Heimat - Das ewige Sehnen nach Geborgenheit

Neujahrsessay 2019: Nichts hat unsere Lebensweise so verändert wie der "Fortschritt"

ape. Zu Fastnacht, Kirmes, Weinfest kommen sie zurück. Für einen Besuch in der alten Heimat, sagen wir: an Rhein, Mosel und auf den Höhen drumherum. Junge und Ältere, einst in hiesigen Städten, Städtchen, Dörfern geboren und aufgewachsen. Nachher durch Ausbildung, Studium, Beruf oder Liebe in alle Winde zerstreut, haben sie anderwärts eine neue Heimat gefunden. Dort leben die Weggezogenen nun ihr Leben, mit anderen Freunden, mit ihrer eigenen Kleinfamilie, oft in Umfeldern, Landschaften, Regionalkulturen, die sich von denen ihres Herkunftsortes erheblich unterscheiden.

Städter landen in der Provinz, häufiger Dörfler in Städten. Pfälzer verschlägt es nach Norddeutschland, Rheinländer nach Bayern, Deutsche ins Ausland, und alles auch umgekehrt. Dies ist der Zahn der Zeit in unserer Mobilitätsepoche – und er bliebe es, selbst wenn es keine Flüchtlinge gäbe. Der Anteil derer, die ihr Leben im oder nahe am deutschen Geburtsort verbringen und sich dort zu Grabe tragen lassen, wird zusehends kleiner. Der Nachwuchs geht seine eigenen Wege, will sie gehen oder muss sie gehen. Wege, die vermehrt von der ersten Heimat wegführen.

Ganz los werden die Fortgegangenen ihre Ursprünge freilich nie. Mögen auch viele der Jugendfreunde inzwischen ebenfalls anderswo leben, mag das Elternhaus längst einem zugezogenen Unbekannten gehören: Die Erinnerung an Kindheit und Jugend dort bleibt, wie auch der Dialekt der frühen Jahre meistens bleibt. In der zweiten Heimat ist er zwar verschüttet unter Hochdeutsch respektive angenommenen dortigen Zungenschlägen. Aber das Gehirn hat die Kindheitsmundart bewahrt und reaktiviert sie rasch, so man auf Menschen trifft, die sie sprechen.  

Die Erinnerung an ihre erste Heimat ist für die Generation der Weggezogenen mit starken Gefühlen belegt. Schon bei den anderwärts aufwachsenden Kindern schwächen sie sich deutlich ab. Für die Enkel sind die Erzählungen der Großeltern über ihre einstige Erstheimat meist nur noch hübsche Familienfolklore. Zumal den Nachgeborenen bald klar wird, dass die Erinnerungen der Alten recht unzuverlässig sind. Selbst die Wissenschaft hat ermittelt, dass gar zu wohlige Rückbesinnung auf die Kindheits- und Jugendzeit oft mehr mit Verklärung als mit einstiger Realität zu tun hat. Behalten werden die schönen Momente, die unangenehmen verdrängt. So verwandelt sich Heimat in der Vorstellung zum Ideal, zum Paradies, zugleich einer Art utopischem Sehnsuchtsort oder -zustand. Nostalgie nennt sich dieser idealisierende Mechanismus – der etwa im 19. Jahrhundert eine allgemeine Schwärmerei für die vermeintlich „goldene Zeit“ des ritterlichen Mittelalters sowie eine Hinwendung zur poetisch überhöhten Natur hervorbrachte.

„Da draußen, stets betrogen / Saust die geschäft'ge Welt / Schlag noch einmal die Bogen / Um mich, du grünes Zelt!“ Mit diesen Versen umreißt Joseph von Eichendorff 1810 jenen Gegensatz, der die Bindekraft des Begriffs Heimat wesentlich prägen sollte: Auf der einen Seite die schnöde, hektische, ja betrügerisch undurchsichtige Welt der modernen Zivilisation; auf der anderen Seite das Sehnen nach Rückkehr ins Aufgehobensein, in die Vertrautheit und Geborgenheit der natürlichen Gefilde altbekannter „O Thäler weit, o Höhen, / O schöner, grüner Wald“. Je eiliger, komplexer, befremdender der Gang der technischen Zivilisation, umso dringender das Bedürfnis nach einem übersichtlichen Raum der persönlichen Geborgenheit.

Eichendorff beschreibt das Gefühl, das wir heute vielfach mit Heimat verbinden, ohne den Begriff selbst zu benutzen. Denn es gab das Wort in seinem später ideellen Sinne zu des Dichters Zeit noch gar nicht. Benutzt wurde es seit dem Hochmittelalter bloß als juristische Bezeichnung für die heimatrechtlichen Ansprüche der Grund und Boden besitzenden Bevölkerungsschichten. Nur sie durften heiraten und ein Gewerbe ausüben. Für besitzlose Mägde, Knechte, Tagelöhner, Bettler musste „Heimat“ einen bitteren Beigeschmack haben: Sie waren von den Heimatrechten ausgeschlossen.

Weshalb von den Industrieproletariern bald nach ihrem Auftauchen als „heimatlose Gesellen“ gesprochen wurde. Von da zum Schimpfwort „vaterlandslose Gesellen“ für aufmüpfige Arbeiter und Sozialisten war der Weg nicht weit. Er wurde gespurt vor allem von der kaiserlich-patriotischen Aufladung des Heimatbegriffs im Zuge der deutschen Reichsbildung um 1871. Heimat war nun gleich Vaterland gleich Nation. Und der frisch aus der Taufe gehobene nationale Obrigkeitsstaat tat alles, um diese Begriffe zu besetzen mit einer quasi naturrechtlichen, vorgeblich bis auf die Vorväter uralter Zeit zurückgehenden Deutschtums-Ideologie. Die sollte sämtliche Klassenunterschiede wie auch regionale Eigenheiten im landsmannschaftlichen Misch-Reich übertünchen. Heimatliebe sollte von nun an bedeuten: „Für Kaiser und Reich!“ – alle gemeinsam gegen die Fremden, vorneweg die französischen „Erbfeinde“. Später wurde daraus „Für Führer und Vaterland!“.

Beides war eine andere Art Heimatliebe und Nationalbewegung als jene, die sich 1832 beim Hambacher Fest und 1848/49 mit revolutionärem Aufbegehren Ausdruck verschafft hatte. Für eine einige, freie, demokratische deutsche Nation in einem Europa freier Völker hatten die Redner auf dem Hambacher Schloss gesprochen. Für nationale Eigenständigkeit in demokratischen Ordnungen fochten 35 Jahre später Aufständische von Polen bis Portugal. Für Kaiser, Könige, Fürsten, Bischöfe nebst deren nationalkonservativen Parteigängern indes galt ab den 1870ern als  Heimatverächter und „Vaterlandsverräter“, wer die Herrschaftsverhältnisse ändern wollte und/oder um Verständigung zwischen Völkern und Kulturen warb.

Seitdem war der Heimatbegriff vergiftet vom Nationalismus. Der ließ ab 1914 Millionen jubelnde Soldaten ins Massengrab ziehen. Der bot nachher den Nationalsozialisten den Humus, ihre „Volksgemeinschaft der aus Blut und Boden erstandenen Herrenrasse“ die Verbrechen des Holocaust begehen zu lassen und sie gegen den Rest der Welt in den Untergang zu führen. Kein Wunder, dass in der Bundesrepublik lange der Begriff „Heimat“ von vielen – nicht zuletzt den Nachkriegsgeborenen – misstrauisch beäugt oder abgelehnt wurde. Verwunderlich ist eher, dass es  Kreise und Gruppierungen zuhauf gab und wieder gibt, die nach zwei Weltkriegen, Diktatur, Holocaust noch immer kein Problem mit einem nationalistischen Heimat-Verständnis hatten und haben.

Das Ringen um die Deutungshoheit über den Begriff Heimat dauert schon rund 150 Jahre. Denn es wäre ein Irrtum, anzunehmen, dass den „Heimatverächtern und Vaterlandsverrätern“ Heimatgefühle fremd seien. Das Gegenteil ist der Fall. Allerdings hat ihr Heimatverständnis wenig zu tun mit Kaiser, Führer, Volksgemeinschaft, deutschtümelndem Nationalethos. „Heimwärts, heimwärts jeder sehnet zu den Eltern, Frau und Kind“ heißt es im Moorsoldatenlied, gesungen von überwiegend linkspolitischen Gefangenen im KZ Börgermoor. „Die Heimat ist weit“ beginnt wehmütig der Refrain von Paul Dessaus Lied über die deutsche Thälmann-Kolonne bei den internationalen Brigaden im spanischen Bürgerkrieg gegen Franco. Und 100 Jahre zuvor hatte Heinrich Heine mit dem Exil-Gedicht „Nachtgedanken“ wunderbare Verse geschrieben über sein Heimweh – nach der betagten Mutter in Deutschland.

„Denk ich an Deutschland in der Nacht / So bin ich um den Schlaf gebracht“. Den Doppelsinn der Anfangszeilen hat der Nationalkonservativmus dem Dichter so wenig verziehen wie etwa die  Formulierung „Nach Deutschland lechzt ich nicht so sehr, / Wenn nicht die Mutter dorten wär“. Heine wurde zu Lebzeiten als Netzbeschmutzer und Franzosenfreund geächtet und ins Pariser Exil getrieben. Noch bis in die späten 1960er-Jahre wehrten sich deutsch-reaktionäre Kräfte vehement gegen eine angemessene öffentliche Wertschätzung des großen Dichters aus Düsseldorf. Denn es gibt kaum etwas, das Nationalisten mehr in Rage bringt, als das Bemühen um Entgiftung des Heimat-Begriffs – mittels dessen Loslösung von rassisch-politischer Deutschtums- und Nationalideologie sowie seiner positiven Ausdeutung als privat-menschlicher Gefühlsraum von Vertrautheit, Geborgenheit, Beheimatung in einem Familien- und Freundeskreis, einem Ort oder einer Landschaft.

„Wo meine Lieben sind, da bin ich daheim“; mein Dorf, meine Stadt, mein Westerwald, Hunsrück oder Mittelrheintal „ist für mich der schönste Ort auf Erden und meine Heimat“: „wo ich mich wohlfühle, auskenne, aufgenommen bin, das ist Heimat für mich“: Derartige Aussagen sind Nationalisten ein Graus und werden von ihnen als „beliebig“ angefeindet. Denn solche Haltungen schließen das Nationale und Völkische entweder ganz aus oder weisen ihm für das individuelle Lebensgefühl weit nachgeordnete Bedeutung zu. Aber genau diese, vorwiegend auf das kleinräumige persönliche Lebensumfeld bezogene, Antworten erhalten Demoskopen hierzulande seit Jahren jeweils von riesigen Mehrheiten auf die Frage: Was ist/bedeutet für sie Heimat? Die „Nation“ landet dabei regelmäßig unter ferner liefen.

Jüngst ist viel von Gefährdung der Heimat, von Entheimatung, gar von Umvolkung die Rede. Es wird so getan, als sei Heimat ein unveränderliches Lebens- und Kulturgefüge – dem Gefahr nur durch den Zuzug von Fremden drohe. Diese subjektive Vorstellung ist ziemlich alt, hatte aber mit der Wirklichkeit seit jeher wenig zu tun. Die umfassendsten Veränderungen der hiesigen Lebensweise gehen vielmehr in den vergangenen 100 Jahren von der Automobilisierung der Gesellschaft aus, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Fernsehen, aktuell von der hemmungslosen Ökonomisierung aller Gesellschaftsbereiche und ihrer Digitalisierung.

Keine der Einwanderungsbewegungen seit Kriegsende vermochte das Leben hierzulande objektiv derart grundlegend zu verwandeln wie diese Faktoren des „Fortschritts“. Nicht die Millionen Ostflüchtlinge und Vertriebenen; nicht die „Gastarbeiter“ aus Italien, Jugoslawien, Griechenland etc., schließlich der Türkei. Mittelfristig ist auch die Veränderungswirkung durch einige hunderttausend Migranten, Flüchtlinge, Asylbewerber der jüngsten Jahre nur eine Kleinigkeit im Vergleich zu den gewaltigen Umwälzungen, die etwa mit der Digitalisierung noch einhergehen werden.

Dass unsere Städte und Landschaften umgestaltet wurden zugunsten des Automobils, dass sie heute im Verkehr ersticken, hat mit Zuwanderung nichts zu tun. Ebensowenig, dass die Dörfer veröden – von einstigen Lebensräumen mit Geschäften für Nahrungsmittel und Hausbedarf, Kleinstbetrieben, Bank- und Postfilialen, Wirtshäusern, Schule, Arzt zu bloßen Wohnsiedlungen mit gar keiner sozialen Infrastruktur mehr. In manchem Kleinststädtchen oder größeren Dorf ist man froh, beim Türken einkaufen zu können oder beim Italiener einen Platz für Stammtisch, Skatrunde, Kappensitzung gefunden zu haben. Der Beerdigungskaffee wird beim Griechen, Spanier, Chinesen genommen, wo auch Familienfeiern unterkommen. Man mache sich nichts vor: Auf dem Land erhalten über weite Strecken gerade zugewanderte Mitbürger letzte Bastionen der Infrastruktur; in den Städten sichern sie in Gastronomie, Handel und Kultur jene Vielfalt, die urbanes Leben erst ausmacht.

Heimat – sie verändert sich seit ewigen Zeiten immerfort. Stillstand war nie und das Paradies war auch nie, denn jede Veränderung wird seit jeher von Problemen begleitet. Doch während etwa der ländliche Raum durch Vernachlässigung und Ausblutung der dortigen Infrastruktur tatsächliche Entheimatung erfährt, sind andere Momente für die Heimat längst unverzichtbar geworden und bereichern sie: der kurdische Briefträger, die Kebabbude; das griechische Lokal im einen, das thailändische im anderen Nachbardorf; die Mitstreiter süd- und osteuropäischer sowie lateinamerikanischer Herkunft im Gesangs- und im Sportverein, die es beide ohne sie gar nicht mehr gäbe; die deutsch-afghanisch besetzte Autowerkstatt, der Priester aus Kamerun, die Altenpflegerinnen aus Polen; das in Syrien geborene Lehrmädchen im acht Kilometer entfernten Supermarkt, der aus dem Iran stammende Arzt im Krankenhaus der Kreisstadt… Viele von ihnen finden hier eine zweite Heimat – und sehnen sich wie wir alle danach, dass diese gemeinsame Heimat ein Raum der Geborgenheit sein möge.         

Andreas Pecht 

 
 
Archiv-chronologisch: