Wer ist denn da meschugge?

Quergedanken Nr. 93

„Der Alte vom Berg grantelt schon wieder, weil das 20. Jahrhundert vorbei ist“: So oder ähnlich reagierten selbst mir sonst wohlgesonnene Mitmenschen auf die Reserviertheit gegenüber Smartphones und ihrer penetranten Dauernutzung in der Oktober-Querdenkerei (∇ vgl. hier). Liebe Leut', muss denn jeder gleich ein weltfremder, gestriger Kauz sein, dem es bei so manchem neumodischen Kram an spontan bedenkenlosem Entzücken mangelt? Gewiss war früher nicht alles besser. Aber ebenso gilt halt: Nicht alles Neue ist automatisch gut.

Jedes dritte Jahr suche ich im großen Gewerbegebiet nördlich von Koblenz einen Laden auf, um die durchgelatschten Geländeschuhe durch neue (am liebsten gleichen, bewährten Typs) zu ersetzen. Doch jedesmal wird die Fahrt dorthin mühseliger, auch gefährlicher. Warum? Erstens: Weil der Verkehr wieder zugenommen hat. Zweitens: Weil zugleich ein Meer von Fahnen, Plakaten, Bannern, Schildern einen derart mit visuellen Reizen überflutet, dass man bald nicht mehr weiß, wohin gucken. Verständliche, aber in der Sache erkennbar kontraproduktive Konsequenz der Geschäfte im Ringen um Wahrnehmbarkeit: noch mehr Werbung an noch zahlreicheren, größeren, höheren Stangen, Stellagen, Wänden und – jüngster Trend – an in den Himmel wachsenden Turmaufbauten.

Das ist nicht nur in jedem Gewerbegebiet so. Es beglücken inzwischen sämtliche Städte Besucher mit werblich zuwuchernden Einfallstraßen und Fußgängerzonen. Der nächste Entwicklungsschritt lässt sich absehen: Werbeflächen, die alle paar Sekunden das Motiv wechseln, und haushohe Bildschirme, deren Flimmerbotschaften rund um die Uhr Fußgänger und Autofahrer zu Unaufmerksamkeit für die Realität nötigen. Jede Wette, dass solches Gedöhns wirtschaftlicher Unfug ist – die Verkehrsunfallstatistik noch oben treibt, aber sich auf die Handelsumsätze kaum auswirkt. Und nun die Frage, liebe Freunde: Muss ich diesen Quatsch gut finden, nur weil er im Trend liegt, sich als normal eingeschlichen hat? Fällt mir im Traum nicht ein!

Ich bin keineswegs grundsätzlich gegen Werbung. Doch will ich weder Stadt und Land darin ersaufen sehen, erst recht nicht von ihr als Blödmann behandelt werden. Wie neulich vom Kabelnetz-Betreiber. Der drohte mit Tamtam „Verbesserung unseres Angebots für Sie“ an. Heraus kam eine Neubelegung der Senderpositionen und stundenlanges entnervendes Klimpern auf der Fernbedienung, um den Fernseher wieder halbwegs brauchbar zu machen. Von Verbesserung indes keine Spur. Oder das Versprechen auf Männerparfüms, die selbst kühlste Schönheiten sogleich vor Begierde glühen lassen. Freund Walter hat die Wässerchen getestet – und ging nachher doch alleine, aber erbärmlich miefend zu Bette.

Den Vogel abgeschossen hat jüngst ein werbetextender Sprücheklopfer anlässlich einer Geschäftseröffnung in Koblenz: „Das ist kein Einkaufszentrum, das ist DEINE neue Heimat“, betitelte er ein Prospekt.  Der Typ hält die Mittelrheiner offenbar für vollkommen meschugge oder inzwischen für derart degeneriert, dass er meint, ihnen ein profanes Kaufhaus als idealen wie ideellen Heimatersatz aufschwatzen zu können. Oder aber, und jetzt wird’s bitterernst, dieser Werbetexter gehört einem neuen Menschenschlag an, der sich tatsächlich erst zwischen Stile-Shops und Food-Court richtig „beheimatet“ fühlt. Wenn das Fortschritt sein soll, rechne ich mir den Vorwurf „gestriger Kauz“ als Ehrentitel an.            

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 43/44. Woche Oktober/November 2012)

 

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