Heimat - Sehnsuchtsraum und Kampfbegriff

Vortrag vom 26.9.2021 auf Schloss Bürresheim

ape. Beim nachfolgenden Text handelt es sich um das unkorrigierte Manuskript meines Vortrags "Heimat - Sehnsuchtsraum und Kampfbegriff" in der Fassung für eine öffentliche Veranstaltung der Generaldirektion Kulturelles Erbe (GDKE) Rheinland-Pfalz am 26.9.2021 auf Schloss Bürresheim bei Mayen. Vortragsdauer: Gut eine Stunde. Mündliche Ausführungen an einigen Stellen leicht abweichend.


 

Guten Morgens allerseits, an diesem denkwürdigen Wahlsonntag.

Als Dieter Dierkes mich vor gut drei Jahren – es können auch schon vier sein – fragte, ob ich einen Vortrag zum Thema Heimat auf Schloss Bürresheim halten könnte und möchte, war die Welt noch eine andere.

Mein Vortrag war im Februar 2020 bereits fertig. Doch dann kam Corona. Was nicht nur mehrfach verschiebenden Einfluss auf den Termin für diese Veranstaltung hatte. Vielmehr wurde im Verlauf der Pandemie deutlich, dass ich meinen Text um einige Aspekte über das Verhältnis der Menschen zu ihrer Heimat, über ihr Heimatgefühl, würde erweitern müssen.

Denn da hat sich allerhand verändert während der beinahe zwei Jahre im Seuchen-Ausnahmezustand. Das Verhältnis ist enger geworden – ganz praktisch und auch vom Gefühl her. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bürger hat während dieser Zeit die nähere Umgebung wieder, neu oder überhaupt erstmal entdeckt – und schätzen gelernt.

Nach der alten Devise „Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah“ erlebten Wanderungen, Spaziergänge, Ausflüge, Picknicks in heimatlichen Gefilden einen gewaltigen Boom. Freizeit und Urlaub in der eigenen Region, im eigenen Land haben in der Breite der Bevölkerung eine seit den 1950-/60ern nicht mehr erlebte Wertschätzung gewonnen.  
Mehr noch: Auch dem Lebenswert, der Lebensqualität der unmittelbaren Umgebung wurde gesteigerte Aufmerksamkeit zuteil. Manch einer legte während der Pandemie umgestaltende Hand an Wohnung oder Haus, entdeckte Balkon, Terrasse, Garten als Freizeitraum mit bislang ungeahnten Möglichkeiten und Qualitäten. Die Menschen nahmen Stadtparks, Uferpromenaden, Wald und Wiesen am Ortsrand mit geschärftem Interesse wahr UND in Besitz.

Ob dieses neue Verhältnis zum heimatlichen Nahraum Bestand haben wird, steht dahin. Bei einem Teil der Bevölkerung haben sich gewiss neue Horizonte geöffnet und hat die Wertschätzung für den Nahraum dauerhaft zugenommen. Ein anderer Teil will offensichtlich nichts dringender als möglichst schnell wieder in die Flieger steigen und zu den touristischen Vergnügungen in aller Herren Länder rund um den Erdball zurückkehren.

Im Frühjahr 2021 hatte ich meinen Heimat-Vortrag gerade um die Corona-Aspekte erweitert, da erzwang die Natur mit verheerender Gewalt ein neuerliches Durchdenken und teilweise Umarbeiten des Textes. Die jüngste Sturzflut-Katastrophe in Rheinland-Pfalz und NRW drückte mit Macht einen Aspekt in Vordergrund, den bis ich dahin vor allem unter dem Gesichtspunkt soziokultureller und infrastrutureller Veränderungsprozesse des Heimatraumes betrachtet hatte: die Gefährdung der Heimat – in diesem Falle ihre existenzielle Gefährdung durch entfesselte Naturgewalten ungeahnter Größenordnung in Folge des Klimawandels.

Meine Dame und Herrn,
„my home is my castle“ sagt das Sprichtwort, mein Heim ist meine Burg – also der intime, persönliche Schutzraum inmitten und gegen die Zumutungen und Unbilden der großen Welt draußen. Wir wir im weiteren Verlauf meiner Ausführungen sehen werden, ist das menschliche Bedürfnis nach Geborgenheit und Sicherheit in vertrauter Umgebung eine zentrale Komponente des Gefühls der Beheimatung, der Heimatbindung.

Wenn aber das eigene Heim, die engste heimatliche Umgebung und Nachbarschaft durch äußere Gewalt unversehens zertrümmert, gar zur Todesfalle wird, ist das eine Form brutalsten Sturzes in die Bodenlosigkeit –  die sich ein nicht direkt Betroffener kaum vorstellen kann.

Gleichwohl ist das der Stoff, aus dem die Albträume sind, die beispielsweise junge Leute im Rahmen der Klimaschutzbewegung Fridays For Future auf die Straße treiben.  Ich habe am Freitag am Rande der Koblenzer FFF-Demonstration mit einigen der zahlreich vertretenen jungen und sehr jungen Teilnehmer gesprochen und dabei festgestellt: Es ist ein ganz simpler Grund, der diese Menschen zu ihrem Engagement treibt: Die realistische Furcht, dass sie und die Kinder, die sie einmal gebären, in einer Welt leben müssen, in der Wetterextreme und Großkatastrophen als quasi alltäglicher Normalfall den Lebensfrieden in der Heimat bedrohen.

***
Wir sprechen heute über etwas scheinbar ganz Einfaches, ganz Simples. Wir sprechen über einen nahezu selbstverständlichen Alltagsbegriff von scheinbarer Allgemeingültigkeit und scheinbarem Ewigkeitswert. Der Begriff heißt: HEIMAT.

Wir werden allerdings feststellen, dass an diesem Begriff herzlich wenig einfach, selbstverständlich, allgemeingültig oder gar ewig ist.  

Betrachten wir heutige Bewohnerstatistiken von Städten oder ländlichen Regionen, fällt rasch ins Auge:
a) der Anteil der Zugezogenen ist ziemlich groß,
b) der Anteil derjenigen, die einen Teil ihres Lebens in anderen Städten verbracht haben oder als Pendler arbeitend dort verbringen ist ebenfalls ziemlich hoch.

Darf ich mal in die Runde frage: Wer von ihnen ist an seinem Wohnort ein Zugezogener, also nicht dort von frühester Kindheit an ansässig und aufgewachsen? …...

Im historischen Vergleich ist das eine ziemlich junge Erscheinung, die sich allmählich erst im Laufe des 20. Jahrhunderts herangebildet hat. Erst in dessen später Phase hat sie die heute dominierende Form angenommen. Die sieht auf dem Land so aus: Die Dörfer sind Schlafplätze und teils privater Lebensraum, die Städte sind Arbeitsplätze und teils privater Freizeitraum. Das wirkt sich etwa in Koblenz so aus: Morgens Stauverkehr hinein, abends Stauverkehr hinaus.

In den urbanen Ballungsräumen wie Rhein-Main oder Köln/Bonn sieht die Sache ein bisschen anders aus: Da ist morgens und abends Stauverkehr in ALLE Richtungen.  Man könnte meinen, halb Frankfurt arbeitet in Wiesbaden und Mainz, halb Wiesbaden und Mainz in Frankfurt.

Das mag etwas überspitzt sein, trifft aber doch die aktuelle Situation recht gut: Wohn- oder private Lebensorte und Arbeitsorte sind heute vielfach voneinander getrennte Orte. Noch im 19. Jahrhundert war die Lage  anders. Die Mehrheit der Bevölkerung lebte und arbeitete in IHREM Ort.

Wer damals seinen HEIMATort verließ, (Koblenz oder irgendein Dorf auf den Höhen) um im Ruhrgebiet als Arbeiter einen Broterwerb oder in Übersee ein besseres Leben zu suchen, der kehrte in der Regel nie mehr zurück. Wer damals beispielsweise seiner westerwäldischen oder eifelanischen HEIMAT freiwillig oder meist gezwungenermaßen den Rücken kehrte, der musste anderwärts eine neue Heimat gewinnen oder sich aufbauen.

Im 18. und im 19. Jahrhundert waren viele Länder Mitteleuropas, nicht zuletzt die hiesigen Regionen, Auswanderungsländer. Hunderttausende Menschen aus der Pfalz, aus dem Nahe-Raum und nicht zuletzt aus Westerwald, Eifel, Hunsrück hatten wegen wirtschaftlicher Not ihre hiesige Heimat verlassen. Sie suchten vor allem in Nord- und Südamerika sowie an der Wolga eine neue Lebensperspektive.

> Edelsteinschleifer IO = Südamerika
> Katharina d. Große systematische Anwerbung von Bauern, um das Wolga-Gebiet landwirtschaftlich zu kultivieren.
> Wie im Rahmen der großen Kartoffelkrise aus Irland, gab es auch aus den hiesigen Regionen Auswanderungswellen derart großen Umfangs, dass der landbesitzende Adel bisweilen Auswanderungsverbote verhängte, weil die Arbeitskräfte knapp wurden.

All diese Auswanderer haben immer einen Teil der alten Heimat mit sich genommen. Etwa in Form von
- Sprache
- Kleidung
- Arbeitstechniken
- typischen Gerichten
- Liedern Tänzen, Festgebräuchen etc.

Die meisten von ihnen haben sich in der Fremde anfangs zu Gemeinschaften mit Ihresgleichen zusammengeschlossen. Sie haben eigene Siedlergruppen, teils eigene Dörfer, Gemeinden oder Ghettos gebildet. Diese Neigung beobachten wir seit jeher bei allen Auswanderungs-/Einwanderungswellen.

Es wirkt eben sehr stark der Wunsch nach Vertrautheit einer persönlichen, sozialen und kulturellen Umgebung auch und gerade in der Fremde.

Wir müssen wohl davon ausgehen, dass dieses Bedürfnis nach Vertrautheit und Geborgenheit ein urmenschliches ist. Freilich steht dieses Bedürfnis bald im Wettbewerb mit einer anderen urmenschlichen Eigenschaften: Neugierde, Anpassungsdrang an die neue Umgebung, Fähigkeit und Lust zur Veränderung, die Fremde als neue Heimat erschließen.  

Sämtliche Untersuchungen über Auswanderer/Einwanderer früherer wie auch heutiger Zeiten haben ergeben: Die Bindung und Erinnerung an ihre erste Heimat ist für die erwachsene Generation der Weggezogenen sehr stark und mit intensiven Gefühlen belegt. Doch schon bei den anderwärts aufwachsenden Kindern schwächen sie sich Bindungen an die Heimat der Eltern schnell und deutlich ab. Diese Heranwachsenden wollten zB im Falle der deutschen Auswanderer nach Amerika bald keine Deutschen in der amerikanischen Fremde mehr sein. Sie verstanden sich vielmehr sehr bald als echte Amerikaner – allenfalls mit deutschen Wurzeln.

Wir können diese Form der Assimilation ab der zweiten, spätestens der dritten Generation in der neuen Heimat seit den 1950er-Jahren auch bei den meisten Einwanderern nach Deutschland beobachten. Auch die sog. „Gastarbeiter“ aus Italien, Jugoslawien , Griechenland etc. haben zuerst Ghettos gebildet. Doch schon deren Kinder waren und fühlten sich primär als hiesige Kinder.

 > Die innerfamiliären Auseinandersetzungen, Streits, Brüche zwischen ausgewanderten Eltern und in der neuen Heimat geborenen/aufgewachsenen Kindern oder Enkeln sind mannigfach und heftig hinsichtlich Benehmen, Kleidung, Kultur, Lebensart…. Manches erinnert an die oft sehr heftigen häuslichen Streitereien der 1960er/70er in deutschen Familien zwischen Eltern der Kriegsgeneration und den langhaarigen Söhnen oder kurzberockten Töchtern mit ihrer Vorliebe für angloamerikanische „Neger-Musik“ und sexuellen Freiheitsdrang.  

Für die Enkel der ursprünglichen Migranten sind die Erzählungen der Großeltern über ihre einstige Erstheimat meist nur noch hübsche Familienfolklore. Und interessant, was die Bevölkerungsforschung als einen markanten Ausdruck der Assimilation resp. Integration von Migranten ausmachte: Bereits in der ersten Generation der in der neuen Heimat geborenen Kinder beginnt im Erwachsenenalter die Geburtenrate sich derjenigem im Einwanderungsland anzupassen. Spätestens in der dritten Generation sind im Regelfall bei der Geburtenrate keine Unterschiede mehr zwischen Familien mit und ohne Migrationshintergrund feststellbar.  

Den Nachgeborenen der ursprünglichen Auswanderer wird bald auch klar, dass die Erinnerungen der Alten recht unzuverlässig sind. Die Wissenschaft hat ermittelt, dass gar zu wohlige Rückbesinnung auf die Kindheits- und Jugendzeit oft mehr mit Verklärung als mit einstiger Realität zu tun hat. Behalten werden die schönen Momente, die unangenehmen verdrängt. So verwandelt sich Heimat in der Vorstellung zum Ideal, zum Paradies, zugleich zu einer Art utopischem Sehnsuchtsort oder -zustand.

Nostalgie nennt sich dieser idealisierende Mechanismus. Der brachte etwa im 19. Jahrhundert eine allgemeine Schwärmerei für die vermeintlich „goldene Zeit“ des ritterlichen Mittelalters hervor. In ihrer banalsten Form findet diese Nostalgie ihren Ausspruch in dem Satz: „Früher war alles besser“ oder „Früher daheim war alles besser“.

Es gibt da interessante Parallelen zu den jüngsten zwei Jahrzehnten der Gegenwart hierzulande. Ich denke an die Lobpreisungen der „schönsten Stadt der Welt“ bei Tourismuswerbern und Einheimischen – in JEDER Stadt. Ich denke an die Liebeserklärungen für die „einmalige und schönste Landschaft der Welt“ – in fast jeder Gegend. Koblenzer und Mittelrheiner sind  Meister in dieser Art der Selbstbeweihräucherung.

Wobei es sich um ein psychologisch durchaus verständliches, wenn auch recht komisches Phänomen handelt. Denn viele hundert Millionen Menschen auf Erden empfinden hinsichtlich ihrer Heimatstadt oder Heimatregion genau das Gleiche – sofern sie dort freiwillig, gerne und nicht in Elend und Krieg leben.

Wir beobachten seit rund drei Jahrzehnten hierzulande eine kontinuierliche Vermehrung und Ausbreitung des Phänomens „Verbundenheit mit dem lokalen Heimatraum“ – oder anders und etwas spitz bezeichnet: des Phänomens „Lokalpatriotismus“.

Interessanterweise verläuft die Ausbreitung dieses Phänomens in zeitgleicher Parallelität zur fortschreitenden globalen Vernetzung, zum explosionsartig aufwachsenden globalen Massentourismus, zur medialen und kulturellen Öffnung sämtlicher Erdteile füreinander.

So ist heute verbreitet die auf den ersten Blick eigentümliche Erscheinung anzutreffen, dass sich ansonsten weltläufig orientierte Zeitgenossen zugleich in lokaler Heimatverbundheit ergehen.      

Der Patriotismus der Moderne ist der Lokalpatriotismus. Er hat gegenüber den alten Nationalpatriotismen einen entscheidenden Vorteil: Es wird nicht gleich geschossen.

Geburtsheimat, Erstheimat, Kindheitsheimat, Zweitheimat, Wahlheimat: SIE merken schon jetzt, wie der Heimat-Begriff beginnt, sich in verschiedene Bedeutungen  aufzufächern. Bedeutungen, hinter denen sehr unterschiedliche Lebensentwürfe, Lebenswege, Lebensarten, Schicksale und Gefühlswelten stecken können.

Lassen Sie mich als weiteren Beleg für die Ambivalenz, die Vielgesichtigkeit des Heimatbegriffes ein paar Aspekte meines eigenen Lebensweges anführen:

Ich verstehe mich heute – 44 Jahre nach Wegzug von Neckartal und Odenwald, nach Ansiedlung erst kurz in Koblenz, dann 41 Jahre im Westerwald – als WÄLLER MITTELRHEINER. Ich empfinde die Mittelrheinregion als meine Heimat. Mein berufliches Kernarbeitsfeld, wie auch mein privates kulturelles Lebensumfeld sind allerdings deutlich größer: Es erstreckt sich von Köln bis Frankfurt. Ich nenne diesen Raum „den südlichen Westen der Republik“ und begreife ihn als meine regionale Heimat. Wohingegen Koblenz, der Mittelrhein, der Westerwald und das Dorf im Unterwesterwald, wo ich lebe, mir als lokale Heimat gelten.

Definitorisch mag da der eine oder andere Einwände erheben. Die wären aber völlig sinnlos, weil nunmal ich als Individuum und aus meiner individuellen Lebensweise heraus, die genannten Sphären für mich als heimatlich empfinde.

Mit besagtem „südlichen Westen der Republik“ bin ich bestens vertraut. In den Ballungsräumen Köln/Bonn und Rhein-Main kenne ich mich aus, besser als sonst irgendwo in Deutschland. Ich bewege mich dort  sicher durch örtliche Eigenheiten, weiß über örtliche Kultur und Tradition einigermaßen Bescheid, kenne die Stärken und Schwächen dieser Ballungsräume.

Wenn ich heute nach Mainz, Wiesbaden, Frankfurt, nach Bonn oder Köln fahre, fühle ich mich dort nicht mehr als Besucher oder gar Fremder, sondern als Dazugehöriger, quasi als Fast-Einheimischer. Dieses Gefühl der Vertrautheit, der Verbundenheit, der Beheimatung in den beiden urbanen Nachbarmetropolen fiel nicht mit dem Umzug plötzlich vom Himmel, es ist während rund vier Jahrzehnten allmählich herangewachsen.

In Mainz, Bonn und Köln leben inzwischen sogar einige meiner nächsten und liebsten Verwandten. Das sind allesamt jüngere Leute, die vor Jahren des Studiums und/oder des Berufes wegen ihre Geburts-,  Kindheits- und Jugendheimat verlassen haben. Sie sind aus dem Westerwald, aus Braubach, aus Münstermaifeld und aus Gerolstein wegzogen. Sie haben in oder um Mainz, Köln, München, Berlin Arbeitsstellen, Lebenspartner, Wohnsitze gefunden; haben Familien gegründet und Kinder bekommen – sind mithin in einer neuen, einer zweiten Heimat angekommen.

Und keineswegs außerordentlich ist es heutzutage, wenn die eine oder andere der jungen Familien nach ein paar Jahren weiterzieht, um in Skandinavien, Amerika, Australien oder sonstwo auf der Welt eine dritte oder im Alter gar eine vierte Heimat zu finden.

Beim Blick auf die jungen Leute in Deutschland lässt sich feststellen: Rund die Hälfte der hier Geborenen bleibt ihrer Geburtsheimatregion verbunden, kehrt nach Lehr- und/oder Studienjahren ggf mit eigener Familie dorthin zurück. Für die andere Hälfte indes ist es völlig normal, zum Studium oder zur Arbeit in die Ferne, auch ins Ausland zu gehen, eigene Familien anderwärts zu gründen, sich dort niederzulassen und eine neue Heimatbindung aufzubauen.

Manchmal, und sofern noch Verwandtschaft existiert, kehrt man zu Weihnacht oder Fastnacht, zum Weinfest oder zur Kirmes als Kurzzeitbesucher in die Kindheitsheimat zurück. Wo keine Verwandtschaft mehr lebt, hört auch das irgendwann auf, weil nun endgültig andere Orte und Gegenden Heimat geworden sind.

Städter landen in der Provinz, häufiger Dörfler in Städten. Pfälzer verschlägt es nach Norddeutschland, Rheinländer nach Bayern, Deutsche ins Ausland, und alles auch umgekehrt. Dies ist der Zahn der Zeit in unserer Mobilitätsepoche – und er bliebe es, selbst wenn es keine Flüchtlinge gäbe.

Der Anteil derer, die ihr Leben im oder nahe am Geburtsort verbringen und sich dort zu Grabe tragen lassen, wird zusehends kleiner. Der Nachwuchs geht seine eigenen Wege, will sie gehen oder muss sie gehen. Wege, die vermehrt von der ersten Heimat wegführen.

Was mich betrifft, so ist der besagte südliche Westen mit dem Mittelrhein und dem Westerwald als meinem persönlichen Kern schon meine dritte. Heimat.  Meine Geburts- und Kindheitsheimat war ein Kleinstädtchen im Odenwald. Meine zweite, die urbane jugendliche Sturm-und-Drang-Heimat: Heidelberg und Mannheim.

Dass meine Frau und ich vor 40 Jahren dann im Westerwald landeten, war allerdings purer Zufall. Es hätten ebensogut Taunus, Hunsrück, Eifel sein können. Doch fanden wir eben in einem Westerwald-Dorf jenes schön gelegene kleine Häuschen nahe am Wald, wo wir bis heute leben und privat eine halbe gärtnerische Selbstversorgungswirtschaft betreiben.

Als wir damals dort einzogen, wusste ich gar nichts vom Westerwald, außer dass da angeblich der Wind so kalt sei. Die neue dritte Heimat wollte erst erkundet, angenommen, gewonnen sein.

Assimilation oder Integration in die neue Heimat funktioniert unter einer Bedingung nur schlecht oder gar nicht: Wenn die alteingesessene Mehrheitsgesellschaft die Neuankömmlinge dauerhaft schneidet, isoliert, diskriminiert, unterprivilegiert. Wenn den Zugezogenen quasi verwehrt wird, eine positive Beziehung zur neuen Umgebung und ihren Menschen einzugehen.

Blicken wir noch einmal in die USA, wo wir das Phänomen der Integrationsverhinderung in großem Maßstab gut sehen können: Es war und ist teils noch die von der weißen Gesellschaftsdominanz ausgehende Diskriminierung, die auf Seiten der Afroamerikaner sowie der lateinamerikanischen und asiatischen Einwanderer zu andauernder sozialer und kultureller Ghettobildung führte.

Die anhaltende Unterdrückung der Schwarzen in den USA löste bei diesen eine große Bewegung zur Rückbesinnung auf ihre afrikanischen Wurzeln aus. Die verlief gerade in den 1960-/70ern derart radikal, dass viele US-Schwarze ihre eigentliche Heimat wieder in Afrika sahen/fühlten. Sie distanzierten sich himmelweit von einem American way of life, der ihnen die Teilhabe als gleichberechtigte Amerikaner verwehrte.

