"Don Karlos" gar nicht gestrig

Kritik der Wiesbadener Premiere

ape/Wiesbaden. Wenn der eigentlich im Opernfach beheimatete Uwe Eric Laufenberg Schauspiel inszeniert, ist genaues Hinschauen angezeigt. Fast traditionelle Darstellung darf einen so wenig irritieren, wie zeitaufwendige Treue zum Originaltext. Jetzt hat der Intendant des Wiesbadener Staatstheaters den „Don Karlos” von Friedrich Schiller eingerichtet. Mit fast vier Stunden lässt er dem Text heutzutage ungewohnt viel Raum, und den Darstellern Zeit, dessen Tiefengeflecht nachzuspüren.

Vergessen ist rasch die stimmliche Indisponiertheit des Titeldarstellers in der Anfangsphase. Nils Strunk erspielt einen jungen Karlos, der leidet an der Gefühlskälte des königlichen Vaters Philipp. Noch mehr leidet er daran, dass dieser ihm die geliebte Braut wegschnappte, sie zur spanischen Königin und somit zu seiner Stiefmutter machte. Schiller packte diesen familiären Konflikt mit einer weltpolitischen Umbruchsituation zusammen. Darin ist Philipp Vertreter der altmächtigen Feudalreaktion, während Sohn und Gattin (in selbstkasteiender Strenge: Llewellyn Reichman) einem in Europa erwachenden Freiheitsgeist zuneigen.

Laufenberg bleibt bei dieser Konstruktion der Wechselwirkung zwischen Privatem und Politischem.  Er lässt Schillers Blankvers-Text ohne modern-interpretatorische Eingriffe für sich selbst sprechen – zurecht darauf vertrauend, dass das Stück von 1787 zwar einen konkreten Fall verhandelt, dessen Exemplarität aber in ihrer überzeitlichen Bedeutung bis in die Gegenwart verstehbar ist. Sicherheitshalber unterstreicht die Inszenierung dies mit wenigen historischen Brückenschlägen: König Philipp trägt grauen Geschäftsanzug, der ihn als Sinnbild auch für Mächtige heute ausweist; das Schlussbild zeigt ihn umschlungen vom Großinquisitor vor einem Foto zerbombter Häuser unserer Tage.

Gisbert Jäckel hat das Bühnenbild in kühl reduzierter Eleganz gehalten. Mal deutet es auf tiefer Bühne des Königs Arbeitszimmer an, mal einen Garten, mal das Boudoir der – von Kruna Savić als zugleich sinnlich und empfindsam geformten – Prinzessin Eboli. Dann wieder senkt sich eine Gitterwand herab, lässt nur einen schmalen, intimen Streifen Vorderbühne frei, Dort werden Intrigen und Verschwörungen geschmiedet, Gerüchte kolportiert. Dort kämpft Karlos seinen inneren Zwist aus zwischen hoffnungsloser Liebe zur Stiefmutter und von Freund Posa angestacheltem Willen zum Aufstand gegen den politischen wie privaten Vater-Diktator.

Das alles ist Schiller in schierer Reinform – selbst dort, wo Karlos den in Wiesbaden nackten Frauenreizen der Eboli erliegt oder Philip in barmender Leibesentblößung gleichermaßen Opfer schnöder Mannseifersucht wie der Angst vor dem neuen Zeitgeist wird. Laufenberg lässt bloß mit Schärfe ausspielen, was bei Schiller zwischen den Zeilen steht, dazumal aber nicht offen aussprechbar war.

„Ich kann nicht Fürstendiener sein!” und „Gebt Gedankenfreiheit!” schmettert Posa seine große Rede dem Autokraten entgegen. Mag der Agitationston auch etwas eintönig schrill geraten sein, so verfehlt Stefan Graf in der Rolle des Sendboten einer neuen Zeit doch nicht die Wirkung des schäumenden Schiller'schen Freiheitsplädoyers. Wie häufig bei diesem Stück gesehen, gerät auch in Wiesbaden die Figur Philipps zur interessantesten. Tom Gerber füllt sie mit einer faszinierenden Ambivalenz aus bald eiseskalter reaktionärer Staatsräson, bald abgrundtiefer Selbstquälerei bis hin zum Zusammenbruch.

Das zeigt – in Schillers und unserer Hoffnung – eine Herrschschaft am Ende ihrer Zeit, die nicht begreift, warum ihre Zeit enden muss. Doch verweist das Schlussbild dieses nie lange werdenden Abends darauf, dass das Ende auch 230 Jahre nach Uraufführung des „Don Karlos” noch immer nicht eingetreten ist. Dass im Gegenteil des Philipps System gerade eine Renaissance erlebt. Weshalb Schillers wunderbares Stück wieder einmal gar nichts mit musealer Gestrigkeit zu tun hat. Andreas Pecht

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