Winter ade?
Monatskolumne "Quergedanken" Nr. 180
Freund Walter hat soeben den Winter 2019/2020 für beendet erklärt. Genau sagte er: „Ist ausgefallen, hat nicht stattgefunden. Wie schon der letztjährige. Jedenfalls, aber keineswegs nur, in unseren südwestdeutsch-rheinischen Breiten.“ Dieser Text entsteht Mitte Februar, weshalb ich einwende: Mal langsam, mein Lieber, da kann noch was kommen. Worauf er die Augenbrauen hochzieht und blafft: „Könnte viel nicht mehr sein, denn Anfang April wird bereits wieder Hochsommer ausbrechen. Falls nicht, trete ich zurück.“
Auf die Frage, wovon er denn zurücktreten wolle, gibt‘s den Bescheid: „Egal, Zurücktreteritis ist doch von der Politik (AKK) über den Fußball (Klinsmann) bis zur hohen Geistlichkeit (Marx) die neueste Mode und ich bin bekanntlich ein sehr modisch orientierter Mensch.“ Da rollen mir mit Blick auf Walters Staffage schier die Augen aus dem Kopf. Denn es gibt wohl keinen, der beim Äußeren derart getreulich auf die Wiederkehr der Mode von übervorgestern baut. Warum auch nicht, schließlich kehrt jüngst so allerhand wieder, was man längst auf dem Kehrrichthaufen der Geschichte endgelagert wähnte: Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus, Militarismus, braunes Gesocks, dumpfbackene bis größenwahnsinnige Herrscher…
Rumms, jetzt ist der Freund stinksauer. Kann ich verstehen und muss deshalb auch Abbitte leisten: Ausgerechnet ihn mit irgendwas – und sei‘s nur eine Banalität wie Klamotten – in die Nähe solchen Sumpfes zu rücken, ist völlig daneben. Es braucht zwei Friedenszigarren bis wir uns wieder haben. Hernach zurück zum Wetter. Oder ist‘s schon Klima? In Walters Mimik schleicht sich ein Hauch seliger Verträumtheit. Ich solle mir mal vorstellen, säuselt er, in einigen Jahren könnten zu Fastnacht 25 Wärmegrade üblich sein. „Ei, was wäre das eine Freud‘, wenn all die Gardemariechens – ja Ladies, von mir aus auch die Tanzoffiziere – in knappsten Tropenuniformen a la Mode Carneval in Rio rumschunkeln. Ob ich das noch erleben darf?“
Au weija, und zuvor springen wir an Dreikönig zum Anbaden nackend von der Kölner Domplatte in die Nordsee. Freund, geht‘s noch?! Bevor nun jemand meint, wir zwei seien komplett durchgeknallt, darf auf folgende „Verrücktheiten“ verwiesen werden: Heuer kehrten die ersten Kranich-Wellen schon Mitte Januar aus dem Süden zurück. Zur selben Zeit zeigte das Thermometer sogar im Westerwald 12 bis 15 Plusgrade an und blühen dorten seither die Krokusse. Ein paar Februartage, nachdem das halbwilde Sabinchen nicht als Wintersturm, sondern mit Aprilwetter übers Land zog, sitzt man in Freiburg bei 20 Grad im Straßenkaffee – und liest staunend in der Zeitung, dass es in der Antarktis just eben genauso warm ist, mithin wärmer als je seit Menschengedenken.
Das erinnert mich an meinen Heimatkundelehrer in der Odenwälder Volksschule. „Was ist Winter?“ hatte der uns Steppkes anno 1965 gefragt, um für Südwestdeutschland zu definieren: „Winter ist, wenn es zwischen Dezember und März wenigstens zwei mindestens vierwöchige Dauerfrostperioden gibt und bei mindestens einer davon über dem Land durchgehend eine geschlossene Schneedecke liegt.“ Wissenschaftlich ist das wohl nicht ganz korrekt, war eher eine eigenmächtige Ableitung des Herrn Magister aus den Erfahrungen vieler Generationen Einheimischer. Eben deshalb aber fragt man sich erst recht: Wann haben wir zuletzt einen derart „normalen“ Winter erlebt? Das liegt schon ein paar Jährchen zurück.