Ich denke, es ist bis hierher bereits deutlich geworden: Wenn wir über Heimat sprechen, müssen wir uns klar darüber sein, dass wir über einen vielfarbig schillernden Begriff reden – dem heute fast jeder eine andere Bedeutung zumisst.

„Wo meine Lieben sind, meine Familie lebt, da bin ich daheim“. Mein Dorf, meine Stadt, mein Westerwald, oder meine Eifel oder mein Mittelrheintal, mein Koblenz „ist für mich der schönste Ort auf Erden und meine Heimat“. „Wo ich mich wohlfühle, auskenne, aufgenommen bin, das ist Heimat für mich“.  Solche, vorwiegend auf das kleinräumige persönliche Lebensumfeld bezogene  Antworten erhalten Demoskopen hierzulande seit Jahren jeweils von riesigen Mehrheiten auf die Frage: „Was ist/bedeutet für sie Heimat?“

Der große Raum, Deutschland, wird bei solchen Umfragen stets hinter den persönlichen Umfeldern eingeordnet. Und gar die „Nation“ landet dabei regelmäßig abgeschlagen auf den hinteren Plätzen. Ich werde den nationalen oder nationalistischen Heimatbegriff nachher noch etwas genauer beleuchten.

Deutschland ist landschaftlich, landsmannschaftlich, kulturell, ja teils sogar sprachlich zu vielgestaltig, um insgesamt als persönlicher Raum der Vertrautheit, Geborgenheit, Beheimatung empfunden werden zu können.

Ich mag das Münsterland, die Haide, die Landschaften der norddeutschen Tiefebene und die Küstenlande von Nord und Ostsee sehr. Liebend gerne verbringe ich dort zwei, drei Wochen Urlaub. Aber dauerhaft im Flachland zu leben, ist mir ebenso unverstellbar wie in einer Gegend ohne weitläufige Wälder oder ein Leben in der Großstadt. Wenn ich nach Schleswig-Holstein fahre oder auf die Insel Rügen, fühle ich mich immer als Besucher, Urlauber, Tourist.

Jedoch habe ich Landschaften in Bayern, Österreich und der Schweiz, in Italien und Frankreich, in Tschechien und Slowenien erlebt, wo ich mich ganz schnell heimisch fühlen könnte. Und ich kenne Landschaften in Deutschland, wo ich mich niemals heimisch fühlen würde.

Oder auch anders betrachtet: Die voralpinen und alpinen Bayern sind landschaftlich und kulturell mehr mit Österreichern, Böhmen, Slowaken verwandt als mit Kölnern, Münsterländern oder Friesen. Die Niedersachsen und die Schleswig-Hollsteiner verbindet landschaftlich, historisch und kulturell mit Dänen, Schweden, Norwegern mehr als mit Rheinländern, Hessen, Kurpfälzern oder Schwaben.

Man muss, um das zu verstehen, gar nicht das deutsche Kleinstaatenerbe bemühen. Meist genügt es, sich die diversen Landschaften anzuschauen und ein bisschen die Traditionen dort zu betrachten. Dann erkennt man, warum diese oder jene Gegend zum eigenen Heimatgefühl dauerhaft nicht passen würde – Deutschland hin oder her.    

Es gibt auf die Frage „ was ist für sie Heimat?“ witzige Antworten.  Etwa die: „Wo die Rechnungen hinkommen, da ist meine Heimat.“ (Udo Lindenberg). Und es gibt Antworten, die den meisten Zeitgenossen auf den ersten Blick recht ungewöhnlich erscheinen. Vom Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki ist der Spruch überliefert „meine Heimat ist die Literatur“.

Ähnliche Aussagen kennen wir von vielen Künstlern. Vorwiegend von solchen, die fahrendem Volk gleich mit ihrer Kunst ständig von einem Ort zum andern ziehen. Etwa Dirigenten und bedeutende Musiker, die ständig weltweit unterwegs sind. Oder Theaterschauspieler, Tänzer, Sänger, die oft nur für wenige Jahre am selben Haus bleiben, gar von Saison zu Saison an andere Theater verpflichtet werden.
 
Solche Menschen empfinden Heimat erstmal nicht als örtliche Bindung; und wenn sie etwa keine eigene Familie am Ort haben, nichtmal als soziale Bindung. Sie finden Heimat in ihrem künstlerischen Tun.

Ein Großteil der jungen Deutschen hat heute eine ziemlich unverkrampfte Beziehung zum Begriff Heimat. Die ist dort, wo sie leben, wo sie ihre Freunde, Familie etc. haben. Wenn Fußball-WM ist, ergreifen sie Partei für ihre Mannschaft, feiern die Kicker-Fete auch mal mit Fahnenschwenken und Schminkung in Nationalfarben. Wenn aber Rock am Ring ist, schwenken sie Fahnen und Embleme ihrer liebsten Stars aus aller Welt – oder schwofen einfach nur zu Musik aus aller Welt.

Genau besehen, sind unsere jungen Leute, was ihre kulturellen Vorlieben und ihre zentrale Kulturtechnik angeht, WELTBÜRGER. Das gilt heutzutage auch für die Jugend auf dem Land. Musik, Mode, Freizeittrends, Lebensart, neuerdings selbst politisches Umweltbewusstsein: Auf all diesen Gebieten sind sie vor allem Kinder einer zeitgenössischen Weltkultur. Und das Instrument zu deren Verbreitung ist die mediale Globalvernetzung primär durch das Internet – die heute selbst in den abgelegensten Dörfern angekommen ist (wenn auch bisweilen mehr schlecht als recht).  

