Ohne den Kuss der Musen kann es keinen echten Fortschritt geben
Neujahrsessay 2013: Die Künste waren und bleiben elementarer Bedingungsfaktor der menschlichen Zivilisation
ape. Mozart wird der Satz zugeschrieben: „Ohne Musik wär' alles nichts.“ Nietzsche sagte: „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.“ Dem Komponisten mag man die radikale Absolutheit seiner Aussage noch nachsehen, Musik war für ihn schließlich Berufung und Beruf gleichermaßen. Beim Philosophen hingegen ist die rationale Moderne geneigt, eher idealistische Schwärmerei anzunehmen. Denn wie könnten der Musik Lebenssinn stiftende Dimensionen innewohnen? Was, fragt der Konsument des 21. Jahrhunderts, sollten der Ernst des Lebens und das Freizeitvergnügen Musik gemein haben?
Interessanterweise schwindet die ernsthafte Wertschätzung für Musik in gleichem Maße wie ihre Allgegenwart zunimmt. Man stelle sich vor, es würde sämtliche medial verbreitete Musik mal verstummen. Plötzlich kommt nichts mehr aus den Radios, herrscht Ruhe in allen Ohrstöpseln, verschwindet das Gedudel aus Kaufhäusern, Restaurants, Fahrstühlen, Toiletten. Das gäbe ein arges Erschrecken: Stille, eine befremdende Zumutung. Wir haben uns daran gewöhnt, dass musikalisches Hintergrundrauschen permanent die Welt erfüllt.
Über Jahrtausende zuvor war Musik als Hörangebot der Ausnahmefall. Oder sie war eigenes Tun: Wer in historischer Zeit Musik haben wollte, musste selbst musizieren, wenn er die Mittel nicht hatte, sich Musikanten zu engagieren. Nietzsches „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“ stammt aus einer Zeit, da die mediale Verfügbarkeit von Musik noch in den Kinderschuhen erster Phonographen steckte. Im Zentrum des Musikerlebens stand, wie seit Jahrhunderten, das Live-Konzert in Kirchen, Sälen, Stuben oder auf Marktplätzen. Die meisten Menschen kamen in alten Zeiten nur höchst selten in den Genuss professioneller, gar kunstvoller Musik. Das waren dann besondere Momente, die Aufmerksamkeit erheischten.
"Die Wissenschaft ist der Verstand der Welt, die Kunst ihre Seele" (Gorki)
Mit dieser Aufmerksamkeit kamen die Altvorderen der Bedeutung von Musik für das Menschliche näher als wir heute unter elektronischer Dauerberieselung. Victor Hugo beschreibt diese Bedeutung so: „Musik bringt zum Ausdruck, was sich nicht in Worte fassen lässt und doch nicht still bleiben kann.“ Komponist Betrich Smetana formuliert: „Musik sagt das Unsagbare.“ Und was für die Musik als wortloser, unmittelbar ins Gemüt der (aufmerksamen) Hörer eindringenden Kunst gilt, gilt in unterschiedlicher Ausprägung auch für die übrigen Künste. Der Schriftsteller Maxim Gorki packte es in die treffliche Formel: „Die Wissenschaft ist der Verstand der Welt, die Kunst ihre Seele.“
Weshalb bis heute, ja erst recht heute, völlig falsch liegt, wer den Künsten bloß die Funktion angenehmer Zerstreuung zuweist. Die Wissenschaft weiß längst, dass Verstand und Seele eine Einheit sind, einander bedingen. Beides zusammen macht den Homo sapiens und seine Gesellschaft aus. Verkümmert die Seele, verkümmert unweigerlich ebenso der Verstand. Wäre unsere Spezies nicht immerfort von den Musen geküsst worden, sie hätte keine einzige nennenswerte Zivilisation hervorbringen können.
Ohne Musik, Tanz, Ornamentik hätte es weder Gemeinschaftsbindung noch die Möglichkeit beschwörenden Einflusses auf Geister und Ahnen gegeben. Ohne Lieder, Erzählungen, Malerei keine historische Kontinuität. Ohne Künste kein Bild von sich selbst und also auch keine Entwicklung vom ohnmächtigen Schicksalswesen zum selbstverantwortlichen Individuum. Ohne Künste kein Abbild von der Welt und also auch keine Fragen nach der Gestaltbarkeit einer anderen, denkbaren, möglichen. Gäbe es heute Literatur und Poesie, Malerei, Bildhauerei und Architektur, Schauspiel, Oper und Tanz nicht, man müsste sie schleunigst erfinden. Denn ohne sie kann der Mensch nicht sein, was er ist: seiner selbst bewusstes, über sich und seine Welt in Gefühl, Gedanke und Tat reflektierendes soziales Wesen.
Kunst ist kein Luxus, der erst entstünde, wenn die Mägen voll sind
Man sollte meinen, urzeitliche Menschen hätten mit dem Überleben genug zu schaffen gehabt und keinen Freiraum für den Luxus von Flötenspiel, Tanzfest oder Malerei. Doch Dank der Archäologie wissen wir, dass schon in frühesten Gesellschaften das Bedürfnis nach künstlerischem Tun verbreitet war; sei es als Teil archaischer Rituale oder zur eigenen respektive der Sippe Freude. Knochenflöten, Trommelreste, Grabschmuck, Höhlenmalereien aus Jungsteinzeit und Vorantike belegen: Das Bedürfnis nach Kunst entsteht keineswegs erst wenn die Überlebensverhältnisse gesichert und die Mägen voll sind. Kunst ist kein Luxus, sondern durchdringt die Geschichte als menschliche Grundeigenschaft – in guten und vielleicht noch mehr in schlechten Zeiten.
Die Ältesten unter uns erinnern sich noch an die ersten Wochen und Monate nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Da hatte mancher – trotz größter Sorge um Nahrung, Kleidung, Wohnung – allerhand Umstände auf sich genommen, um in notdürftig hergerichteten Sälen wieder ein Konzert oder eine Theateraufführung zu erleben. Das damalige Maß des Glücks bei ausgemergelten Künstlern und Publikum ist heute kaum mehr nachvollziehbar. Aber die Erzählungen von jenen Momenten lassen Nachgeborene doch erahnen: Für viele Menschen war das kriegsbedingte Verschwinden der Künste aus dem öffentlichen Leben eine schier existenzielle Entbehrung.
Einige der Ältesten erinnern sich an Momente, da sie zuvor mitten im Überlebenskampf Trost bei den Künsten gesucht hatten. In Schützengräben und Bunkern, oder in Gefangenenlagern und KZs konnte ein Gedicht, eine Melodie, die Erinnerung an ein Gemälde zur letzten Bastion des Menschlichen gegen die Entmenschlichung werden. Mag uns Heutige die Radikalität der obigen Sätze Mozarts und Nietzsches auch befremden, angesichts jener Erfahrungen unserer Ältesten wird deren grundlegende Wahrheit für das Leben doch begreiflich: Die Künste sind elementarer Bestandteil menschlicher Existenz – und damit ein Wert an sich.
Dominanz der ökonomischen Logik über die Kunst hat fatale Folgen
„Die Wissenschaft ist der Verstand der Welt, die Kunst ihre Seele“ – und die Ökonomie quasi ihr Leib, sei ergänzt. Alle drei Bereiche sind im Sinne einer gedeihlichen Weltentwicklung aufeinander angewiesen. Dennoch aber folgt jeder einer eigenen Systematik. In jüngerer Zeit gerät das Gleichgewicht allerdings aus den Fugen. Julian Nida-Rümelin beschrieb es einmal so: „Es treten besondere Probleme auf, wenn die Logik des einen Systems auf die des anderen übertragen wird oder ein System alle übrigen dominiert.“ Der ehemalige Kulturstaatsminister hob damit auf die fortschreitende Dominanz der Ökonomie mitsamt ihrer Nützlichkeits- und Rentabilitätslogik über alle anderen Gesellschaftsbereiche ab.
Für Künste und Wissenschaften heißt das, sie stehen immer stärker unter dem Druck, ihren wirtschaftlichen Nutzen beweisen zu müssen. Universitäten wetteifern seither um vermarktungsfähige Forschungsergebnisse und die optimale Markttauglichkeit ihrer Absolventen. Theater, Museen, Orchester und andere Kultureinrichtungen werden vorrangig als „Standortfaktoren“ für die Attraktivät einer Stadt/Region betrachtet, auf dass Touristen strömen und kaufkräftige Neubürger sich ansiedeln. Tendenziell führt die Übertragung der ökonomischen Logik auf die Künste zu deren Banalisierung: Nicht mehr künstlerische Qualität entscheidet über die Wertigkeit kultureller Angebote und Leistungen, sondern „am Markt“ erzielte Verkaufszahlen/Einschaltquoten.
Das Fatale dieser Logik besteht beispielsweise darin, dass die Unterscheidung zwischen tiefem Gefühl und Rührseligkeit ebenso verlorengeht wie die zwischen Literatur und Schmöker, zwischen Schauspielkunst und Show, zwischen Musikkunst und Schlager/Pop, zwischen Filmkunst und Popcorn-Kino. Nichts, aber auch gar nichts gegen Rührseligkeit, Schmökerei, Show-Entertainment, Pop-Musik, Schunkelschlager oder Leinwandkracher. Jeder braucht das; mal mehr, mal weniger. Problematisch wird es indes, wenn selbst bei vormals kunstsinnigen, gebildeten Zeitgenossen das Bewusstsein schwindet, dass wohlfeile Unterhaltung und tatsächliche Kunst nicht dasselbe sind.
Kunst meint das Gegenteil von Zerstreuung, meint Konzentration und Beisichsein
Erstere dient der Zerstreuung, letztere dem genauen Gegenteil: der Konzentration, der Aufmerksamkeit, dem Beisichsein, der denkenden und noch mehr fühlenden Auseinandersetzung mit der Seele von Welt und Mensch. Geht die Unterscheidung verloren, so auch der historische Anspruch und das Streben der bürgerlichen Gesellschaft, möglichst all ihren Gliedern den Zugang zum Reich der Künste zu ermöglichen – sei es durch für jedermann erschwingliche Kunstangebote, sei es durch heranführende Bildungsangebote.
Mit der Losung von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ging das Verlangen nach Aufhebung des herrschaftlichen Monopols auf Bildung und Kunstgenuss einher. Erst holten im 18./19. Jahrhundert die neuen Großbürger Orchestermusik, Darstellende und Bildende Künste aus den Schlössern in ihre Salons, in städtische Säle und Theater. Dann verschafften sich kleinbürgerliche Vereinigungen dort Zutritt. Schließlich begann im 20. Jahrhundert die Arbeiter- und Volksbildungsbewegung auch die Hochkultur zum Allgemeingut zu machen. Der letzte Aufbruch in diese Richtung erfolgte in der jungen Bundesrepublik unter der demokratischen Parole „Kultur für alle“.
Gemeint war damit die Öffnung und das Bemühen der Kulturinstitutionen für und um sämtliche Bevölkerungsschichten. Gemeint war nicht, dass die Künste sich dem kleinsten Nenner des populären Zeitgeschmacks anpassen. Aber dahin läuft die Entwicklung seither vielfach. So haben sich binnen 20 Jahren selbst in manch klassischem Kernbereich des Kulturbetriebes die Verhältnisse nachgerade umgekehrt: Waren zuvor Veranstaltungen ernsthafter Kunstrezeption die Regel und kulinarisch aufgemotzte Events gelegentliches Sonderangebot, kommt es einem heute oft vor, als käme Kunst ohne allerhand kunstfernes Anregungsbeiwerk gar nicht mehr aus – als sei sie ohne lockende Zugabe „unverkäuflich“.
„Wahre Kunst“ wird zur „Ware Kunst“, zum beliebigen Konsumartikel unter unzähligen anderen. Weil zusehends der Markt ihren Wert bestimmt, droht ihr Wert an sich als existenzieller Bedingungsfaktor für die menschliche Zivilisation verschütt zu gehen. Immerhin ahnen nicht wenige Zeitgenossen, welchen Verlust das bedeuten würde. Nie den Kuss der Musen spüren, niemals sich mit dem großen menschlichen Fragen, Sehnen, Suchen, Verzweifeln oder Beglücktsein auseinandersetzen, das den Künsten innewohnt: Dies Leben wäre in der Tat ein Irrtum – und die kunstlose Gesellschaft eine zu echtem, zu humanem Fortschritt nicht mehr fähige Ödnis.
Andreas Pecht
Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website am 2. Januar 2013