Vorwärts in die Vergangenheit
Neujahrsessay 2015: Was ist Fortschritt? 2014 ging manches ein Schrittchen voran und zwei Schritte zurück
ape. „Der kulturelle Fortschritt ist nicht linear.” Dies sagte unlängst Ali Ahmed Said Esher, bekannter unter dem Pseuodonym Adonis, in einem Interview. Der 85-jährige gilt als wohl bedeutendster Gegenwartsdichter der arabischen Welt. Seine Aussage meint: Die Entwicklung der menschlichen Zivilisation verläuft nicht geradlinig und stetig vom Niederen zum Höheren oder vom Schlechteren zum Besseren. Sie nimmt vielmehr zahlreiche Umwege; Stillstände und Rückschritte inklusive.
Sein Satz ist nicht auf technologischen Neuerungsfluss oder die Ausweitung der materiellen Produktion und Konsumtion gemünzt, die landläufig fatalerweise als primärer Gradmesser für Fortschritt angesehen werden. Bei Adonis ist geistig-kulturelle, gesellschaftliche und politische Reife der eigentliche Maßstab für menschlichen Fortschritt. Von dieser Warte aus gelangt er zu zwei Schlüssen. Erstens: Die islamischen Kultur kommt so lange nicht vom Fleck wie die Muslime Religion und Staat nicht trennen und die Frauen nicht befreien. Zweitens: „Die westliche Kultur, auch die deutsche, steckt in einer schweren Krise.”
Ein Jahr weltpolitischer Zäsuren
Was ist Fortschritt? Es gibt Jahre, da scheint sich Geschichte geradezu sprunghaft vorwärts zu entwickeln. 1989 war ein solches Jahr und wir wussten, was Fortschritt sein könnte. Viele Menschen verbanden mit der Auflösung der Sowjetgesellschaften und dem Mauerfall große Hoffnungen auf eine neue, fortschrittliche Globalordnung, geprägt von einer allgemeinen Tendenz zu Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftlicher Wohlfahrt und sozialer Gerechtigkeit. Dann wieder gibt es Jahre, in denen einen das Gefühl beschleicht, das Rad der Geschichte drehe sich wuchtig rückwärts. Ein solches Jahr war 2014 – ein „Jahr weltpolitischer Zäsuren” wie der Historiker Heinrich August Winkler aktuell schreibt. In diesem Sinne war 2014 gewissermaßen das Pendant zu 1989, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen.
Denn plötzlich sind längst begraben geglaubte Feindschaften zwischen Russland und dem Westen wieder lebendig geworden, haben sich im Zuge der Ukraine-Krise zu einem veritablen internationalen Konflikt verdichtet. Der erinnert an den längst überwunden geglaubten Kalten Krieg und weckt auch hierzulande bei Alt wie Jung die Besorgnis: Liegt der in Europa eigentlich undenkbar gewordene heiße Krieg nun doch wieder im Bereich des Denkbaren? Zumal hier deutlich wurde, dass alle alten Konfliktreflexe von jetzt auf gleich wieder funktionieren – dass politisch, medial und im öffentlichen Bewusstsein auf beiden Seiten nichts leichter zu reanimieren ist, als die unselig Selbstgewissheit „wir sind die Guten und im Recht, die andern sind die Bösen und im Unrecht”.
Neigung zu nationalkonservativer Autoritarismus
Plötzlich kommt auch zu Bewusstsein, dass wohl Demokratisierung nicht die aktuelle Haupttendenz in der Welt ist. Stattdessen macht sich allenthalben eine Neigung breit, gestrigen Autoritarismus neu zu beleben. Und das nicht nur irgendwo in der Ferne Afrikas oder Asiens, sondern an den Rändern Europas, ja selbst mittendrin in der Europäischen Union. In Russland steht Wladimir Putin für diese Neigung, im Nato-Land Türkei Recep Tayyip Erdoğan, beim EU-Mitglied Ungarn Viktor Orbán. Sie alle führen nationalkonservativ-autoritäre Regime an, deren Entstehen und längerfristige Haltbarkeit man im 1989er Freiheits- und Liberalisierungsfuror nicht für möglich gehalten hätte – und die leider in ihren Ländern von stillen Bevölkerungsmehrheiten geduldet bis getragen werden.
Parallel finden überall in Europa Parteien und Strömungen wachsenden Zuspruch, die zu autoritärem Nationalkonservatismus tendieren. Sie verzeichneten die höchsten Stimmenzuwächse bei der jüngsten Wahl zum Europaparlament – obwohl sie dieses mitsamt EU am liebsten morgen schon auseinander jagen würden. Das Phänomen wird so bald nicht verschwinden, sondern sich ausweiten. Zumal nun Radikale von rechts in nicht unerheblicher Zahl tief verunsicherte, um ihre kulturelle Heimat und Verwurzelung fürchtende Bürger aus der Gesellschaftsmitte zum Protest gegen eine vermeintliche „Islamisierung des Abendlandes” mobilisieren.
Wie kann so etwas gelingen? Die Grundlage erwuchs zu nicht unerheblichen Teilen aus dem allgemeinem Befremden über das Fortschreiten der neuen Post-1989er-Weltordnung. Deren Unterwerfung immer weiterer Teile des politischen Wollens und gesellschaftlichen Werdens unter das Diktat der deregulierten Märkte hat die Hoffnungen von damals zerschreddert. An die Stelle souveräner Politik sind scheinbar anonyme Mächte getreten. Es greift das Gefühl um sich, supranationale Institutionen, globale Konzerngeflechte und Finanzkonglomerate verwandeln Staaten, Gesellschaften und vormals freie Bürgerindividuen in willfährige bis ohnmächtige Manövriermassen des Big Business. Unter dessen Ägide wird das Prinzip der Sozialstaatlichkeit ausgehölt, die Kluft zwischen Arm und Reich stetig größer, gilt permanentes Wirtschaftswachstum als einzige Zukunftsoption und trickreiche Steuerflucht als legitimes Mittel des Wirtschaftens.
Neoliberalismus führt weg vom Humanismus
Diese angeblich „alternativlose Modernisierung” ist in Wahrheit historisch ein Schritt rückwärts, insofern sie Zug um Zug die sozialhumane Ausrichtung von Gesellschaft und Wirtschaft demontiert, die nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen westlichen Ländern erstritten wurde. Tendenziell ersetzt der Neoliberalismus Solidarität durch Wettbewerb, reduziert das menschliche Individuum auf die Funktion von Konsument und Humankapital, führt schließlich in die Pervertierung der demokratischen Volkssouveränität zur „marktkonformen Demokratie”.
Zugespitzt formuliert: Der Neoliberalismus zerschreddert nicht nur die mit der 1989er Wende verbundenen Hoffnungen, sondern zugleich auch jene auf die Würde und das Selbstbestimmungsrecht des Individuums abhebenden Maximen, die seit der amerikanischen Revolution von 1776 und der französischen von 1789 ideeller Kernbestand historischer Zielsetzung aufgeklärter Bürgerlichkeit waren. Der Neoliberalismus verwandelt die „westliche Kultur in eine Maschine, in die vorne Leben hinein- und hinten Geld wieder herauskommt”, wie Thomas Assheuer in der „Zeit” das Unbehagen am jüngeren Gang der globalisierten Dinge beschreibt. Es ist ein Gang, der wegführt von den Werten des Humanismus wie wir sie in der Schule gelernt, in die Menschenrechtscharta und unser Grundgesetz geschrieben hatten.
Das Unbehagen an dieser geistig-moralische Orientierungslosigkeit hervorrufenden Sinnentleerung und Werteentwertung ist diffus, und seine diversen Ausdrucksformen sprengen die gewohnten Muster der politischen Beurteilung. Da vermengen sich Desinteresse, Misstrauen oder Verachtung für den als technokratisch und abgehoben empfundenen Politikbetrieb mit dem Gefühl des ohmächtigen Herum-Geschoben-Werdens und allerlei Ängsten vor Verlust der angestammten Lebensart. Da führt tiefe Verunsicherung auch zur Suche nach Orientierung an überkommenen Strukturen und Mechanismen: Die Sehnsucht nach Beheimatung und Behütung in einem starken Nationalstaat, womöglich geführt von einer starken Autorität, die eine nationalkonservative Leitkultur gegen die kulturellen Veränderungsprozesse der Globalisierung durchsetzt und bewahrt.
Wiederkehr des Monstrums Religionskrieg
2014 verstärkte sich dieser Zug ungemein. Ursache ist eine weitere Verunsicherung, hervorgerufen durch das Wiedererwachen eines Monstrum aus grauer Vorzeit: Plötzlich kehrt der Religionskrieg in die Weltgeschichte zurück. Er fügt dem ohnehin überkomplexen Weltgeschehen der Gegenwart einen weiteren unkalkulierbaren, aber wirkmächtigen Faktor hinzu. Diesmal ziehen nicht wie im Mittelalter Kreuzritter-Heere im Namen Gottes gegen die Muselmanen. Diesmal schlagen auch nicht wie bei den Konfessionskriegen des 16./17. Jahrhunderts Christen einander tot. Diesmal massakrieren von Afrika bis in den Mittleren Osten vor allem Muslime Muslime. Was mit dem Arabischen Frühling als große Hoffnung auf freiheitliche Modernisierung dieser Weltgegend begann, ist zu blutigen Bürgerkriegen, einem Kampf von Schiiten gegen Sunniten und zum Auftrumpfen der barbarischen, mittelalterliche Ziele verfolgenden Kalifatsbewegung des sogenannten Islamischen Staates (IS) geworden.
In einem solchen Durcheinander wie 2014 hat man die Welt lange nicht mehr erlebt. Und leider lässt sich kaum eine der vielen Tendenzen als eine im human-zivilisatorischen Sinne fortschrittliche Entwicklung deuten. Denn in der Mehrzahl sind sie ganz oder teilweise rückwärts gewandt – selbst dort, wo sie als Gegenbewegung zueinander auftreten. Der IS begegnet der „gottlosen Moderne” mit mordlüsterner Frömmigkeit und dem Versprechen auf einen jede Individualität erdrückenden, mittelalterlichen Gottestaat. Putin, Erdogan, Orban und Co. tun so, als setzten sie zum Wohle ihrer Völker dem Hegemoniestreben westkapitalistischer „Dekadenzkultur und Asozialität” die Verlässlichkeit nationaler Größe und konservativer Werte entgegen. Ergebnis ist eine weitgehende Entdemokratisierung und Entliberalisierung dieser Gesellschaften. Genauso verhält es sich mit den (rechts)populistischen Parteien und Strömungen bis hin zur PEGIDA-Bewegung. Sie propagieren als Mittel gegen die Probleme und Veränderungen infolge der Globalisierung Verhaltensweisen von vorgestern: Nationalismus, kulturelle Abschottung, Fremdenfeindlichkeit.
Die Würde des Individuums schwebt in Gefahr
Ob Autoritarismus, Rechtspopulismus, Islamismus oder ungezügelter kapitalistischer Neoliberalismus: Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie die modernsten Technologien benutzen, um historisch rückwärts gewandte Zwecke und Ziele zu verfolgen. Ihnen allen ist zugleich die Geringschätzung humanistischer Werte, bürgerlicher Freiheiten und der Würde des menschlichen Individuums eigen. Das Elend ist, dass viele Zeitgenossen dem sogar etwas abgewinnen können oder sich allmählich daran gewöhnen. In einem auf den ersten Blick ganz unscheinbaren Bereich unseres Alltags beispielsweise wird stillschweigend und unter allgemeiner Duldung Zug um Zug die Privatsphäre abgeschafft. Unter dem Deckmantel technischen Fortschritts kehren wir so dem Wesen nach zu einer Lebensform der feudalen Vormoderne, ja des Mittelalters zurück.
Jene Zeiten kannten kaum Privatsphäre, weil die Armen eng gedrängt lebten, die höheren Stände fortwährend in Lebensbereiche der niedrigeren hineingriffen und selbst in den Burgen und Palästen jeder jederzeit unter jedermanns Beobachtung stand. Privatsphäre als legitimes Bedürfnis nach und Recht auf Rückzugs- und Entfaltungsraum des Individuums ist eine kulturelle Errungenschaft der bürgerlichen Epoche. Wir aber sind gerade dabei sie gezwungenermaßen wie auch leichtfertig und gedankenlos aufzugeben. Denn das ist die sozialkulturell und politisch rückschrittliche Kehrseite der fortschrittlichen Möglichkeiten von Internet und Digitalkommunikation: explosionsartige Ausweitung beobachtender und beeinflussender Eingriffe in die Privatsphäre durch Staat, Wirtschaft, soziale Netzwerke und den normativen Zwang zur Dauerkommunikation.
Das Chaos in der Welt ist beträchtlich zu Beginn des Jahres 2015. Einfache Antworten und schnelle Lösungen sind kaum zu finden. Aber vielleicht hilft bei der Orientierung die simple Erinnerung an die Hoffnungen von 1789 und 1989 – auf Frieden, Freiheit, Selbstbestimmung, Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftliche Wohlfahrt, Solidarität und soziale Gerechtigkeit. Diese Werte sind der wahre Maßstab für Fortschritt. Und sie sind noch immer nicht erfüllt, weil im Orient wie im Okzident ein Schritt vorwärts oft nur zwei Schritte rückwärts maskiert.
Andreas Pecht
Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website am 2. Januar 2015