Grüner Höhenflug und rechte Sorgenkinder

Anmerkungen zur EU-Wahl

An Wahlergebnissen und Wählerforschung interessiert mich seit jeher in erster Linie, was sie eventuell über Entwicklungen der großen Meinungs- und Haltungsströme in der Bevölkerung verraten. Bei einem ersten Blick auf das gestern und am heutigen morgen Vorgestellte ergeben sich u.a. diese Anhaltspunkte:

Inland:
1. Die voluminöse Abkehr der Wähler von SPD und CDU hat der nationalreaktionären AfD gar nichts eingebracht. Mit 11 % hat sie gegenüber ihrem letzten Bundeswahlergebnis sogar verloren. Fantastereien von 15 bis 20 % deutschlandweit sind perdu, der scheinbar unaufhaltsame Höhenflug der Rechten hat womöglich seinen Zenit überschritten. Der Zeitgeist, vor allem der unter jungen Menschen, weht in eine andere Richtung.
2. Die Grünen sind in 9 von 10 der größten deutschen Städte im hohen 20er oder im 30er Prozentbereich stärkste Partei geworden. Wahlbezirke mit mehr als 40 % für Grün sind dort keine Seltenheit.
3. Ähnliches findet sich auch in sehr vielen mittleren und kleineren Großstädten Westdeutschlands, etwa in Mainz und Koblenz.
4. Nicht ganz so drastisch, aber tendenziell in gleicher Richtung fallen auch die Ergebnisse in der (westdeutschen) Fläche aus. ZB im lange, und noch immer CDU-dominierten Westerwaldkreis haben Union und mehr noch SPD reichlich Federn gelassen, die Grünen ihren Stimmanteil überall verdoppelt, teils fast verdreifacht.
5. Der größte Anteil der Erst- umd Jungwähler hat nicht CDU, SPD oder AfD gewählt.
6. In allen Altersgruppen unterhalb der 60-jährigen sind die Grünen stärkste Fraktion. Bei den noch jüngeren, den Wählern von morgen und übermorgen ist dies (nach Umfragen) noch weit kräftiger ausgeprägt.
7. In und für Deutschland geht vom hiesige Wahlergebnis das Signal aus: Es sind nicht länger Partei-Köpfe wahlentscheidend, sondern gesellschaftliche Meinungsströme hinsichtlich der Themen, die in der Breite (auch oder gerade jenseits von Parteimaximen) für besonders wichtig gehalten werden.

Ausland:
Ist uneinheitlich. Einerseits sind in etlichen Ländern nationalreaktionäre Parteien weit unter den Erwartungen/Befürchtungen geblieben oder regelrecht abgekackt. Wenn ich es richtig sehe, hat selbst Le Pen in Frankreich ihren Stimmanteil nur eben mit Mühe gehalten. Andererseits hat die Lega in Italien nochmal zugelegt; hat die österreichische FPÖ, trotz Strache-Skandal, nur 2 % verloren; bleiben Ungarn und Polen (wie im Inland übrigens auch Teile des deutschen Ostens) reaktionäre Sorgenkinder. In summa aber darf wohl auch für das Ausland attestiert werden: Der befürchtete EU-weite rechtspopulistische Durchmarsch hat nicht sattgefunden. Und früher oder später werden es auch die Problemländer mit der in Kultur, Lebensart, Bildung und Beruf unabwendbar international vernetzten Orientierung ihrer Jugenden zu tun bekommen.

Archiv-chronologisch: