Sind denn alle verrückt geworden?

Neujahrsessay 2018: Die Welt rast blind vorwärts, da sucht mancher Rettung im Rückwärts

ape.  Eine der seltsamsten Eigenschaften des Homo sapiens ist sein zwiespältiges Wesen. Es sind ihm zwei Grundzüge völlig gegensätzlicher Wirkung eigen. Da wäre auf der einen Seite seine unbezähmbare Neugier, verbunden mit der Fähigkeit zur Anpassung an fast jedwede Gegebenheit. Seit den frühesten Tagen besteht die Entwicklung der Menschen aus einer endlosen Serie von Aufbrüchen zu neuen Ufern. Von ihren Ursprungsorten zogen sie hinaus in unbekannte Fernen und besiedelten den Planeten. Dabei überwanden sie jedes Hindernis, machten sich selbst die unwirtlichsten Weltgegenden zur Heimat.

Zusammen mit der Neugier trieb sie Pionier- und Erfindergeist, wieder und wieder ihre Lebensart von Grund auf umzustürzen. Die Menschen wurden von Steineschmeißern zu Speerwerfern zu Bogenschützen zu Gewehrträgern. Sie wurden von Jägern und Sammlern zu Ackerbauern und Viehzüchtern zu Handwerkern und Industriearbeitern. Sie nutzten als Werkzeug erst Steine und Knochen, dann Bronze und Eisen, dann Stahl und Kunststoff. Und jedesmal änderte sich für sie – alles.

Dieser ewig ruhelosen, keine Grenze akzeptierenden Eigenschaft steht eine andere gegenüber. Der Volksmund bringt sie auf die Formel: „Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.“ Er liebt vertraute Umgebungen, Gebräuche, Mitmenschen. Er mag es, einem überschaubaren Lebensplan zu folgen und seine jeweiligen Fertigkeiten gebraucht, nützlich, verlässlich zu wissen. Hat er ein halbwegs erträgliches Auskommen, machen ihn Veränderungen erstmal unsicher, misstrauisch, ängstlich. Was wir haben, kennen wir; was da kommt, ist ungewiss.

Der Zwiespalt beider Eigenarten durchzieht die gesamte Menschheitsgeschichte. Ihr Widerstreit wird umso schärfer, je umfassender und geschwinder die Veränderungen zum Neuen ausfallen – vom einen erhofft, vom anderen gefürchtet, manchmal beides zugleich. Eines der Grundgesetze der Geschichte lautet: Die Zivilisationsentwicklung schreitet immer schneller voran. Und tatsächlich vollzogen sich nie zuvor in so hoher Dichte und Geschwindigkeit derart tiefgreifende Veränderungen wie heute. Veränderungen, die vom großen Weltgeschehen bis hin zu den einfachsten Verrichtungen des Alltags reichen.

Kein Mensch hätte vor 100 Jahren gedacht, dass wir einmal unsere gesamte Lebenswelt nach den Erfordernissen eines Maschinentyps gestalten würden: dem Automobil. Niemand hatte vor 50 Jahren geglaubt, dass das Sowjetreich alsbald verschwinden würde. Noch vor 30 Jahren lag es außerhalb der Vorstellungskraft der meisten Erdenbewohner, dass einmal aufs Klima kein Verlass mehr sein könnte. Vor gerade mal 20 Jahren war noch unvorstellbar, wie radikal das Internet in jede Pore des staatlichen und wirtschaftlichen, des öffentlichen wie privaten Lebens eindringen, es verändern, dominieren, auch missbrauchen würde.

„Du bist verrückt“ wäre jeder abgekanzelt worden, der solche Szenarien für die jeweils zeitnahe Zukunft prognostiziert hätte. Was eben noch Fantasterei war, ist nun Gegenwart und gebiert Schlag auf Schlag weitere Neuerungen, die fast schneller wieder veralten als man sich an sie gewöhnen kann. Und je nach Standpunkt erscheint einem vieles davon ziemlich verrückt. Noch vor ein paar Jahren ging der Spruch um: „Wer ein Handy braucht, ist bloß schlecht organisiert.“ Kurz darauf besaßen hierzulande fast alle Handys – und das Leben wurde umorganisiert, den Möglichkeiten der neuen Technik folgend.

Darauf trat das Smartphone in die Weltgeschichte ein. Über Nacht ist dem Menschen quasi ein neues Sinnesorgan gewachsen. Eines, das ihn in Schrift, Ton, Bild und in Echtzeit mit fast allem und jedem auf dem Planeten verbindet. Kontinente, Länder, Menschen rücken auf den Handbildschirmen als Nachbarn zusammen. Jeder kann sehen, was andere machen oder wie man „nebenan“ lebt.  Jeder kann auch in einer Smartphone-Alternativwelt versinken. Viele tun das – und beinahe alle Orte sind seither auch bevölkert von Online-Zombies, die nur mehr körperlich zum Hier und Jetzt zu gehören scheinen. „Die sind verrückt“, meinen nicht nur Technikskeptiker.

Mit dem neuen Sinnesorgan erfahren auch die Armen und Geplagten dieser Welt, dass andernorts etwa die Abwesenheit von Hungersnot und Krieg als normal gilt. Bis dato war der Spruch von der globalisierten Welt, die nur ein Dorf sei, ein Bild vor allem für ökonomische Verflechtungen, ökologische Zusammenhänge und wohlstandstouristische Reisewege. Nun wird der Spruch Allgemeingut, insofern auch einfache Menschen allüberall erfahren, was in diesem Dorf anderweitig vor sich geht. Was mag ein Elender in Afrika denken, wenn er sieht, dass in den Industrieländern mehr als ein Drittel aller Lebensmittel weggeworfen werden? „Die sind verrückt dort.“

Noch vor zehn Jahren hielten wir es für ausgemacht, dass die moderne Welt – trotz mannigfacher Widersprüche und Krisenherde – tendenziell doch liberaler, humaner, kooperativer, umweltbewusster, friedlicher wird. Wir waren überzeugt, dass große Teile der Menschheit den Entwicklungsgang der westeuropäischen Gesellschaften seit Ende des Zweiten Weltkrieges nachvollziehen: Von restriktivem Konservatismus zu toleranter Freiheitlichkeit, von kleingeistigem Nationalismus zu weltläufiger Internationalität, von der rücksichtslosen Geschäftigkeit des Kapitalismus zur Sozialstaatlichkeit …

Die Demokratiebewegungen Osteuropas sprachen ebenso dafür wie anfangs der Arabische Frühling, die Wahl eines Farbigen zum US-Präsidenten, die weltweiten Bemühungen um den Klimaschutz und manch anderes. Deutschland selbst schien auf dem besten Weg zu einer beispielhaft offenen Gesellschaft, die das Neben- und Miteinander unterschiedlicher Lebensweisen nicht nur erlaubt, sondern gut heißt und produktiv nutzt. Einer Gesellschaft also, die den Übergang in eine globale Moderne ohne allzu wuchtige Verwerfungen hinbekommt.

Zehntausende junger Deutscher ziehen alljährlich in die Welt, um als Austauschschüler, Au-pairs, Auslandsstudenten oder Mitarbeiter in Entwicklungshilfe- und Umweltprojekten zu lernen, Erfahrungen zu sammeln. Unzählige deutsche Kaufleute, Ingenieure, Monteure, Wissenschaftler, Künstler, Auswanderer, Abenteurer wirken zeitweise oder dauerhaft im Ausland, lassen sich vielfach dort nieder.
 
Umgekehrt sind die hiesigen Universitäten stolz, von Semester zu Semester internationaler zu werden, in wachsender Zahl Forscher, Lehrende und Lernende aus aller Welt anzuziehen. Wie auf diversen Ebenen der Wirtschaft in Deutschland längst englisch gesprochen wird, so ist Englisch in vielen Fakultäten mittlerweile Lehr- und Umgangssprache. Wir genießen die Multikulturalität unserer Gasthausszene ebenso wie die selbstverständliche Internationalität unserer Theater und Orchester, unserer Kunsthallen und Festivals. Wir wissen: Würde man die Fach- und Hilfskräfte ausländischer Herkunft aus Gesundheitswesen und Altenpflege verbannen, die Systeme brächen sofort zusammen. Würden die ausländischen Investoren ihr Kapital aus hiesigen Unternehmen zurückziehen und/oder alle Arbeiter ausländischer Herkunft abwandern – der Morgenthau-Plan wäre eine Wohlstandsszenario verglichen mit der dann eintretenden Katastrophe.                 

Für eine Weile hatte es den Anschein, als würden die Menschen den Neuerungsprozess in Richtung Globalität teils freudig, teils kritisch, teils zähneknirschend, aber doch notgedrungen willig mitvollziehen. Ökonomisch setzt sich dieser Weltprozess ohnehin unaufhaltsam fort. Der Ökonomie entsprangen aber zugleich auch jene Aspekte, die das „Gewohnheitstier Mensch“ zutiefst beunruhigen und in jüngster Zeit ganze Gesellschaften in politisch und kulturell schier unversöhnliche Fraktionen spalten. Zwei der wichtigsten Aspekte seien angeführt: In Europa machen Großbritannien und Deutschland seit den 1980ern den Vorreiter auf dem Weg des Rückbaus der Sozialstaatssysteme sowie der Privatisierung vormals staatlicher Infrastruktur-Aufgaben. In den frühen 2000ern erwies sich das Weltfinanzsystem als ebenso undurchschaubares wie krisenhaftes Irrsinnskonstrukt im Dienste verantwortungsloser Spekulation.

Die ohnehin sich immer schneller wandelnde Welt gerät ins Wanken, massig brechen sich Ängste und Verwerfungen Bahn: hier die Unmöglichkeit langfristiger Lebensplanungen, dort Aussicht auf unzureichende Altersversorgung; hier stetig wachsender Wohlstand in der oberen Hälfte der Mittelklasse und explodierender Reichtum in der Oberschicht, da Abstiegsängste und die Herausbildung eines neuen Proletariats aus Zeitarbeitern, Niedriglöhnern, 450-Euro-Jobbern und Hartz-IV-Empfängern. Hier die beängstigenden Erkenntnisse über eine globale Agrarindustrie, da das feindseliger werdende Weltklima, dort im Verkehrswachstum ersaufende Straßen und Städte. Hier die Zersetzung der alten kolonialen/imperialen Machtverhältnisse und das Ringen um Neuordnung der Einflusssphären, da das Aufwachsen religiös-terroristischer Barbarenbewegungen.

Die Liste der Faktoren ist sehr lang, denen Veränderungen vertrauter Lebensart schon gefolgt sind und noch zuhauf folgen werden. Weshalb die wichtigste Gegenwartsfrage lautet: Wer kann und will wie den Übergang ins Zeitalter der realen wie digitalen Globalität menschen- und gemeinwohlverträglich gestalten? Indes – und das scheint nun arg verrückt, weil es vollends weltfremd ist – stellen sich seit kurzem allerhand Zeitgenossen die Zukunftsfrage ganz anders: Wer  macht sich stark, diesen Übergang zu verhindern?

Von ihrem traditionellen Polit-Establishment weitgehend entfremdet, streiten etwa die Franzosen tief gespalten um zwei Optionen. Einerseits dieses Wunderkind Macron: Dessen Bewegung ist aus dem Nichts heraus zur führenden politischen Kraft geworden – weil sie den Aufbau eines modernen, weltoffenen, zugleich wirtschaftlich erfolgreichen und sozial gerechten Frankreich als wichtigem Teil Europas verspricht. Andererseits LePen, die für einen antiglobalen Rückfall in nationalistischen Egoismus und ein Programm der autoritär-frankophonen Restauration wirbt.  

Überhaupt ist Rückwärtsgewandtheit ein starker Trend des derzeitigen geschichtlichen Moments. Knapp die Hälfte der Briten sieht das Heil des Landes im national-insularen Alleingang. Knapp die Hälfte der US-Amerikaner setzen auf einen egomanischen Milliardär und seine nationalistische Losung  „America first!“. Die Mehrheit der Türken wählt wiederholt einen Nationalchauvenisten, der ihr Land zusehends in eine Diktatur verwandelt. Mehrheiten in Polen, Ungarn und anderen Ländern Osteuropas wählen sich nationalistisch-autoritäre Regierungen.

Und in Deutschland erwachen Strömungen, die für richtig halten, was vor wenigen Jahren als schier mehrheitsfähige Maxime noch völlig unvorstellbar gewesen wäre: Europa in eine Festung zur Abwehr von Kriegs- und Armutsflüchtlingen zu verwandeln. Obendrein erstarkt auch hier eine nationalistisch-reaktionäre Partei – und über sie hinaus die ebenso alte wie absurde Auffassung, wonach alles Schlechte von den Fremden rühre und wir alle Probleme los seien, sobald nur die Fremden fort sind.            

Wie verrückt ist das denn? Die Weltgeschichte drängt in eine, ja, wie immer ungewisse Zukunft. An der ist vorerst nur sicher: Der technologische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungsstand der Menschheit macht sie unabwendbar zu einer Epoche global enger Vernetzung und internationaler Durchlässigkeit auf allen Gebieten. Just in diesem Moment entfalten sich Kräfte, die zurück wollen in ein vermeintlich Goldenes Zeitalter – das es nie gab. Hinter uns liegt nur die Düsternis des Nationalismus und der großen Diktaturen mit ihren Kriegen, ihrem Fremdenhass, ihren autoritären, freiheitsfeindlichen, intoleranten, dumpfen Leitkultur-Gesellschaften.

Andreas Pecht

Archiv-chronologisch: