Was auch mal gesagt werden muss
Festrede zum 30. Geburtstag der Marienberger Seminare
(Unkorrigiertes Redemanuskript. Mündlicher Vortrag teils abweichend)
Hochverehrte Festgesellschaft, liebe Freunde der Marienberger Seminare, werte Betroffene
die Gründerin dieser Bildungslehranstalt, ihre gute Seele, Antreiberin und spirita recta – wie es in gedendertem Latein vielleicht heißen täte – hat sich bei mir eine weitere Festrede gewünscht. Und zwar eine, die dem honorigen Akte seinen staatstragenden Ernst nehmen soll; eine, die Humor versprühe und Schmunzeln machende Kurzweil unter den Gästen verbreite; eine, die manches und manchen aus Theorie, Praxis und Umfeld der Marienberger Seminare durchaus auch auf die Schippe nehme.
Als ich zauderte ob dieses Ansinnens, lockte Madame Barbara Abigt mich mit folgendem Satz:
„Sie dürfen sagen und machen, was sie wollen.”
Darauf die dringliche Gegenfrage meinerseits:
„Sind Sie sich dessen sicher???”
Und wiederum die bestimmte Antwort ihrerseits:
„Ja, gewiss doch: Sie dürfen sagen und machen, was sie wollen.”
HAH!!! DEAL!!! Eine solche Chance, ungehemmt vom Leder zu ziehen, lasse ich mir doch nicht entgehen. Und von einem zeitlichen Limit für die Rede war auch nie die Rede. Deshalb habt Ihr nun den Salat: Müsst Euch von Lust und Launen eines berufsmäßigen Kritikasters und vom Dadaismus verseuchten Lästermauls beuteln, schütteln, würgen lassen – für einen unabsehbar langen Zeitraum.
Es ist ja allen Jubel-, Ehren-, Gedenkfeiern seit Urzeiten eigen, dass sie einen geheimen Kern haben. Von dem weiß allerdings jeder, doch spricht keiner darüber. Dieser Kern besteht aus: Langeweile. Von der werden stets alle Anwesenden gepackt, auch wenn man es ihnen nur selten ansieht. Man macht gute Miene zum drögen Spiel der Lobgesänge, Verdienstlitaneien, anerkennenden Übertreibungen und schönfärberischen Leistungsbeschreibungen.
Wo und bei welchem Anlass, meine Damen und Herrn, wird diese Praxis auf die Spitze getrieben? Nein, nicht bei Preis- oder Ordensverleihungen, nichtmal bei der Selbstbeweihräucherung politischer Parteien.
Vielmehr im Rahmen von: Beerdigungen.
Nie und nirgends wird mehr gelogen als auf dem Friedhof und in Nachrufen. Da erkennt man in salbungsvollen Reden den Verstorbenen kaum wieder, da wird der Grantler zum liebreizenden Menschenfreund oder der vormalige Hallodri zum „angenehmen Gesellschafter”. Über Tote redet man nicht schlecht, sagt der Volksmund. Was im Umkehrschluss allerdings heißt: Wer stets nur Lob erfährt, der ist schon tot.
Lassen Sie mich unter diesen Prämissen einige der bedeutsamsten Komponenten des außerordentlichen und seit 30 Jahren sich entwicklenden Phänomens „Marienberger Seminare” beleuchten. Näher betrachtet seien zuvorderst jene beiden zentralen Säulen, ohne die es das Phänomen gar nicht gäbe: Hier das Publikum – da der Lehrkörper.
Das Publikum, profan bezeichnet als „die Seminarteilnehmer”:
In den publizistischen Annalen über die Marienberger Seminare wird es immer wieder lobend beschrieben als „hellwach, aus eigenem Antrieb interessiert, aufmerksam, lernbegierig wie auch diskussionsfreudig”. Und treu! Denn ein Großteil der Seminarbesucher kommt seit vielen Jahren immer wieder; manch einer gehört seit drei Jahrzehnten zum inneren Kern – und ist darüber vom besten Mannes- oder Frauenalter ins allerbeste > Greisenalter hinübergewachsen.
Ja, ja, wir sind zusammen – VIELLEICHT – ETWAS klüger geworden, aber ganz gewiss gemeinsam beträchtlich älter.
