierung und humanbildende Zweckfreiheit sind wesentlich stärker ineinander verwoben als bei den späteren Schulformen. Was bei unseren Kleinen (oder in Finnland bei allen) geschieht, wird oft als "pädagogischer Ringelpietz" diskriminiert. Die so urteilen, sollten nach Pisa begreifen, dass ein Mangel an "Ringelpietz" einen Mangel an Geistes-, Herzens-, Kultur- und Sozialkompetenz zur Folge hat. Einen Mangel an Lernerfolg also, der unversehens ins internationale Abseits führt. "Vom Lernen unsrer Jüngsten lernen", sollte die Devise heißen, denn Kindergarten und teils noch die Grundschule sehen eher den ganzen kindlichen Menschen. Nachher wird aus ihm das Belehr-Subjekt, herzurichten weniger fürs Leben als fürs Berufsleben - und deshalb letztlich für beides nicht recht gerüstet.

Was so leichtfertig als "pädagogischer Ringelpietz" abgetan wird, ist dem ursprünglich natürlich-lustvollen Lernen angemessener als jede noch so raffinierte Art des Paukens. Und sage keiner, der Nachwuchs scheue bloß die Anstrengung. Man schaue ihnen zu, wie sich anstrengen und placken beim Bau von Sandburgen, Baumhäuschen, Staudämmen. Man erlebe die Wissbegierde und das schweißtreibende Zupackenwollen von Kindern auf dem Bauernhof. Man betrachte den Forschereifer im Schullabor, den Fleiß beim Streetball, das Engagement in der Theater-AG, die Wachheit beim Fremdsprachen-Austausch.

SPANNENDE ALTERNATIVEN

Laschheit, Unlust, TV-Hörigkeit greifen immer dann Platz, wenn keine Alternativen vorhanden sind. Da hilft kein Klagen und kein Verweis aufs Nötige für den ferneren Lebensweg, erst recht nützt die Peitsche nichts: Die Alternativen müssen einfach interessanter sein - jetzt und hier. Das ist die zentrale Herausforderung für die Pädagogik wie für die häuslichen Gemeinschaften.

Wir haben es nicht mit den Kindern von gestern zu tun, sondern mit denen von heute. Die werden durch Bedingungen geprägt, die ihre Eltern geschaffen haben. Also hören wir bitte auf, über eine "missratene Jugend" zu lamentieren. Und kümmern uns statt dessen darum, dass diese Kinder Lernen als das erfahren, was es vom ersten bis zum letzten Tag des Lebens sein kann: das größte aller Abenteuer.

Andreas Pecht

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