Damit überspringen gerade die Jüngsten eigentlich die analoge Phase, ihr EUROPÄERTUM entdecken zu müssen: Sie sind in einem Ausmaß und mit einer Selbstverständlichkeit Europäer, die bei der Kriegsgeneration noch völlig undenkbar gewesen wäre. Die Eltern oder Großeltern sind noch geprägt vom Ringen um dieses Europäertum. Für meine Generation war in den Jugendjahren der 50er, 60er, 70er die Beendigung der Erbfeinschaft mit Frankreich sowie die Überwindung anderer binneneuropäischer Ressentiments von überragender Bedeutung. Für unsere Kinder und Enkel spielt das kaum noch eine Rolle.

Ich selbst habe mich schon in der Jugend mehr als Europäer denn Deutscher gefühlt, weil: a) ich munter sämtliche Länder Nord-, West-, und Südeuropas bereiste und b) bald eine Menge Leute aus all diesen Ländern zu meinen guten Bekannten oder Freunden zählte.

Und schließlich, c), empfand ich mich mehr als Europäer denn Deutscher,  weil der Heimatbegriff und das Heimatgefühl belastet, vergiftet, verdorben war durch den Nationalsozialismus. Wie sollte man eine „Heimat“ schätzen, gar lieben können, in deren Namen die schrecklichsten Verbrechen begangen wurden? Und wenn dann ausgerechnet die alten NS-Parteigänger uns, der damaligen Jugend, vorhielten, Heimatliebe zu Deutschland und deutscher Patriotismus stünden über „einer für Deutschland schlecht gelaufenen historischen Phase“ (heute: Mückenschiss), dann konnte uns seinerzeit nur die Galle hochkommen.

Das Ergebnis ist bekannt: Die linken und liberalen Milieus in Deutschland haben den Heimatbegriff mehrere Jahrzehnte den Konservativen und den Rechten überlassen. Erst in jüngerer Zeit hat die Rückeroberung wieder begonnen. Und allmählich wird erkennbar, dass es zwei grundlegend verschiedene Deutungsströmungen von Heimat gibt, die im Wettstreit miteinander stehen: eine weltoffene und eine hermetisch geschlossene.

Das ist genaugenommen nichts neues. Der Kampf zwischen beiden Heimatbegriffen dauert nun schon mehr als 150 Jahre. Um das zu verdeutlichen, muss ich noch einmal zurück in die Geschichte.

„Da draußen, stets betrogen / Saust die geschäft'ge Welt / Schlag noch einmal die Bogen / Um mich, du grünes Zelt!“ Mit diesen Versen umreißt Joseph von Eichendorff 1810 jenen Gegensatz, der die Bindekraft des Begriffs Heimat wesentlich prägen sollte: Auf der einen Seite die schnöde, hektische, ja betrügerisch undurchsichtige Welt der modernen Zivilisation; auf der anderen Seite das Sehnen nach Rückkehr ins Aufgehobensein, in die Vertrautheit und Geborgenheit der natürlichen Umgebungsgefilde altbekannter „O Thäler weit, o Höhen, / O schöner, grüner Wald“.

Je eiliger, komplexer, befremdender der Gang der technischen Zivilisation, umso dringender das Bedürfnis nach einem übersichtlichen Raum der persönlichen Geborgenheit.

Eichendorff beschreibt das Gefühl, das wir heute vielfach mit Heimat verbinden, ohne den Begriff selbst zu benutzen. Denn es gab das Wort in seinem später ideellen Sinne zu des Dichters Zeit noch gar nicht. Benutzt wurde das Wort Heimat seit dem Hochmittelalter vornehmlich als juristische Bezeichnung für die heimatrechtlichen Ansprüche jener Bevölkerungsteile, die Grund und Boden besaßen. Nur sie durften ein Gewerbe ausüben und heiraten. Für besitzlose Mägde, Knechte, Tagelöhner, Bettler, Armeeveteranen musste „Heimat“ einen bitteren Beigeschmack haben: Sie waren von den Heimatrechten ausgeschlossen. Heimat = Besitz an Grund und Boden.   

Weshalb von den Industrieproletariern bald nach ihrem Auftauchen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert als „heimatlose Gesellen“ gesprochen wurde. Von „heimatlose Gesellen“ zum Schimpfwort „vaterlandslose Gesellen“ für aufmüpfige Arbeiter und Sozialisten war der Weg nicht weit.

Er wurde gespurt vor allem von der kaiserlich-patriotischen Aufladung des Heimatbegriffs im Zuge der deutschen Reichsbildung um 1871. Heimat wurde von da an – erst von da an!! – gleichgesetzt mit Vaterland und Nation. Logisch, war Deutschland bis dahin doch gar kein Deutschland, sondern die betreffenden Gebiete nur ein Kleinstaaten-Teppich.

Die Menschen kannten in ihrer Masse nur Bindungen an Regionen, die oft von wechselnden Fürstenfamilien, gar mit unterschiedlichen Religionen regiert wurden. Der 1871 frisch aus der Taufe gehobene nationale Obrigkeitsstaat tat dann alles, um einen nationalen Heimatbegriff in die Welt zu setzen sowie ihn zu besetzen mit einer quasi naturrechtlichen Ideologie. Einer Ideologie, die fußt auf einem angeblich bis auf die Vorväter uralter Zeit zurückgehenden Deutschtum.

Diese Deutschtums-Ideologie sollte sämtliche Klassenunterschiede wie auch regionale Eigenheiten im landsmannschaftlichen Misch-Reich übertünchen. Heimatliebe sollte von nun an bedeuten: „Für Kaiser und Reich!“ – alle gemeinsam gegen die Fremden, vorneweg die französischen „Erbfeinde“. Später wurde daraus „Für Führer und Vaterland!“.

Beides war eine andere Art Heimatliebe und Nationalbewegung als jene, die sich 1832 beim Hambacher Fest und 1848/49 mit revolutionärem Aufbegehren Ausdruck verschafft hatte. Für eine einige, freie, demokratische deutsche Nation in einem Europa freier Völker hatten die Redner auf dem Hambacher Schloss gesprochen. Für nationale Eigenständigkeit in demokratischen Ordnungen fochten 35 Jahre später Aufständische von Polen bis Portugal.

Für Kaiser, Könige, Fürsten, Bischöfe nebst deren nationalkonservativen Parteigängern indes galt ab den 1870ern als  Heimatverächter und „Vaterlandsverräter“, wer die Herrschaftsverhältnisse ändern wollte und/oder um Verständigung zwischen Völkern und Kulturen warb.

Seitdem war der Heimatbegriff vergiftet vom Nationalismus. Der ließ ab 1914 Millionen jubelnde Soldaten ins Massengrab ziehen. Der bot nachher den Nationalsozialisten den Humus, ihre „Volksgemeinschaft der aus Blut und Boden erstandenen Herrenrasse“ die Verbrechen des Holocaust begehen zu lassen und die Herrenrasse gegen den Rest der Welt in den Untergang zu führen. Kein Wunder, dass in der Bundesrepublik lange der Begriff „Heimat“ von vielen misstrauisch beäugt bis kategorisch abgelehnt wurde.

Das Ringen um die Deutungshoheit über den Begriff Heimat dauert, wie gesagt, schon mehr als 150 Jahre. Denn es wäre ein Irrtum, anzunehmen, dass den von deutschnationaler Seite verschrieenen „Heimatverächtern und Vaterlandsverrätern“ Heimatgefühle fremd seien. Das Gegenteil ist der Fall. Allerdings hat ihr Heimatverständnis wenig zu tun mit Kaiser, Führer, Volksgemeinschaft, deutschtümelndem Nationalethos oder gar faschistischer Rassenlehre.

„Heimwärts, heimwärts jeder sehnet zu den Eltern, Frau und Kind“ heißt es im Moorsoldatenlied, einst gesungen von überwiegend linkspolitischen Gefangenen im KZ Börgermoor. Und schon 100 Jahre zuvor hatte Heinrich Heine in Frankreich mit dem Exil-Gedicht „Nachtgedanken“ wunderbare Verse geschrieben über sein Heimweh – nicht etwa nach Deutschland, sondern nach seiner betagten Mutter in Deutschland.

„Denk ich an Deutschland in der Nacht / So bin ich um den Schlaf gebracht“. Den Doppelsinn der Anfangszeilen hat der deutsche Nationalkonservatismus dem Dichter so wenig verziehen wie etwa die  Formulierung „Nach Deutschland lechzt ich nicht so sehr, / Wenn nicht die Mutter dorten wär“.

Heine wurde zu Lebzeiten als Netzbeschmutzer und Franzosenfreund geächtet und ins Pariser Exil getrieben. Noch bis in die späten 1960er-Jahre wehrten sich deutsch-reaktionäre Kräfte vehement gegen eine angemessene öffentliche Wertschätzung des großen Dichters aus Düsseldorf.

Denn es gibt kaum etwas, das Nationalisten mehr in Rage bringt, als das Bemühen um Entgiftung des Heimat-Begriffs. Entgiftung mittels dessen Loslösung von rassisch-politischer Deutschtums- und Nationalideologie. Entgiftung durch die positive Ausdeutung des Heimat-Begriffs als privat-menschlicher Gefühlsraum von Vertrautheit, Geborgenheit, Beheimatung in einem Familien- und Freundeskreis, einem Ort oder einer Landschaft.

***
Ist Heimat etwas Festgefügtes, etwas Ewiges, Unveränderliches? Wir haben gesehen: Nein. Wie sich die Welt als ganzes verändert, so auch der Heimatbegriff, das Heimatgefühl und ganz lebenswirklich der reale Heimatraum.

Schauen wir uns letzteren, den hiesigen Heimatraum und seine Entwicklung in den jüngsten Jahrzehnten mal etwas näher an.

Als wir uns vor 40 im Westerwald niederließen, gab es in unserem (Doppel)Dorf dort:
- 5 Gaststätten
- 1 Metzgerei
- 1 Bäcker
- 2 Allround-Tante-Emma-Läden
- 1 Damenmoden-/Kurzwarengeschäft
- 1 Kolonialwarenladen (Spielzeug, Schulbücher, Gartenbedarf, Heimwerkerbedarf etc)
- 1 Postfiliale
- 2 Bankfilialen
- 1 Schuhmacher
- 1 Friseur
- 1 Allgemeinmediziner
Was gibt es davon heute noch? Gar nichts mehr! Zuletzt hat vor drei Jahren die Volksbank ihre Filiale geschlossen.

Diese Entwicklung des infrastrukturellen und sozialkulturellen Ausblutens war deutschlandweit in abertausenden Dörfern und Kleinstädten die gesamte zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts typisch (und ist es teils noch).

Diesen Prozess nenne ich „Entheimatung der Heimat“ von dem jüngst so viel die Rede ist. Politisch interessierte Kreise beziehen diese Begrifflichkeit freilich vor allem gerne auf vermeintliche Überfremdung durch Migranten.
Da wird so getan, als sei Heimat ein unveränderliches Lebens- und Kulturgefüge – dem Gefahr ALLEIN durch den Zuzug von Fremden drohe. Diese subjektive Vorstellung ist zwar schon einige Jahrhunderte alt, hatte aber mit der Wirklichkeit seit jeher wenig zu tun.

Die umfassendsten Veränderungen der hiesigen heimatlichen Lebensweise gehen vielmehr in den vergangenen 100 Jahren aus von:
1. der Automobilisierung der Gesellschaft,
2. in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Fernsehen
3. in jüngster Zeit von der hemmungslosen Ökonomisierung aller Gesellschaftsbereiche und ihrer Digitalisierung
4. von der Globalisierung.

Keine der Einwanderungsbewegungen seit Kriegsende vermochte das Leben hierzulande objektiv derart grundlegend zu verwandeln wie diese Faktoren des „Fortschritts“. Nicht die Millionen Ostflüchtlinge und Vertriebenen; nicht die „Gastarbeiter“ aus Italien, Jugoslawien, Griechenland etc., schließlich der Türkei. Mittelfristig ist auch die Veränderungswirkung durch einige hunderttausend Migranten, Flüchtlinge, Asylbewerber der jüngsten Jahre nur eine Kleinigkeit im Vergleich zu den gewaltigen Umwälzungen, die etwa mit der Digitalisierung noch einhergehen werden.

Und der Prozess der rabiaten Umgestaltung heimatlicher Landschaften durch die Automobil- und Mobilitätskultur, durch die Ökonomisierung der Landschaft ist noch längst nicht abgeschlossen. Der Weiter- und Neubau von Umgehungsstraßen, Autobahnen, Parkplätzen, Autohöfen erreicht gerade einen neuen Temposchub. Ebenso der Flächenverbrauch durch immer neue Industrieansiedlungen, Gewerbegebiete und Wohngebiete. Und dazu obendrein die Umwandlung von Naturraum in Tourismus-Nutzfläche.

Das alles hat mit Zuwanderung nichts zu tun. Ebensowenig, dass die Dörfer veröden. In manchem Kleinststädtchen oder größerem Dorf ist man im Gegenteil froh, beim Türken einkaufen zu können oder beim Italiener einen Platz für Stammtisch, Skatrunde, Kappensitzung zu finden. Der Beerdigungskaffee wird beim Griechen, Spanier, Chinesen genommen, wo auch Familienfeiern unterkommen.

Man mache sich nichts vor: Auf dem Land erhalten über weite Strecken gerade zugewanderte Mitbürger letzte Bastionen der Infrastruktur; in den Städten sichern sie in Gastronomie, Handel und Kultur jene Vielfalt, die urbanes Leben erst ausmacht.

Heimat – sie verändert sich seit ewigen Zeiten immerfort. Stillstand war nie und das Paradies war auch nie, denn jede Veränderung wird seit jeher auch von Problemen begleitet. Doch während etwa der ländliche Raum durch Vernachlässigung und Ausblutung der dortigen Infrastruktur tatsächliche Entheimatung erfährt, sind andere Momente für die Heimat längst unverzichtbar geworden und bereichern sie: der kurdische Briefträger, die Kebabbude; das griechische Lokal im einen, das thailändische im anderen Nachbardorf; die Mitstreiter süd- und osteuropäischer sowie lateinamerikanischer Herkunft im Gesangs- und im Sportverein, die es beide ohne sie vielleicht gar nicht mehr gäbe; die deutsch-afghanisch besetzte Autowerkstatt, der Priester aus Kamerun, die Altenpflegerinnen aus Polen; das in Syrien geborene Lehrmädchen im Supermarkt, der aus dem Iran stammende Arzt im Krankenhaus …

Viele von ihnen finden hier eine zweite Heimat – und sehnen sich wie wir alle danach, dass diese gemeinsame Heimat ein Raum der Geborgenheit sein möge.         

Zum Abschluss ein kurzer Blick auf jüngeres Bemühen, Heimat zu erhalten, zu schützen und womöglich auf gedeihliche Weise weiterzuentwickeln – gedeihlicher zumindest als die bedingungslose Auslieferung an die blindwütige Wachstums-Ökonomie. Zu diesen Bemühungen können wir fast alles rechnen, was irgendwie mit Natur- und Umweltschutz sowie mit Gemeinwohlwirtschaft zu tun hat.

Als direkten Heimatschutz möchte ich beispielsweise bezeichnen:
- Widerstand gegen Straßenneubau und andere Großbauprojekte
- Widerstand gegen Waldvernichtung
- Einsatz für Naturschutzgebiete
- für naturnahen sanften Tourismus
- für die Ökologisierung der Landwirtschaft
- Streiten für einen ÖPNV auch auf dem Land
- Einrichtung genosschaftlicher Läden, Wohnprojekte, Arbeits- und Bildungsprojekte……

Vor diesem Hintergrund darf man auch die Jugendbewegung Fridays for Future als eine Bewegung der Natur- und Lebensraumbewahrung, also auch der Heimatverbundenheit interpretieren. Wenngleich hier eine völlig neue Qualität der Heimatbindung erreicht ist, insofern der gesamte Planet als Heimat begriffen wird.  Wie es jüngst der deutsche Raumfahrer Alexander Gerst, mit seinem Blick von der Internationalen Raumstation SS auf unseren „kleinen, wunderschönen und doch so verletzlichen Heimatplaneten im unendlichen Universum“ auf berührende Weise getan hat.

Nicht umsonst taucht in jüngster Zeit in einigen politischen Lagern die Klage über ein vermeintlich multikulti-versifftes oder globalistisches Heimatverständnis auf. Für mich ist das ein gutes Zeichen. Weil der Heimatbegriff offenkundig zusehends der Deutungshoheit der Hermetiker entgleitet und als nationalistische Kampfvokabel unbrauchbar wird. 

Archiv-chronologisch: