Die Seuche ist der Feind, nicht der Seuchenschutz
Monatskolumne "Quergedanken" 186
Ich hatte überlegt, mal wieder ein nettes Textchen über was Schönes zu schreiben; schließlich wird auch in Corona-Zeiten noch genossen, gelacht, gelebt, geliebt. Also etwa über die mir jüngst ins Auge gestochene „neue“ Hosenmode für Girlies und Ladies. Da wird wohl gerade die 4/5-Stretchjeans abgelöst, die mich in ihrer ästhetischen Wirkung die letzten Jahre über stets erfreute. Es verbreiten sich nun locker, luftig fallende Beinkleider im angedeuteten Matrosenschnitt. Ebenfalls in 4/5 Länge gehalten (also mit etwas „Hochwasser“), ist auch dieses Outfit gefällig anzuschauen, denn: In solcher Bux swingt der Trägerin Gang, tänzelt schier, strahlt selbstbewusste Leichtigkeit aus.
Dann allerdings fiel mir ein: Kurz nach Erscheinen unseres Magazins würde US-Amerika seinen Präsidenten wählen. Und das wiederum ist diesmal derart ernst, dass Geschreibsel über modisches Tanderadei fehl am Platze sein möcht‘. Immerhin entscheiden die Bürger der (noch) gewichtigsten Militär- und Wirtschaftsmacht auf Erden, ob ihr Land eine halbwegs ordentliche Demokratie bleibt, mit zumindest einer vagen Chance auf weniger Rassismus, etwas mehr Sozialstaatlichkeit und ökologische Verantwortung. Oder ob weiter ein Lügenbaron auf dem Thron hockt, der Gott für einen weißen Amerikaner hält, Frauen, Schwarze, Latinos für dienstbares Zubehör, Angela Merkel für eine Kommunistin und US-Kohle für das gesündeste aller Lebensmittel. Einen, der die USA nach eigenem Bild umformen will und regieren nach dem Muster „der Staat bin ich“.
Doch just beim Schreiben dieser Zeilen Mitte Oktober werden die Einschläge der Corona-Seuche ringsumher rasch zahlreicher, wuchtiger und rücken näher. Also dachte ich: Das mag den Leuten hier mehr auf den Nägeln brennen als selbst das Drama jenseits des großen Teiches (dessen Ausgang, sollte der „großartigste Präsident aller Zeiten“ im Amt bleiben, auch uns teuer zu stehen kommen könnte).
Es wurden jüngst neue Grundrechenarten entwickelt: die Attila-Naidoo-Maximierung und die Schwurbelminimierung. Bei deren Anwendung stellen sich 25 000 Demonstranten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen als 1,2 Millionen heraus oder reduzieren sich 210 000 Corona-Tote in den USA auf 12 000. Allerdings sind diese Rechenarten selbst bei einschlägigen Rechenkünstlern perdu, sobald ein schwerer Covid19-Verlauf sie selbst oder jemand aus ihrer nächsten Umgebung niederwirft. Gleiches gilt für alle, die aus dem bis eben gemäßigten Verlauf der Epidemie hierzulande den Schluss ziehen: Das Virus denke deutschlandfreundlich, werde auf deutschem Boden ganz harmlos. Liebe Leut‘, das Virus denkt gar nicht; es ist wie es ist und reagiert stets nur auf die Bedingungen, die wir ihm bieten. Sind diese günstig – wegen konfuser Schutzmaßnahmen und/oder weil sich zu viele Zeitgenossen gedankenlos oder mutwillig nicht an die AHAL-Regeln halten – langt Sars-CoV-2 überall schnell und kräftig zu.
Seit Monaten erleben wir in Politik und Gesellschaft lebhaften Streit, was wo wie wann an Eindämmungsmaßnahmen gegen die Seuche sinnvoll, vertretbar, angemessen, notwendig oder eher kontraproduktiv sei. Das geht in Ordnung, solange es sich um Dispute über den bestmöglichen Seuchenschutz handelt. Das geht nicht mehr in Ordnung, wenn das Gefahrenpotenzial der Epidemie bloß klein- oder gar weggeredet werden soll – bis irrwitziger Weise nicht mehr die Seuche, sondern der Seuchenschutz als Hauptfeind gilt.