Warum ich zur Kultur stehe, aber dennoch den Teil-Lockdown für richtig halte
Persönliche Erklärung
Aus Gründen - eine (etwas längere) Erklärung:
1. Persönlich: Ich muss mir von niemandem, aber auch von gar niemandem Mangel an Solidarität mit den Kulturschaffenden oder Nichtbegreifen der essenziellen Bedeutung von Kultur für die Gesellschaft vorwerfen lassen. Über Jahrzehnte habe ich in zahllosen Artikeln, Aufsätzen, Vorträgen, ja mit meiner gesamten Arbeits- und Lebenshaltung vertreten: Ohne die Künste, ohne ein vielgestaltiges, vitales Kulturleben ist eine humanistische, freiheitliche Gesellschaft gar nicht möglich, wäre vielmehr ihr Abgleiten in die Barbarei zwangsläufig.
2. Zur aktuellen Lage: In der Tat ist ein Kernpunkt der jetzigen Tragödie, dass nun vor allem diejenigen den Schlamassel ausbaden müssen, die der Seuche mit größtem Ernst und in größter Sorge um die Gesundheit der Mitmenschen begegnet sind, deshalb mit größter Sorgfalt bestmögliche Sicherheitskonzepte in ihrem Schaffensbereich praktiziert haben. Gleichwohl mag ich mir das - verständliche - Verlangen der Kulturszene nach Offenhaltung ihrer Einrichtungen nicht umstandslos zu eigen machen. Denn das Kind ist leider in den Brunnen gefallen: Das große "Gesellschaftexperiment mit ungewissem Ausgang", als das der im Frühsommer begonnene Öffnungsprozess bezeichnet wurde, es muss als gescheitert gelten - WEIL der Staat es nicht hinbekommen hat, die Basics des Seuchenschutzes in ALLEN Bereichen der Gesellschaft durchzusetzen.
Andernfalls hätten die Leugner zwar sowieso dümmlich oder aus politischem Kalkül "Polizeistaat" gebrüllt, aber wir hätten jetzt nicht die exponentielle Seuchenlage, die wir haben. Und die folgt erstmal Naturgesetzen, die ich nicht ausblenden kann/will/darf. Und dementsprechend halte ich es für illusionär, zu meinen, man könne die Kultureinrichtungen (oder auch Wirtshäuser, Hotels etc.) als gänzlich Virus-geschützten Freiraum erhalten, während ringsumher die Seuche bei bald 20 000, nachher 50 000 oder noch viel mehr Neuinfektionen täglich flächendeckend quasi durch alle Ritzen sickert.
Zudem: Wenn sich Fachwelt und das Gros der Öffentlichkeit einig sind, dass eine beträchtliche Reduktion der physischen Menschenkontakte das derzeit wichtigste Mittel zur Eindämmung des jetzt katastrophalen Seuchenwachstums ist, kann das nach meinem Dafürhalten nur heißen, auch das öffentliche Leben soweit als möglich zurückzufahren. Es mögen zwar Kultureinrichtungen und gut organisierte Gasthäuser vielleicht in ihrem Innern mit zu den sichersten Räumen überhaupt zählen, die Wege dorthin tun es so wenig wie die fast unvermeidlich eintretenden vorherigen oder nachherigen Plaudereien und kleinen Geselligkeiten drumherum.
3. Was tun? Das schlimmste ist: Ich fürchte, die jetzigen Flicken-Maßnahmen, so hart sie im Einzelfall sind, werden womöglich gar nicht hinreichen, das exponentielle Seuchenwachstum maßgeblich zu entschärfen. Ich bin schon seit einigen Tagen der Ansicht, das Gescheiteste wäre ein zeitlich begrenzter Generallockdown, um das Infektionsgeschehen deutlich zu reduzieren - UND HERNACH mit wieder vertretbar entschärften, dafür aber IN ALLEN BEREICHEN rigoros durchgesetzten Schutzbestimmungen frisch ans Werk zu gehen.
4. Zu den neuen Coronahilfen: Die jetzt dem Teil-Lockdwon unterworfenen Bereiche erbringen - notgedrungen - quasi (wieder) ein Sonderopfer für die gesamte Gesellschaft. Weshalb es nötig, recht und billig ist, dass der Staat gerade dem Millionenheer von Freischaffenden/kleinen Selbstständigen finanziell maximal, unbürokratisch, schnell zur Seite steht. Da offenkundig viele der politisch Verantwortlichen keinerlei Vorstellung davon haben, wie das reale Leben gerade für freie Kulturschaffende aussieht, müssen die Verbände ihnen sofort gehörige "Nachhilfe" verabreichen. Damit nicht - erneut - zahlreiche Kulturis und Soloselbstständige durchs Hilferaster fallen. Um beispielhaft nur eine von zahlreichen "Kleinigkeiten" zu benennen, die bei Nichtbeachten zu fatalen Auswirkungen führen würden: Es dürfen die neuen Coronahilfen keinesfalls gekoppelt werden daran, dass Kompensationsbedürftige einen Steuerberater haben müssen. Denn: Ein beträchtlicher Teil der freien Kulturschaffenden hat eben keinen Steuerberater, nie einen gehabt respektive sich nie einen leisten können.
Andreas Pecht