Gibt es keine Theaterstücke mehr?
Kommentar / Wider die unselige Mode, gehäuft Romane auf die Bühne zu bringen
ape. In dieser Woche wurden hier nacheinander drei Kritiken zu aktuellen Schauspielpremieren veröffentlicht, denen ich die immergleiche Frage vorangestellt hatte: „Gibt es denn keine echten Theaterstücke mehr?” Sie bezog sich für Bonn auf die Bühnenadaption des Films „Das Fest”, für Mainz und Wiesbaden auf die Theatralisierung der Romane „Kopflohn” von Anna Seghers und „Buddenbrooks” von Thomas Mann. An nur einem Wochenende kamen damit in der hiesigen Region also gleich drei Inszenierungen von Werken zur Premiere, die ursprünglich gar nicht fürs Theater geschaffen wurden.
Die Ballung „geklauter” Fremdstoffe ist symptomatisch für eine jüngere Mode am deutschsprachigen Theater. Deren erste Welle hatte um die Jahrtausendwende ihren Höhepunkt und im Südwesten Deutschlands eine Hochburg. Erinnert seien wenige Beispiele stellvertretend für viele Bühnenadaption insbesondere von literarischem Fremdstoff: Manns „Zauberberg” in Mainz, Goethes „Wahlverwandtschaften” in Frankfurt und Wiesbaden, „Schimmelreiter” von Storm in Köln oder Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” in Bonn.
Seither hat sich diese Manier an sehr vielen Häusern von Wien und Zürich bis München, Berlin, Hamburg erst als Trend, dann als fester und nicht eben schmaler Bestandteil des Theaterangebots etabliert. Gibt es also keine echten Theaterstücke respektive versierte Stückeschreiber mehr? Hat sich da gar ein Zeitgeist eingenistet, über den Kritikerkollegin Judith von Sternburg jüngst in der Frankfurter Rundschau mutmaßte: Die Theater seien zu faul, Geschichten selbst zu erfinden und neue Stücke auszuprobieren; oder das Publikum sei zu bequem, sich auf neue Stücke einzulassen.
Ersteres ist Unfug. Letzteres mag so sein. Signifikant ist jedenfalls, dass dort, wo neue Stücke zur Aufführung kommen, dies überwiegend auf kleinen Neben- und Experimentierbühnen geschieht, während Theatralisierungen berühmter Romanklassiker auf den Hauptbühnen gezeigt werden. Allerdings ist das auch ein Problem der Nachfrage. Romanadaptionen sind beim Publikum heute einfach beliebt. Die Vermutung liegt nahe, dass das mit einer allgemeinen Hinwendung zur kurzweiligen Häppchenkultur zu tun hat. Beispielsweise 800 Seiten „Buddenbrooks” zu lesen, kann sich über Tage oder Wochen hinziehen. Das Theater hingegen reduziert den Aufwand auf die Verkostung eines Verschnitts an einem einzigen Abends.
Doch sollte niemand glauben, er könne auf solch bequemem Weg die „Buddenbrooks” seinem literarischen Background einverleiben. Von den gravierenden Verkürzungen ganz abgesehen, sind Romane und deren Aneignung durch Lesen nunmal etwas grundlegend anderes als Theaterstücke und deren Aneignung durch Hinschauen. Zahlreiche Theatralisierungen von Romanen müssen künstlerisch als völlig gescheitert gelten, andere sind szenische Illustrationen zerschnipselter Vorlagen geblieben. Nur die wenigsten schaffen mit der Bühnenform einen kulturellen Zusatzwert zum literarischen Original.
Deshalb mein Vorschlag: Man spiele am Theater mehr echte Stücke und lese zu Hause mehr gute Literatur.
Andreas Pecht