Schlachten wir endlich unsere heilige Kuh?
Quergedanken Nr. 176
„Das gibt Ärger“, meint Walter, als er sieht, worauf mein Text hinausläuft. Wieso? Es geht doch bloß um eine winzige Ergänzung der Straßenverkehrsordnung, die niemanden einen Penny kosten, aber allen Geld einsparen würde. „Du bist naiv“, entgegnet der Freund. „Das ist doch bei uns fast wie mit den heiligen Kühen in Asien. Die sind Gegenstand religiöser Verehrung und dürfen deshalb alles: Fußgängern und Radlern dumm im Weg rumstehen, auf Straßen die gefährlichsten Manöver vollführen, ihre Ausscheidungen überall ablassen.“
Sei es wie es sei, der Vorschlag liegt auf dem Tisch, und das zum x-ten Mal in fünf Jahrzehnten. Generelles 130er-Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Eines der beliebtesten Argumente dagegen geht heutzutage so: Man könne ohnehin nicht mehr freiweg Gas geben, weil die meisten Strecken bereits tempolimitiert seien oder es wegen Überlastung eh nur noch per Schleichfahrt vorwärts gehe. Zwei Sachen sind mir daran unbegreiflich: Warum dann immer diese Aufregung, sobald jemand die Tempolimit-Idee auch nur andeutet. Und: Wieso baut die Industrie überhaupt noch PKW, die 180, 210 oder mehr km/h bringen – wenn man die doch im gesamten übrigen Europa sowie fast im ganzen Rest der Welt nicht ausfahren darf und in Deutschland angeblich nicht kann?
Walter doziert: „Die Autoindustrie setzt auf die anarchistische Neigung ihrer Klientel. Streng genommen sind Autos mit derartigen Tempofähigkeiten nämlich überall auswärts de facto Anstiftung und Beihilfe zum Gesetzesbruch durch zu schnelles Fahren.“ Das ließe sich gut in der Schweiz beobachten. Dort wären übergroße Hochgeschwindkeitskisten auch recht beliebt, obwohl deftig bestraft wird, wen die eidgenössische Gendarmerie beim Überschreiten des Tempolimits (120) erwischt. Warum also kaufen relativ viele Schweizer solche Powerkarren? Des Freundes Antwort: „Jede Menge Anarchisten in Switzerland.“
Und wer sich daheim nicht traut, macht eben mal rüber (zu uns). Denn, anders als behauptet, gibt es hier noch Autobahnabschnitte zuhauf, wo man richtig drauftreten darf – und sei es nur, dass man jeweils für ein paar Kilometer den Spritverbrauch ins Zweistellige jazzt. Folge: Egal aus welchem Ausland du nach Deutschland hineinfährt, du meinst aus Entspannungszonen ins Irrenhaus oder ein Kriegsgebiet zu kommen.
Verstanden habe ich die einzig hierzulande so wütende Opposition gegen ein Tempolimit noch nie. Die Vorteile liegen doch auf der Hand. Weshalb sie weltweit wahrgenommen werden, außer halt bei uns: Weniger Spritverbrauch, weniger Abgase, weniger Reifenabrieb, weniger Fahrzeugverschleiß, weniger Lärm, weniger schwere bis tödliche Unfälle, weniger Fahrstress für alle, besserer Verkehrsfluss im Ganzen … Nennenswerte Zeitersparnis bringt das Bemühen um schnelles Fahren ohnehin nicht. Walter und ich haben es mehrfach getestet: Auf normal belebter A3 erkauft man sich bestenfalls 5 bis 10 % kürzere Fahrzeit mit 20 bis 40 % höherem Spritverbrauch durch nervigen Dauerwechsel zwischen Abbremsen und Drauftreten.
Am Ende bleibt nur ein einziges echtes Argument gegen Tempolimit: Schnellfahren macht vielen Automobilisten Spaß. Ach, es gäbe so manches, das auch mir Spaß machen täte, das aber – womöglich aus gutem Grund – verboten ist: nackt durch die Stadt tanzen; um 4.00 in der Früh auf dem Balkon Beethoven-Sinfonien voll aufdrehen; zweimal die Woche großes Lagerfeuer auf der Wohnstraße abbrennen; mit Pfeil und Bogen im Westerwald auf die Jagd gehen; lauten Dauertelefonierern in Eisenbahn oder Restaurant die Gerätchen zerdeppern …