Was die Zuführung von frischem, jungem Blut und Hirn zu den Seminaren angeht: Das hat es immer gegeben, je nach Thema im Einzelfall bisweilen sogar in signifikantem Umfang. Ich erinnere meinen Seminartag über „Hexen und Amazonen”. Da saßen plötzlich eine ganze Reihe Damen im präklimakterischen bzw. erst jüngst heiratsfähig gewordenen Alter vor mir. So recht geheuer war mir das nicht, zumal mancher Blick aus dem überwiegend weiblichen Publikum doch sehr eng mit dem Thema korrespondierte.
In der Regel allerdings und über die Jahrzehnte betrachtet, müssen wir leider feststellen, dass der Verjüngungsprozess langsamer vonstatten geht als der Alterungsprozess. Was sich indes schlagartig ändern könnte, sobald die aktuellsten Neuentwicklungen in den Laboren der Biogenetik auch in Bad Marienberg ankommen. Denn vermeldet wurde jetzt mehrfach, der legendäre Jungbrunnen sei gefunden, er läge in unserem Körper selbst, müsste nur durch Zuführung von Blut junger Menschen aktiviert werden. In Rede stehen nun Lebenserwartungen von 150 bis 200 und mehr Jahren, bei wiedergewonnener Frische an Leib und Geist. Mag also sein, dass wir alle uns anno 2067 frohgemut und tanzwütig hier wieder treffen, um dann den 80. Geburtstag der Marienberger Seminare zu feiern.
Sagen Sie nicht, der Pecht redet Unfug! Die Jungbrunnen-Geschichte war in diesem Frühjahr auf den Wissenschaftsseiten aller renommierten Blätter bis hin zu Spiegel, Zeit und Nature zu lesen.
Doch bleiben wir beim Publikum, wie es bisher war und noch ist. Worüber ich natürlich nur aus der, zugegeben subjektiv einseitigen, Sicht des Referenten sprechen kann. Ich will niemandem ein X für ein U vormachen, weshalb einmal dies geschildert werden muss:
Da hockst du im Seminarraum am Zinnhainer Weg und schüttest über 12 bis 25 Leute eimerweise die erlesensten Weisheiten der Geistesgeschichte und deiner selbst aus. Dein Vortrag ist lebhaft, engagiert, du selbst bist begeistert, ja stehtst in Flammen vom Feuer der Erkenntnis. Und was geschieht im wohnlichen Seminarsälchen? – Nichts.
Viele Augen schauen dich mal mehr, zu späterer Stunde auch weniger wach an, etliche Hände machen eifrig Notizen. Aber vom Feuer des Vortrages scheint kein zündender Funke überzuspringen aufs Auditorium. Fast alle hören zu, aber es ergreift sichtlich niemanden das Fieber der Erhellung, das in dir selbst glüht.
Also legst du nach: Sprechweise und Mimik werden eindringlicher, die Gesten ausgreifender, du flüsterst geheimnisvoll, deklamierst lauthals, singst, haust auf den Tisch, schraubst deine Thesen in waghalsig provokante Höhen. Mit jeder Faser deines Seins als Referent rufst du: „Sehet und staunet, dies sind die Wunder der Welt!”
Doch das größte Erstaunen je rief bei meinem letzten Mittwochabend-Vortrag die Aussage hervor: „Das Benutzen der Klimaanlage im Auto erhöht den Spritverbrauch um 1 Liter.” Oh, ach, weija, raunte es betroffen durch den Raum.
Die Kollegen Universitätsprofessoren mag das vielleicht nicht weiter anfeinden, sie kennen solche Umstände als studentisches Alltagsverhalten: Der Hörsaal voll mit 300 jungen Leuten, von denen man weder weiß noch spürt, ob sie dem routinierten, den akademischen Prinzipien der Gelassenheit und Neutralität verpflichteten Vortrag geistig folgen oder nur körperlich anwesend sind.
Mir jedoch, der im Hauptberuf als Theaterkritiker durch die Lande zieht, geht es dabei ganz anders: Wie der Schauspieler im Theater, der sich mit seinem Stoff und seiner Rolle in hohem Maße identifiziert, leide ich Höllenqualen, wenn das Publikum nicht spürbar ergriffen ist. Der Frust wächst und wächst, wenn Seminarteilnehmer Stund um Stund scheinbar ungerührt meinem enthusiastischen Theater folgen.
Noch größer ist freilich meine Überraschung, wenn nach dem Schlusswort „Der Vorhang zu und alle Fragen offen” oder „Dies war's von meiner Seite” plötzlich herzlichster Applaus aufbrandet. Schier fassungslos nehme ich hernach Bekundungen entgegen wie: „Danke für ihre spannenden Ausführungen”, oder „Das war ein tief bewegendes Seminar” oder „Wunderbar, wie Sie uns in diese unbekannte Welt mitgenommen haben.”
Ach, das Publikum! Es war, ist und bleibt wohl auf immerdar, das größte aller Geheimnisse. Manchmal strömt es zuhauf herbei, um sich mit Stoffen zu befassen, von denen man nie geglaubt hätte, dass sie heute noch irgendjemanden hinter dem Ofen hervorlocken. Dann wieder findet sich nur eine handvoll Interessenten für die spektakulärsten Themen. So widerfuhr es vergangenes Jahr mir erstmals – und geschah auch erstmals in der Geschichte der Marienberger Seminare –, dass ein Vortrag wegen Null, NULL!!!, Anmeldungen abgeblasen werden musste.
Da stand ich nun, ich armer Tor. Hatte das in Rheinland-Pfalz wichtigste und in fast allen Feuilletons des deutschsprachigen Raumes behandelte Thema der großen Trierer Nero-Ausstellungen für Bad Marienberg angeboten – und tagelang im Schweiße des Angesichts vorbereitet. Dann das bis heute unbegreifliche Fiasko: Niemand, gar niemand, mochte sich hierorts mit der neuen, ganz anderen Sicht auf den römischen Kaiser Nero befassen.
Was lernt uns das? Nichts – außer dass das Publikum ein sonderbares Wesen ist, und das Publikum der Marienberger Seminare noch sonderbarer. Denn Letzteres gehorcht partout nicht den Gesetzmäßigkeiten der öffentlichen Aufmerksamkeit, die sich gewöhnlich orientiert an der Maxime „Menschen, Monster, Sensationen”.
So, genug der Publikumsbeschimpfung.
Kommen wir zur zweiten Hauptsäule der Marienberger Seminare: dem ehrenwerten Lehrkörper – mit dem nun gewiss umgekehrt das Publikum mancherlei durchmachen muss. Wobei: Es sind ja stets nur die besten Referenten geblieben. Denn wer wiederholt zu abgehoben, gedrechselt, unverständlich, langweilig sprach, den oder die holte der Teufel > Barbara Abigt – nahm die Betreffenden stillschweigen aus dem Referentenpool.
So unnachiebig zugreifend, so beredt lockend und bezirzend, so liebreizend beschwatzend und überzeugend die Spirita recta des Hauses bei der Anwerbung eines Referenten sein kann, den sie unbedingt haben will – so kurzangebunden kann sie jemanden auch wieder in die Wüste schicken.
Nun, über diejenigen Gelehrten, die dauerhaft bei den Marienberger Seminaren aktiv geblieben sind, kann ich gar nicht viel sagen. Denn einige habe ich leibhaftig noch nie bewusst getroffen, bei fast keinem je seine Lehrkunst miterlebt. Dieser Lehrkörper ist ein recht eigentümlicher. In 30 Jahren gab es meines Wissens noch keine einzige Lehrerkonferenz. Und so wie ich, dürften die meisten Referenten kaum je oder noch nie an einem Seminar eines ihrer Kollegen teilgenommen haben.
Was gewiss nicht an mangelndem gegenseitigem Interesse liegt, sondern eher von dem Umstand herrührt, dass viele der Referenten nicht hier am westerwäldischen Ende der Welt leben oder ihr Brot verdienen. Die Wege sind weit und umständlich von anderwärts nach Bad Marienberg – und ökonomisch sowieso das unergiebigste, was sich vorstellen lässt. Man müsste, um hier das Honorar zusammenzukriegen, das es in der Ferne für 1 Vortrag gibt, am Zinnhainer Weg 5 bis 10 Vorträge halten.
Dennoch kommen wir immer wieder gerne hierher. Auch dies ist wohl ein Geheimnis, das sich aus dem Geist der Moderne kaum ergründen lässt.
Also: Das Publikum kennt die verschiedenen Persönlichkeiten des Lehrkörpers weit besser als die Damen und Herren einander. Doch Barbara Abigt ist der einzige Mensch bei den Marienberger Seminaren, der ALLE Referenten kennt, mitsamt deren starken und schwachen Seiten in guten wie in schlechten Zeiten. Sie ist immer überall dabei, steckt in alles Hirnschmalz, Nase, Mundwerk – und das durchgängig seit der ersten kleinen Runde vor 30 Jahren.
Stellt Euch das vor, liebe Leut': Diese Frau hat über drei Jahrzehnte in ihrem Zweitwohnzimmer quasi Dutzende hochgelehrter Privatdozenten aus den unterschiedlichsten Fachbereichen genossen. Und was tut sie allemal wieder? Sagt von sich: „Ich bin nicht gebildet”. Eine frechere und zugleich reizendere Art des Understatements ist mir noch nie begegnet.
Zurück zu den Referenten, die Chefin mag es ohnehin nicht, wenn man sich gar zu arg auf sie kapriziert. Wie gesagt, die Referenten begegnen sich zwar leibhaftig fast nie, sie stoßen indes immer wieder mal auf Wirkspuren voneinander. Da tauchen in einem deiner Seminare seitens der Teilnehmer plötzlich Fragen und Einwürfe auf, von denen du bald den Eindruck gewinnst, sie stammten alle aus einer bestimmten Denkrichtung.
Jedesmal, wenn mir dieses Phänomen in Marienberg begegnet, schaue ich hinterher ins Jahresprogramm der Seminare. Und siehe, dort findet sich des Rätsels Lösung: Just kurz zuvor hatte Decher über Rousseau gelehrt oder Lüthe über Schopenhauer gesprochen, hatte Capristan über Heidegger referiert oder Schneider das psychologische Phänomen der kognitiven Verzerrung untersucht usw usf
Und jedesmal muss ich mich dann nachher mit den beim Publikum hängengebliebenen Resten der Philosophie oder Psychologie herumschlagen. Ganz schlimm wird’s, wenn im Vorfeld mein alter Freund und journalistischer Berufskollege Joachim Türk sein Unwesen getrieben hat. Dann können die Wirkspuren auch mal handfeste Formen annehmen.
Komme ich vergangenen Herbst zu meinem Mittwochabend über die Völkerwanderung, stehen im Seminarraum, mir nichts, dir nichts, Glaskanister auf den Tischen. So Dinger mit Auslasshähnchen unten dran, wie sie dazumal die Apotheker zur Aufbewahrung von destilliertem Wasser oder Essigsäure benutzt hatten.
Befüllt sind sie im Marienberger Fall mit Wasser. Ordinärem westerwälder Leitungswasser. Zitronenscheiben und Pfefferminze-Blättchen sollen die als Getränk gedachte Flüssigkeit aromatisieren. Prima Idee, die einem gesundheitlich wahrscheinlich nicht schadet, die ökologisch sinnvoll ist und die auch das Budget der Seminare um ein paar Euro entlastet.
NUR – ich mag partout kein Leitungswasser. Es schmeckt mir nicht und es macht mir den Hals trocken. Wer aber war auf diese famose Idee gekommen? Der Blick ins Jahresprogramm 2016 fiel sogleich auf eine vorausgegangene Mittwochsveranstaltung unter dem simplen Titel „Wassermangel”. Referent war, wie sollte es anders sein, mein Freund Türk – der sich nicht damit bescheiden kann, zur geistigen Erhellung seiner Seminarteilnehmer beizutragen, sondern sie ZUR TAT aufstacheln muss. Würde ich nach demselben Prinzip verfahren, Marienberg wäre längst zur Keimzelle einer Weltrevolution geworden.
Sie sehen mal wieder: Unser Welt ist ein dichtes Netzwerk, in dem alles mit allem zusammenhängt. Und obwohl die Referenten der Marienberger Seminare kaum Kontakt zueinander haben, wirkt sich das Tun eines jeden auf jeden anderen aus – mal so, mal so.
