Gebt ordentlich Trinkgeld!
Quergedanken Nr. 95
Liebe Leser/innen, haben Sie den dienstbaren Geistern zu Weihnachten eine Anerkennung zukommen lassen? Falls nicht: nachholen! Silvester wäre passend, aber auch jeder sonstige Tag. Sie haben es verdient, die Müllwerker, Zeitungsausträger, Putzkräfte, Kinderfrauen, Altenversorger, Paketfahrer e tutti quanti. Ich bin gewiss kein Freund weihnachtlicher Geschenkpflichtorgien, aber das einst selbstverständliche „Trinkgeld“ für die meist hundsmiserabel bezahlten Dienstleistungsarbeiter/innen bleibt mir ein Anliegen.
Gebt nach Vermögen und seid nicht geizig! Den im Keller verstaubten Discounter-Fusel aber könnt Ihr selber saufen und die Pralinen vom vorletzten Jahr ins eigene Maul stopfen. Trinkgeld – ob in Münz-/Scheinform oder als Naturalie, ob zum Jahresende oder bei jeder Gelegenheit gegeben – meint Anerkennung, nicht Resteentsorgung. Erst recht meint es nicht Almosen; womöglich mit dem Anspruch verbunden, von gefälligst katzbuckelndem Personal als Hochwohlgeborenschaft behandelt zu werden. Dienstleister sind keine Diener; selbst im Wirtshaus wird BEdient, nicht GEdient.
Wirtin wie Kellnerin unsrer Stammkneipe sind herzliche und in ihrem Job gestandene Frauen. Freund Walter und ich fühlen uns da bestens aufgehoben. Aber wehe, es käme jemand auf die Idee, die beiden von oben herab abzufertigen: Die Damen würden sofort in selbstbewusster Unmissverständlichkeit klarmachen, was sich ziemt am republikanischen Mittelrhein. Und das ist gut so, weshalb wir gerne Trinkgeld geben. Sollte reichlich Geistesgetränk uns mal großkotzig überspendabel werden lassen, rettet die abrechnende Lady großherzig unsere Börsen mit der ernüchternden Bemerkung: „Und wovon sollen eure Kinder satt werden?!“
„Du musst das anders erklären“, unterbricht Walter. Denn es gäbe zu viele Leute, die glauben, einfache Arbeit sei ein absterbendes Randphänomen, deshalb zurecht schlecht bezahlt. Zu viele auch, die Geiz für geil halten oder gleich derart verrückt sind, dass sie sich in einem abstrusen Etablissement namens „Preis“ willkommen fühlen. „Sag ihnen“, so Walter, „was passiert, würden alle un-/angelernten Arbeitskräfte und Niedriglöhner in Deutschland plötzlich ausfallen.“
Also gut. Beispielsweise wäre die boomende Internet-Kauferei augenblicklich im Arsch, weil in den Umschlagzentren die Packer fehlten und Tausende Fahrer nicht unterwegs zum Kunden wären. Oder: Die Lebensmittel- und Technik-Märkte stünden ohne Nachschub, Regaleinräumer und Kassierinnen da. Just in time gingen der Industrie mangels LKW- und Staplerfahrern die Teile aus; mangels Putzkolonnen wären Büros, Krankenhäuser, Schulen, Ämter bald unbenutzbar. In den Kneipen gäb's nur noch Selbstbedienung oder gar nix; Museen, Tankstellen, Kantinen, Mc-Fastfoods müssten schließen. usw usf
Mit bösem Grinsen setzt Walter den Schlussakkord: „Nach längstens zwei Wochen wäre die ganze deutsche Herrlichkeit völlig zusammengebrochen. Soviel zur angeblichen Bedeutungslosigkeit einfacher Arbeit in der Wissensgesellschaft.“ Die Moral von der Geschicht? Hey, ihr Unternehmer und Politiker, behandelt und bezahlt all die Malocher endlich anständig! Ohne sie geht’s nicht. Obendrein sind sie am Ende des Arbeitstages, des Arbeitslebens mit Sicherheit ausgelaugter als ihr. Und für uns alle gilt: Ehret die, deren Arbeit vielleicht unkompliziert sein mag, aber meist eine Mühsal ist und nach wie vor unverzichtbar. Gebt ordentlich Trinkgeld!
(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website Woche 51/52 im Dezember 2012)