Dogma-Film „Das Fest” als erschütterndes Bühnenstück
Starke Inszenierung von Martin Nimz am Theater Bonn
ape. Bonn/Bad Godesberg. Gibt es denn keine richtigen Theaterstücke mehr? Nach fast einem halben Dutzend Theatralisierungen von Romanen in dieser Saison, brachte das Schauspiel Bonn jetzt noch ein Werk auf seine Godesberger Bühne, das ursprünglich ein Film war. Auch das nicht zum ersten Mal; Bühnenadaptionen nach Fritz Langs „Metropolis” und Fassbinders „Welt am Draht” standen dort 2014/15 ebenfalls auf dem Programm. Am Wochenende folgte nun „Das Fest” nach dem von Vinterberg/Rukov Ende der 1990er gedrehten ersten Film auf Basis des mit Lars von Trier entwickelten Dogma-95-Manifests.
Und siehe: Die von Martin Nimz inszenierte Anleihe bei der Kinokunst erweist sich im Rahmen der zuletzt allüberall inflationär betriebenen Verarbeitung von Stoffen aus den Nachbargenres als einer der eher seltenen Glücksgriffe fürs Theater. Der Grund liegt auf der Hand: Der auf Sprechtext bauende Handlungskern ist konzentriert auf den begrenzten Raum einer Villa, auf den Zeitraum eines Tages, auf die überschaubare Gästeschar einer Familienfeier. Damit bietet „Das Fest” – in seiner Anlage erinnernd etwa an Tennesse Williams „Katze auf dem heißen Blechdach” – schier idealtypische Bedingungen für eine Bühnenbearbeitung.
Nimz und Bühnenbildner Sebastian Hannak ließen dafür den großen Saal der Godesberger Kammerspiele aufwändig zur quasi intimen Spielstätte umrüsten. Zwischen auf zwei Seiten ansteigenden Sitzreihen fürs Publikum ist unten eine Festtafel aufgebaut, an die und um die herum lebensfroh lächelnde und ausstaffierte Modepuppen drapiert wurden. Anfangs sind diese ebenso mit weißen Tüchern verhängt wie die dazwischen sitzenden und stehenden menschlichen Teilnehmer an der folgenden Feier zum 60. Geburtstag von Familienoberhaupt Helge.
Zum surrealen Prolog schreibt inmitten der gesepsntischen Versammlung die durch Suizid umgekommene Linda (Lydia Stäubli) einen Brief. Der wird gegen Ende des dreistündigen Abends beweisen, dass der Jubilar vor Jahren ein Mehrfachschänder seiner eigenen Zwillingskinder Linda und Christian war. Das enthüllt während der Feier auch ihr Bruder in einer unerwarteten Wendung seiner Laudatio auf den alten Herrn. Doch die Festgemeinde tut die Anklage ab als Fantasma seiner bekannten psychischen Angeschlagenheit – und feiert verbissen weiter.
Wie so viele Stücke des späten 19. und des 20. Jahrhunderts lebt „Das Fest” vom Topos der hässlichen Abgründe hinter verlogener bürgerlicher Moral- und Rechtschaffenheitsfassade. Nimz' Inszenierung treibt, dem Film folgend, diese Konstellation durch einen erschütternden Parcour von erst naturwüchsiger, dann besinnungslos aufrecht erhaltener Verdrängung des „Undenkbaren” voran zur finalen Unausweichlichkeit der Wahrheit. Unterwegs zur finalen Wahrheitsexplosion dringt das Stück immer tiefer auch in scheinbare Nebenprobleme der großbürgerlichen Familie ein.
Dabei bieten sich reichlich Möglichkeiten für die intensive Darstellung komplexer, gebrochener oder im Zuge des Geschehens brechender Charaktere. Wovon das 16-köpfige Ensemble auf allen Positionen in versierter Hingabe Gebrauch macht – meist sorgsam ausbalanciert, nur selten mit überdramatisierendem Rumor. Bernd Braun gibt den Helge als stoisch kalten, sich seiner Unantastbarkeit sicheren Patron, der bis zum Ende nicht begreift, warum die Kinderschänderei seine Stellung gefährden sollte. Benjamin Grüter formt einen zwischen aufgestautem Hass und verzweifelter Revolte schier vergehenden Christian.
Sein jüngerer Bruder Michael ist bei Benjamin Berger ein armes Würstchen, das sich als Möchtegern-Herrenreiter und Tyrann über die eigene Kleinfamilie geriert. Christians jüngere Schwester Helene setzt in der Darstellung von Sophie Basse am deutlichsten jenen Zug um, der jenseits der Kinderschänderei viele Beziehungen in diesem Stück charakterisiert: Sie hassen, verachten, verletzen einander und tragen doch zugleich stets den Impuls zärtlicher Zuwendung in sich. Eine Dauertragödie – die nach Entlarvung und Verstoßung des kinderschänderischen Vaters als wieder trautes Idyll wohl zwangsläufig der nächsten Krise entgegen schwebt.
„Das Fest” in Bonn ist starker Tobak, das Gemüt der Zuseher oft hart angehend. Aber es ist auch fabelhaftes Theater, das zugleich der Dogma-Filmkunst seine Reverenz erweist: mit per Wackelkamera auf zwei Leinwände übertragene Liveprojektionen von Spielszenen. Unbedingt sehenswert.
Andreas Pecht