Doch einmal im Jahr gibt es hier geradezu eine Klumpung von Referenten. Da kommen gleich vier ÄLTERE Herrn des Lehrkörpers zusammen, um JUNGE Literatur vorzustellen. Oder sagen wir besser: Aktuelle Bücher zu besprechen. Denn einer der vier tanzt stets aus der Reihe und präsentiert tausendseitige Wuchtbrummen, die auf jeder Bestverkaufsliste ganz vorne stehen, aber auf keiner Bestenliste je zu finden waren.
Die etwas hochstaplerisch „Literarisches Quartett” genannte Viererbande ist ein Traditionsformat der Marienberger Seminare. Unverändert, vertraut, humorig seit gefühlt 100 Jahren. Lüthe spricht auf Basis bloß einiger Notizen in ruhiger professoral-erfahrener Aufgeräumtheit. Zitterbarth rezitiert ein Manuskript, abgefasst in so winziger Handschrift, das unsereins sie nichtmal mit Lupe lesen könnte. Türk hingegen scrollt seine Ansprache über den Bildschirm der jeweils neuesten Generation derer von Labtop, Notebook, Tablet. Pecht schließlich stützt sich auf zwei, drei Seiten gedruckter Notizen, an die er sich im Zuge schäumender Abschweifung dann doch nie hält.
Mehrfach schon wurde erwogen das altehrwürdige Format dieses Literarischen Quartetts zu modernisieren oder es gar ganz abzuschaffen. Ja, ja, kann man machen. Muss man aber nicht, solange die Bude sich noch jedesmal halbwegs ordentlich füllt. Ich mag die Veranstaltung wie sie ist – und sollten irgendwann keine Zuhörer mehr kommen, dann ist es halt vorbei. Jedes Ding hat seine Zeit. Sowieso täte es mir gar nicht zusagen, Romane vorzustellen mit Filmeinspielern und Powerpoint, gar der modernen Kurzweil wegen beim Tanze mit Lüthe, Tortenschlacht mit Zitterbart oder Striptease-Challange mit Türk.
Manche Sache soll man einfach lassen wie sie ist, bis sie sich überlebt hat. Anderes kann man ganz neu einführen. Weil bei den Marienberger Seminaren die Uhren etwas anders ticken als im Rest der Welt, war es hier oft ausgerechnet die Seniorin, die auf Neuerungen drängte. Nein, nicht nur drängte, sondern sie forsch und gegen allerlei Bedenken auch in die Welt setzte.
Erinnern wir uns an die Erfindung der sogenannten Akademie der Marienberger Seminare – dieses am Ort oder über Fernlehrgang beim Bügeln, Essen, Baden, Schmusen vollziehbare Volksstudium über die wesentlichen Epochenmarksteine der Zivilisationsgeschichte. Barbara Abigt drückte es durch. Und die Marienberger Seminare brachten einen entsprechenden Lehrgang heraus – fünf Jahre bevor der Zeit-Verlag mit einem ähnlichen, nur professioneller und teurer gemachten Projekt auf den Markt kam.
Und noch eines drückte sie mit ihrer unvergleichlich einnehmenden und überzeugenden Art durch: Dass ich mich vor einigen auf das wahnwitzige Unternehmen einließ, den gesamten Akademie-Lehrgang aufzubereiten für eine vierzigseitige Zeitungsserie in zwei großen rheinland-pfälzischen Tageszeitungen.
Und jetzt, so ganz unter uns, sei mal aus dem Nähkästchen geplaudert. Kollegin Andrea Mertes und ich, damals beide schon selbständige freie Journalisten, stürzten uns mit Freude und Verve in dieses Projekt. Denn in Aussicht gestellt ward eine interessante, leichte und finanziell einträgliche Redigierarbeit. Wir hätten ja, so hieß es, nur die Begleitmanuskripte ein bisschen auf Zeitungsformat umzubauen.
Von den Kategorien interessant, leicht und einträglich blieb nachher nur das „interessant”. Denn: Die Begleitskripte erwiesen sich ebenso als völlig ungeeignet für die Zeitungspublikation wie die Vortragsmitschnitte. Die eine oder andere Referentenausführung hätte zudem manchen Krümelzähler in der großen Zeitungsleserschaft auf die Barrikaden getrieben. Kurzum, die praktische Devise für die beiden exekutierenden Journalisten hieß bald: Mache völlig neu und alles anders!
Nun gut, das Ergebnis konnte sich, kann sich noch immer sehen lassen. Und bei schlussendlich nur fünf sachlichen Fehlern auf 40 Zeitungsseiten darf man den Kopf schonmal höher tragen. Doch bis dahin war unser Arbeitsaufwand gegenüber den Anfangserwartungen ins schier Unermessliche angewachsen – und unser Stundenhonorar ins Bodenlose gefallen.
Weil der Projektzuschuss des Bildungsministeriums ein gedeckeltes Fixum war und die Zeitungshäuser, entgegen unsrer anfänglichen Annahme, sich in die Finanzierung sagen wir mal: dann doch nicht einmischen wollten, landeten wir am Ende bei einem Stundenlohn, über den man besser stille schweigt. >> 3 EURO 90!!!!
Wir haben die Arbeit dennoch gerne gemacht – für die Marienberger Seminare und im Dienste der Hebung allgemeiner Volksbildung. Allerdings nur einmal und nie wieder.
Lassen Sie mich zum Schluss noch ein paar Worte verlieren zur neuesten Neuerung in diesem Hause: den Rhetorik-Seminaren. Diesen Zug hat wiederum Frau Barbara höchstselbst auf die Gleise gesetzt. Sie macht nun auch gleichzeitig die Arbeit von Lokomotivführer, Heizer und Schaffner.
Rhetorik – von den alten Griechen als systematisch gepflegte hohe Kunst der guten und überzeugenden Rede eingeführt – soll nun vor allem jüngeren Menschen mit auf den Lebensweg gegeben werden. Barbara Abigt und ich hatten im Vorfeld der neuen Rhetorik-Seminare ein kleine Unterhaltung, bei der sie mir ihr Leid hinsichtlich zweier Fragen schilderte.
Erstens ein ganz praktisches Problem:
Sämtliche modernen Rhetorik- oder Rednerlehren würden gleich zu Anfang eine Grundregel aufstellen: „Du sollst Hände und Arme ruhig halten, und du sollst keine Grimassen schneiden.” Was ich davon hielte. Antwort meinerseits: Stellen sie sich vor, ich würde ein Seminar mit regungslosen Gliedmaßen und allweil freundlich neutralem Gesicht geben. Reaktion ihrerseits: „Unmöööglich!” Eben. Das halte ich davon.
Die zweite Frage war mehr grundsätzlicher Natur. Doch sie war von einer so schlichten und zugleich zwingenden Logik, dass es mir erstmal die Sprache verschlug. Sie lautete: „Wofür sollte jemand rhetorische Fertigkeiten benötigen, der noch nichts im Kopf hat und also eigentlich auch gar nichts zu sagen weiß?”
Nun, wir wissen alle, dass in der heutigen Realtität da draußen einer der mächtigsten und auch lukrativsten Gegenwartstrends das BEREDTE NICHTSSAGEN ist. Oder anders formuliert: das bemüht pathetische bis bloß noch geschwätzige Dampfplaudern.
Es wäre ein Wunder gewesen, hätte sich Barbara Abigt zu so etwas hinreißen lassen – das dem seit 30 Jahren bei den Marienberger Seminaren gepflegten Geist widerspräche. Weil hier seit jeher das Primat des substanziellen, geistvollen, interessanten Inhalts gilt, macht sie auch die neuen Rhetorik-Seminare zu inhaltlich allgemeinbildenden Veranstaltungen.
Man spricht hier nicht gepflegt, versiert oder kunstvoll über Nichts, sondern allemal nur über interessante Themen. So war es hier immer, so ist es hier noch, so wird es bleiben – bis irgendwann in fernerer oder näherer Zukunft der Letzte das Licht ausmacht.
Meine Damen und Herren, liebe Leut': Wir sehen schon wieder betroffen – den Vorhang zu und alle Fragen offen. Dies war's für erste von meiner Seite.
Andreas Pecht
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Der Vollständigkeit halber und für speziell Interessierte: Hier auch die Rede, die ich an gleichem Ort vor 10 Jahren zum 20. Geburtstag der Marienberger Seminare gehalten habe
2007-11-12 Ansprache:
Lästerliche Laudatio zum 20. Geburtstag der Marienberger Seminare