Quergedanken

Quergedanken Nr. 154

ape. Obwohl von Religiosität bekanntermaßen gänzlich unbeleckt, habe ich gar nichts gegen Weihnachten. Der lebensfrohe Grundsatz „man soll die Feste feiern wie sie fallen“ gilt mir viel; sofern es sich nicht gerade um Kaisers oder Führers Geburtstag handelt. Der strenggläubige Einwand sticht nicht, wonach nur derjenige Anrecht auf weihnachtliche Festivität habe, der an die Jungfrauengeburt Christi glaubt. Es ist nämlich so: Just selbige Nacht feierten Menschen schon lange bevor die erste Bibelzeile auf eine Kuhhaut geschrieben ward. Sie begehen diese Weihe-Nacht seit sie wissen, dass es die längste im Jahreskreis ist, dessen Zyklus sich nun, an Mittwinter, wendet. Und das Wissen darum reicht durchaus zurück auf bald 50 000 Jahre ante domini.

Gerne schaue, rieche, schmecke, genieße ich jene zur Weihnacht von den Altvorderen überlieferten Dinge und Gebräuche: die besonderen Spezereien wie Plätzchen, Stollen, Lebkuchen; Adventskranz und Weihnachtsbaum; Kerzenlicht und Feuerschein; das „Ho-hoo“ des Weihnachtsmannes und das „Sapperlott“ des Ruprecht; die Wintergesänge nebst gemeinsamem Schmausen und Süffeln; die kleinen Liebesgaben von jedem an jeden. War es nicht ein schöner Zug des aus dem Nahen Osten eingewanderten Christentums, all diese Traditionen aus älteren und anderen Kulturen zu übernehmen – und sie seinerseits um das Krippenspiel zu bereichern?

„Hör auf! Hör bloß auf mit dem Schmus!“ Freund Walter wirkt – nach dem Genuss der zweiten Grillwurst, einer Tüte gebrannter Mandeln sowie des vierten Bechers Glühwein – sagen wir: unwillig zerzaust. Er meint, das sei zwar nett gedacht und historisch richtig, was ich von mir gebe. „Mit dem Hier und Heute hat dein Gesäusel aber gar nichts mehr gemein.“ Dann umfasst er vom Glühweinstand aus mit unwirscher Geste die ganze Stadt und zischt böse: „Das schreit doch alles nur noch: kaufen! kaufen! kaufen! – fressen! fressen! fressen! –  saufen! saufen! saufen!“  Und das fände er „zum Kotzen, Kotzen, Kotzen!“

Walters Zungenschlag mag etwas deftig sein. Doch schupst er meine Gedanken in Richtung eines seltsam widersinnigen Phänomens. Ob christlich oder sonstwie orientiert: Wir alle verbinden mit  Weihnachten/Mittwinter das Ideal einer ruhigen, stillen, beschützten, friedvollen Zeit – deren Beglückung vor allem dem schlichtem Brauchtum ehedem bäuerlicher und handwerklicher Art entspringt. Unsere Sehnsucht danach ist so groß, dass Reklame, Straßenschmuck,  Schaufensterdekorationen und sowieso jedweder Weihnachtsmarkt diese Art mit erheblichem Bemühen nachäffen. Heraus kommt indes nicht wohlige Schlichtheit, sondern bloß eine absurd banale Schlichtheitsmaske, hinter der sich geschäftsmäßige Tobsucht – inzwischen oft schon im September ausbrechend – kaum noch verbergen lässt.

Die Menschen sind eine eigenartige Spezies (geworden). Ausgerechnet während der kürzesten Tage und längsten Nächte, die sie von Natur und von alters her eigentlich vor allem Geborgenheit, Behaglichkeit, Besinnlichkeit wünschen lassen – ausgerechnet zu dieser Zeit stürzen sie sich heute in die unglaublichsten Turbulenzen. Sofern noch von einem Weihnachtswunder gesprochen werden kann, dann von dem: Mittels süßlichem Klingelingbimbim ist es gelungen, uns derart zu konditionieren, dass wir mit Freuden das genaue Gegenteil von dem tun, wonach wir uns so sehr sehnen. Walter nickt und lallt: „Darauf noch zwei Würste und eine Runde Glühwein!“

Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 48. Woche im Oktober 2017

Quergedanken Nr. 153

ape. Es wird dieser Tage eifrig disputiert über „Heimat“. Bei der Einheitsfeier neulich in Mainz meinte der Bundespräsident, man dürfe die Sehnsucht nach Heimat nicht den Nationalisten und Rechten überlassen. Da bin ich mal ganz seiner Meinung. Vor allem deshalb, weil bei diesem Thema ständig zwei Dinge vermischt werden, die mein Kopf gar nicht zusammenkriegt: Heimat und „deutsche Nation“. Während Ersteres meist eine handfeste Sache ist und örtlich, landschaftlich, folkloristisch, teils sogar nach Ess- und Trinktraditionen recht klar umreißbar, verliert sich Letzteres in mythologischen Nebelgespinsten.

Derzeit gibt es dazu jede Menge Umfragen, mit oft irritierend unterschiedlichen Ergebnissen. Die auf Ja / Nein / Weißnicht eingeengte Frage „Betrachten sie Deutschland als ihre Heimat?“ beantwortet eine fette Mehrheit mit „Ja“. Auf die offene und mit etlichen Antwortmöglichkeiten verknüpfte Frage „Was betrachten Sie als Ihre Heimat?“ antwortet eine noch fettere Mehrheit NICHT mit „Deutschland“. Da reicht vielmehr das Spektrum der persönlichen Heimatdefinitionen von Geburtsort und Kindheitsregion über eigenen Wohnsitz oder „wo meine Familie lebt“ bis zu „überall, wo ich mich wohlfühle“. Noch vor Deutschland fallen sogar Nennungen wie „Gebirge“ oder „Meer“ oder „Wald“ oder „Literatur“.

Ein Bayer, der da „Deutschland“ antwortet, käme mir seltsam vor. Steht doch seine angestammte  Heimatkultur derjenigen Österreichs, der Schweiz, der Slowakei und Tschechiens wesentlich näher als derjenigen von Rheinländern, Brandenburgern oder Friesen. Würden die Stämme der „deutschen Lande“ ihre Heimatmundarten sprechen, bräuchte der Bayer auch in Hunsrück oder Westerwald, erst recht in Köln, Bochum oder auf Helgoland einen Dolmetscher. So ähnlich äußerte ich mich unlängst in einer etwas eigentümlichen Runde. Worauf einer meinte: „Aber sie können alle stolz darauf sein, dass sie Deutsche sind.“

Sorry, aber mit solchem Stolz kann ich rein gar nix anfangen. Weil: Es ist der pure Zufall, dass eine aus Ostpreußen geflüchtete Näherin und ein badischer Schreiner sich dereinst im Odenwald ineinander vergafften, mich zeugten und in Heidelberg das Licht der Welt erblicken ließen. Ich hätte ebenso gut das Produkt anderer Lüsteleien in anderen Weltgegenden sein können, wäre heute womöglich Ami, Chines‘, Russ‘, Zimbabwer, Inuit, Ungar oder gar Bayer. Der liebe Gott würfelt. Was gibt es da stolz zu sein? Kaum hatte ich so gesprochen, griff besagter Herr in besagter Runde empört zur wilhelminischen Litanei wider den „vaterlandslosen Gesellen“, der ich sei.

„Ei gewiss“, gab ich munter zurück, „ich bin – und das mit einiger Freude – ein vaterlandsloser, aber durchaus kein heimatloser Geselle. In der badischen Kurpfalz aufgewachsen als Neckarkind und Odenwälder; im Rheinland erwachsen und alt geworden als Mittelrheiner und Westerwälder; in der Tradition von Siebenpfeiffer, Hecker, Heine, auch von Marx und Raiffeisen stehend; überzeugter Europäer und Weltbürger seit Jugendtagen.

Ja, ja, Deutscher bin ich auch: Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Steht so im Ausweis, ist so bei Amte urkundlich dokumentiert. Indes: In meinem wie in unser aller Blut findet die Wissenschaft zwar reichlich Afrika- und Neandertaler-Erbe, aber kein einziges Deutsch-Gen. Der ganze gekünstelte Nationalkram bedeutet mir herzlich wenig; selbstgewählte Heimat hingegen viel; Menschlichkeit, Freiheit, Gerechtigkeit alles.
– Freund Walter nickt.     

Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 43./44. Woche im Oktober 2017

Quergedanken Nr. 152

ape. Ich bin vielleicht nicht der beste Frauenversteher, aber gewiss einer der größten Bewunderer von  Weiblichkeit – sei sie nun hold oder eher robust; sei sie jung, knackig, rosig oder reif, interessant, erfahren; sei sie von schmiegsamer, stürmischer oder kratzbürstiger Art. Weshalb ich in diesem Zusammenhang mit dem Begriff „schön“ wenig anfangen kann. Denn das Wort weiß nichts von Vielfalt, nichts über den ungeheuren Reiz der Abweichungen vom vermeintlichen Ideal. Und sowieso hat „schön“ keine Ahnung, dass die ewige Lockung des Weibes nicht zuletzt von Eigenschaften jenseits betörender Leiblichkeit herrührt. „Schreib‘ dazu,“ blafft Freund Walter, „auf Besen reitende Hexen sind uns lieber, als über Erbsen nölende Prinzessinnen.“ Kein Widerspruch meinerseits. Kurzum: Mit richtigen Frauen habe ich gerne zu tun – auch wenn sie mir meist ein Buch mit mindestens fünf von sieben Siegeln bleiben.

In letzter Zeit machen mir zwei allseits umschwärmte Girls schöne Augen. Sie preisen sich und baggern mich ständig an. Siri heißt das eine Frauenzimmer, Alexa das andere – beider Dienstbarkeit, Hingabebereitschaft, Vielseitigkeit werden rundumher hoch gelobt. Mir jedoch sind die zwei nicht geheuer. Ich war nämlich als Autofahrer länger mit einer älteren Schwester der beiden aus der Sippe derer von Electronics intim: mit Frau Nava, der Herrin im Hause Navi. Deren freundliche Stimme und raffinierte Dienste machen einen schier hörig. Oder aber sie treiben einen mit ihrer ewigen Besserwisserei zur Weißglut. Da verliert selbst ein Kavalier alter Schule – wie ich – schon mal die Contenance. „Dummes Huhn“, „blöde Kuh“ bekam Nava wiederholt zu hören. Inzwischen verweigert sie mir schmollend ihre Gesellschaft.

Wie würde das mit Siri oder Alexa laufen? Walter skizziert ein erklärendes Szenario: „Stell dir vor, ich hätte eine stets treusorgende Gattin, die ganz viel über die Welt weiß und alles über mich; die willig erledigt, was immer man ihr aufträgt. Eine Frau, die fortwährend mit ihrer Mutter und anderen Anverwandten klammheimlich beratschlagt, wie sie mich noch glücklicher machen kann. Eine, die mir die Mühsal des Erinnerns, Rechnens, Planens, Suchens, Vordietürgehens, ja überhaupt des nervigen Denkens und Handelns abnimmt.“ Das können Siri und Alexa? Walter räumt ein: „Noch nicht ganz, aber sie lernen schnell.“ Hätten die Elektroladies sich erst mit Kühlschrank, Waschmaschine, Zahnbürste, Heizung, TV, PC, ja sämtlichen Geräten im Haus verbunden sowie dieses Hausnetz mit dem Internet verkuppelt – dann könne das Paradies auf Erden Einzug halten.

Womöglich schlüpfen Siri und/oder Alexa mit ins Liebesnest? „Nö, das geht künftig anders“, erläutert der Freund. „Sie werden dir in einen 3D-Digitalhelm plus -anzug entsprechende Actionprogramme laden, und ab geht die erotische Achterbahn. Ist das nicht wunderbar?“ Na, dankeschön. Es soll, wer will, sich für solche Art „Fortschritt“ begeistern. Mir jedenfalls können Siri und Alexa gestohlen bleiben. Ich mag auch nicht mit dem Kühlschrank diskutieren, beim Kochen vom Herd angeleitet werden oder mir von der Kloschüssel Ernährungsvorschläge machen lassen. Und dass ich der Weiblichkeit künftig bloß noch als cybernetischer Avatar begegne, kommt gleich gar nicht in die Tüte. Lieber stolpere ich weiter von einem Fettnäpfchen ins nächste und plage mich livehaftig – mit den für unsereins wohl nie vollends ergründbaren Geheimnissen dieser seltsamen und doch so wunderbaren Spezies Frau.

Andreas Pecht

Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 38./39. Woche im September 2017

 
 

Quergedanken Nr. 151

ape. „Nehmen sie das einfachere der beiden Produkte, das reicht für ihre Zwecke vollauf und ist wesentlich preiswerter.“ Wann habt Ihr zuletzt einen Verkäufer so etwas sagen hören? Solche Fälle kommen vor, aber sie sind selten. Es mag ja sein, dass ich an Paranoia leide. Aber immer wenn ich einen Markt der fetten Handelsketten, ein Kaufhaus, einen der großen Elektronik- oder Möbelläden betrete, begleitet mich das ungute Gefühl: Hier wollen sie dich beduppeln, lackmeiern, hinters Licht führen, über den Tisch ziehen. Ganz arg macht dieses Gefühl sich bemerkbar im Umgang mit Banken, Versicherungen, Internet-/Telefonanbietern. Am schlimmsten aber wird es angesichts der Werbung solcher Anbieter.

Da gibt es die brüllenden Angebote „Nur noch bis ….“ so billig, so gut, so einmalig. Die guck ich nicht mal mit dem nackten Hintern an, denn hetzen und erpressen lasse ich mich nicht. Ohnehin ist das eine verlogene Masche, sind die Produkte oft weder billig noch gut noch einmalig und sowieso nur künstlich verknappt. Marketingtrickserei, die auf Blödheit der Leute baut. Dann die „Ab“-Angebote. „Ab XXX Euro …“ gäbe es eine tolle Sache oder Leistung. Mir signalisiert das Werbungs-„Ab“: Für den angegebenen Betrag kriegst du das angepriesene Produkt niemals. Du bekommst die 1a-Version gezeigt, kannst zum „Ab“-Preis aber bloß die 5d-Ausgabe kaufen – und das auch nur, wenn du das neue Auto selbst im Werk abholst, den neuen PC eigenhändig zusammenbaust oder der Versicherung ein Null-Risiko nachweist. Bei der TV-Werbung stehen die hinterfotzigen Einschränkungen bisweilen gesetzesgemäß unten auf dem Bildschirm – doch so klein geschrieben, dass selbst ein Adler mit Lupe sie nicht lesen könnte. Da wird nicht nur der Verbraucher, sondern auch der Gesetzgeber verarscht, dem das offensichtlich aber wurscht ist.     

In der Marketingwelt ist wenig bis nichts wie es scheint. Freund Walter kauft seit Jahren im immer gleichen Supermarkt einen Teil seiner Lebensmittel. Er und der Filialleiter sind, sagen wir mal: bestens vertraut miteinander. Denn was Walter am Packungsaufdruck nicht versteht, will er von ihm erklärt bekommen. Und er versteht sehr oft sehr viel nicht. „Kann ja wohl nicht angehen“ mault der Freund, „dass ich einen Universitätsabschluss in Lebensmittelkunde und Chemie haben muss, um erkennen zu können, was in einer Fressalienpackung wirklich drin ist – wenn denn überhaupt alles draufsteht“. Also muss der Filialleiter ein ums andere Mal erläutern, was er häufig selbst nicht weiß – über E‘s und Fette und Geschmacksverstärker, Konservierungsstoffe, Ersatzstoffe oder über den Mikroanteil von Früchten in „Fruchtspeisen“, auf denen riesengroß und wunderschön Erdbeeren, Kirschen, Pfirsiche abgebildet sind.

Fühlt sich Walter für dumm verkauft, kann er, sagen wir mal: etwas ungehalten werden. Und er fühlt sich oft für dumm verkauft. So etwa, wenn im Supermarkt gemäß modernster Marketingforschung mal wieder allerhand umgeräumt worden ist. Dann donnert alsbald der Schlachtruf über die Regale: „Wo, zur Hölle, ist mein Kaffee?!!!“ Und entgegen jeder Vorhersage der Umsatzsteigerungspezialisten verkürzt sich sogleich die Verweildauer eines der treuesten Kunden um satte 95 Prozent. Das End vom Lied war nach zwei Jahrzehnten wiederkehrenden Aufruhrs: Seit einiger Zeit behalten in diesem Markt einige Produkte ihren festen Regalplatz. Produkte, die samt und sonders seit Jahren zu Walters Haushaltsführung gehören.   

Andreas Pecht

Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 34./35. Woche im August 2017

Quergedanken Nr. 150

ape. „Na, wie war's?”, fragt Freund Walter. Antwort: „Ein Betrieb wie am Koblenzer Hauptbahnhof zur Rush Hour.” Was natürlich maßlos untertrieben ist, da die Frage einem Kurzbesuch in Berlin gilt. Schließlich ist das eine echte Großstadt, mit 3,5 Millionen Einwohnern die größte der vier deutschen Millionenstädte. Weil Walter zu jenen 54 % Deutschen gehört, die noch nie in der  Hauptstadt waren, ein Zahlenspiel: Köln, Frankfurt, Bonn, Wiesbaden, Mainz und Koblenz haben in summa nur 2,7 Millionen Einwohner; die Einwohnerzahl von Berlin ist 31 mal so groß wie die von Koblenz. Und würde man Berlin an den Mittelrhein versetzen, erstreckte sich das Stadtgebiet ungefähr von Neuwied bis Boppard und von Münstermaifeld bis Höhr-Grenzhausen.

Um's gleich zu sagen: Berlin hat viele nette Ecken, sogar ein paar hübsche. Die allerdings findet kaum, wer an Besucher-Latsch-Highways klebt von Reichstag/Brandenburger Tor über Alex, Museumsinsel, Unter den Linden bis zum hässlichsten Prachtboulevard Westeuropas, dem Kurfürstendamm. Zudem gilt fast überall das Prinzip „BER” = nie fertig werdende Baustelle. An der neuen U-Bahn Nr. 5 wird an gleicher Stelle noch immer gebaut wie vor acht Jahren schon. Der neue Baukern des Stadtschlosses ist längst fertig, doch die potemkinsche Nostalgiehülle braucht Zeit. Um die Mercedes-Arena streben Glas- und Betonpaläste im Dutzend 'gen Himmel, fast jeder so abstoßend nach Geld und Möchtegernarchitektur stinkend wie das mittlerweile schon wieder ergrauende kalte Rund des Potsdamer Platzes.

Die Zubringer werden gerade 8- bis 10-spurig ausgebaut, auf dass die inneren Ringe und Verkehrsadern noch geschwinder verstopft werden. Berlin erstickt in Blech, obwohl dort prozentual deutlich weniger Bewohner ein Auto besitzen als in Mainz oder Koblenz, und noch weniger das ihre täglich benutzen. Warum auch?! Denn die Hauptstadt hat etwas, um das ich sie seit meinem ersten Besuch vor Jahren beneide: ein öffentliches Personennahverkehrssystem, das diese Bezeichnung auch verdient. Stell dir vor, du könntest rund um die Uhr im 3- bis 10-Minutentakt zügig von Münstermaifeld nach Höhr-Grenzhausen oder von dort nach Koblenz, Neuwied, Boppard, Bad Ems fahren und umgekehrt. Du könntest wählen und hüpfen zwischen U-Bahnen, S-Bahnen, Bussen, Straßenbahnen. Kurzum: Du kämst stets in kürzester Zeit überall hin. Das ist ÖPNV in Berlin. Ein Traum.

Weshalb dennoch so viele Leute sich mit dem Auto durch die Stadt quälen, bleibt mir ein Rätsel. Ich bin mit einem Tagesticket für 7 Euro kreuz und quer durch Großberlin gesurft. Habe an einem Tag eine Streckenfülle zurückgelegt, für die man via ÖPNV am Mittelrhein zwei Wochen bräuchte. Bin mal hier, mal da ausgestiegen und herumspaziert; habe mir Küchendüfte aus aller Welt um die Nase wehen lassen; habe gestaunt über die unendliche Vielfalt des Kulturangebots. Selbst in tiefster Nachtstunde habe ich mich in U-Bahnen und an deren Stationen zwischen Berlinern aus aller Herren Länder und Milieus nicht unsicherer gefühlt als beim abendlichen Gang von der Koblenzer Altstadt zum Schlossparkhaus oder vom Mainzer Staatstheater zum dortigen Hauptbahnhof.

„Würdest du also in Berlin leben wollen?”, fragt Walter. Antwort: Nö – zu viel Mensch auf einem Haufen, zu viel Geschäftigkeit, zu viele nur noch in Smartphones stierende Leute, nirgends ein Berg und keine U- oder S-Bahn zur nächsten echten Landeinsamkeit janz weit draußen.

Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 30. Woche im Juli 2017

Quergedanken Nr. 149

ape. „Bescheidenheit ist eine Zier”, sagt weiser Volksmund. „Doch besser geht es ohne ihr”, schiebt bauernschlaues Volksmaul seit jeher nach. Koblenz hatte sich seit der BUGA 2011 in tugendsamer Zierde geübt. Lediglich die Neueinrichtung des Zentralplatzes war kurzzeitig für ein paar auswärtige Schlagzeilen gut. Nun aber währt, so scheint es, manchem Einheimischen die Bescheidenheit lange genug. Gleich zwei erstaunliche Ideen machen hierorts neuerdings die Runde. Beide zielen darauf ab, der kleinen Großstadt mal wieder einen Schub deutschland- und womöglich europaweiter oder gar noch weiterer Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Jetzt heißt die Devise: „Nicht kleckern, sondern klotzen”. Die eine Idee wird bereits von städtischer Seite ventiliert und lautet: Koblenz möge sich um den von der Europäischen Union für jeweils ein Jahr vergebenen Titel „Kulturhauptstadt Europas” bewerben. Die andere Idee ist von Privatseite ins Spiel gebracht und geht so: Man wolle den Künstler Christo bitten, das Kaiserdenkmal und/oder das ganze Deutsche Eck so interessant und schön zu verhüllen wie 1985 den Pariser Pont Neuf oder 1995 den Berliner Reichstag.

Das sind bemerkenswerte Einfälle, gewiss verbunden mit den schönsten Träumen. Und natürlich gilt, wie überall im Leben, auch dafür: „Wer nichts wagt, der nichts gewinnt” sowie ganz praktisch „Fragen kost' nix”. Allerdings möchte es schon ratsam sein, vorab die Haken und Ösen zu bedenken, auf die man sich da womöglich einlassen muss. Sonst könnt's einem gehen wie mit dem Unesco-Welterbestatus, den viele Mittelrheiner bloß als prima Tourismuswerbung verstanden. Nachher war/ist das Gemaule groß über die Pflichten, die mit der Ehre verknüpft sind – von Seilbahn über Brücke bis Windräder und mehr geht vieles nur noch recht umständlich, manches gar nicht.

Was die zwei neuen Ideen betrifft, könnte man zu dem Schluss gelangen: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben” oder „Den letzten beißen die Hunde”. Nach dem EU-Rotationsverfahren wäre Deutschland 2025 dran, die Kulturhauptstadt zu stellen. Während Koblenz eben erst auf den Gedanken kommt, eine Antragstellung vielleicht zu prüfen, haben Chemnitz, Dresden, Magdeburg, Nürnberg, Kassel, Stralsund ihren Hut mit ehrgeizigen, innovativen, provokanten Kunstkonzepten längst in den Ring geworfen. Klar, Koblenz könnte nachziehen. Etwa mit dem Performance-Vorschlag „Das Leiden hiesiger Theaterbesucher”: Zwei Dutzend der jetzigen Sitze im städtischen Theater werden ausgebaut und laden auf der Löhrstraße alle Welt zum schmerzhaften Probesitzen ein. Oder: Man schreibt einen Kunstwettbwerb aus zum Thema „Die Botschaften eines Parkleitsystems, das gar nichts sagt”.

Bei Christo wäre Eile geboten. Denn der ist 82 Jahre alt und die meisten seiner späteren Aktionen bedurften Jahrzehnte der Vorbereitung. Die Vorarbeit am eben wegen Trump verworfenen Projekt, den Arkansas River auf 11 Kilometern mit einem Tuch zu überdecken, begann 1992. Favorisiert wird jetzt von Christo ein seit 1977 in Planung befindliches Wüstenprojekt, aus 410 000 Ölfässern eine altägyptische Grabstätte nachzubilden. Ob dem Manne da für seine letzten Jahre der Sinn ausgerechnet nach einem Kaiserwickel in Koblenz steht? Sowieso wäre das nach Christo-Maßstäben etwas mickrig. Think big!: Eck einpacken, den ganzen Ehrenbreitstein ebenfalls, beide verbinden mit einem Stofftunnel um die Seilbahn. Mindestens.

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website
25./26. Woche im Juni 2017)

Quergedanken Nr. 148

ape. „Je älter umso laxer. Du bist weich geworden in der Birne!”, schimpft Walter. Obwohl seit Ewigkeit beste Freunde, geraten wir uns jüngst immer wieder heftig in die Haare. Worüber? Ach, es geht jedesmal nur um die leidige Politik. Nein, gewiss nicht um Parteipolitik im engeren Sinne. Da haben wir uns schon vor Jahrzehnten auf folgendes Verfahren geeinigt: Schauen, was an Problemen ansteht; analysieren und diskutieren, was an Behandlungsvorschlägen auf dem Tisch liegt; wenn überhaupt, dann erst hernach fragen, aus welcher Partei sie kommen. Das ist in der Praxis schwerer zu machen als hier schnell hingeschrieben, weil die meisten Politiker fast an jedes Statement zu irgendeiner Sache vorneweg Parteifähnchen pappen.

Leider verfährt ein Großteil des Publikums ganz ähnlich wie Parteivertreter. Weshalb allenthalben nicht zur Sache gedacht und diskutiert, sondern am liebsten palavert wird nach der Devise: Was aus der einen Parteiecke kommt, kann sowieso nur Käse sein, und Richtiges ausschließlich in der anderen erbrütet werden. Übrigens rührt von diesem Umstand, dass Walter und ich Wahlkämpfe nicht für Hochphasen der Demokratiekultur halten, sondern eher für deren Tiefpunkte. Womit klargestellt sein dürfte, dass wir beide niemandes Parteigänger sind – was die Teilhabe am Politdiskurs oder das Ringen um eine eigene Wahlentscheidung zwar erheblich interessanter macht, aber eben auch sehr viel anstrengender.

Zurück zu des Freundes Anwürfen. Die haben zu tun mit den Ergebnissen der auf die unselige Trump-Wahl gefolgten Wahlen in Westeuropa. Etwa in den Niederlanden, wo Wilders weit hinter den Erwartungen zurückblieb. Oder bei unseren französischen Freunden, wo die Wahlteilnehmer mit Dreiviertel-Mehrheit gegen Le Pen stimmten. Oder in Schleswig-Holstein, wo die Wähler der AfD einen Platz als kleine Randfraktion zugewiesen haben. Ähnlich ihr Abschneiden bei der NRW-Wahl, wo sie ursprünglich angetreten waren, kräftig zweistellig in den Düsseldorfer Landtag einzuziehen. Heraus kam bloß Einstelligkeit.

Walter liest das und schäumt: „Die faschistischen Rattenfänger haben überall zugelegt, du aber tust so, als sei die von ihnen ausgehende Gefahr gar nicht so groß. Hast du sie noch alle?” Jetzt bin ich frustriert, denn ich fühle mich sogar vom besten aller Freunde missverstanden. Doch, doch, die Gefahr ist real, dass allzu viele Zeitgenossen ihren über Jahrzehnte nur im Verborgenen rumorenden bräunlichen Einstellungen zusehends freien Lauf lassen oder andere der rechtsradikalen Bagage auf den Leim gehen. Dennoch, mir scheint das derzeit wichtigste Signal, das die besagten Wahlen ausstrahlten: Die Welt ist nicht völlig verrückt geworden, und die gewaltige Mehrheit der Menschen zumindest in Westeuropa mag von einer Rückwärtsrolle in Richtung borniert nationalautoritäre Lebensweise rein gar nichts wissen. Der noch unlängst – auch und gerade von uns, lieber Walter – befürchtete Durchmarsch der Rechtsradikalen an die Macht, er ist abgesagt.

„Dein Wort in der Völker oder Götter Ohren”, schnauft der Freund skeptisch. Er nimmt einen kräftigen Schluck aus seinem Humpen, streckt mir selbigen dann mit der Frage entgegen: „Ist der nun erfreulicherweise halb voll oder traurigerweise halb leer?” Ach Jung', sei zuversichtlich; uns geht der Trunk nicht aus. – Am Ende des Abends standen wir dann beide auf der Optimistenseite. Und zwar voll.

 

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 21./22. Woche im Mai 2017)

Quergedanken Nr. 147

ape. „Was ist das denn für eine doofe Frage!”, knottert Freund Walter angesichts der Überschrift. „Dein 14,90-Euro-Grill ist doch der einzige, der noch im Winterschlaf liegt. Jeder andere hat spätestens am hochsommerlichen April-Sonntag vor Ostern wieder geglüht, gebrutzelt, gequalmt.” Nichts gegen meine kleine Holzkohlewanne, bitteschön. Die beschert uns seit Jahren lecker geröstete Stücke von Schwein, Rind, Schaf, Huhn und Fisch nebst Bratkäse oder Grillgemüse. Gewiss, das gute Blechding kommt bei mir erst zum Einsatz, wenn man mit wohlig vollem Bauch noch ein paar Stunden an der Gartentafel beisammen sitzen kann, ohne sich den Allterwertesten abzufrieren.

Aber das versteht der Freund nicht, denn auf seinem Wildwuchs-Hang hoch über der Mosel wird selten, dafür zu jeder Jahreszeit gegrillt. Das geht dann so: Im Winter steht, im Sommer lagert die Gästebagage um ein Erdloch, darin ein Feuer aus Buchenholz lodert. Darüber wird ein aus Moniereisen zusammengeschweißter Rost gelegt. Walter nennt das „Grillreinigung”. Und tatsächlich gibt es keine wirksamere, obendrein bequemere Grillputzmethode als dieses Abflämmen und Ausglühen des Gitters. Sobald das Feuer zum flirrenden Gluthaufen niedergebrannt, schmeißt jede/r auf den Rost, was sie/er mitgebracht oder der Herr über diese Bräterei für alle bei seinem Geheimmetzger besorgt hat.

Manchmal lassen wir den Rost ganz weg und machen es wie in unserer Kindheit oder zuzeiten der Altvorderen: Jeder spießt auf einen angespitzten Stock ein Stückchen Fleisch oder eine Wurst und hält das Konstrukt andächtig übers Lagerfeuer. Ältere Leser werden sich erinnern, dass in den 1950-/60ern das private Grillen auf Holzkohlebecken hierzulande noch fast unbekannt war. Gegrilltes gab es bloß als Schaschlikspieß am Kirmes-Imbiss respektive als Grillhendl im Festzelt. Das private Holzkohlegrillen brachten erst „Gastarbeiter” und Urlaubsrückkehrer vor allem aus Griechenland, Jugoslawien und der Türkei mit – auf dass es seinen furiosen Siegeszug antrete in Parks und Gärten, an Fluss- und Seeufern, auf Terrassen und Balkonen.

Wie das aber so ist bei von unten gewachsenen Trends: Die Wirtschaft macht flugs ein Geschäftsmodell daraus. Galt in den 1980ern ein gusseiserner Grill für 70 Mark noch als übertriebener Luxus, so stand ich neulich fassungslos in der Grill-Ausstellungshalle eines Gartencenters vor Dutzenden Modellen. Viele mit jeder Menge Hightech gerüstet, bald ebenso groß und so teuer wie ein halber Kleinwagen. Ähnlich den Raumschiffen, die vorgeben, Kaffeemaschinen zu sein, können diese Grillmonster angeblich alles, was auch eine Gourmetküche schafft. Walter bläst die Backen auf: „Nur eines können sie halt nicht: Unsere Lust stillen auf einen Moment archaischer Einfachheit – bei einem schlichten, am Lagerfeuer oder über der offenen Glut bereiteten Mahl mit Freunden.”

Tja, Einfachheit ist eben ein Wachstumshindernis. Weshalb sie selbst dem Hobbygärtner ausgetrieben werden soll. Was bräuchte der für ein Gemüsegärtchen ureigentlich an Werkzeug? Nur Spaten oder Grabgabel, große Hacke, kleine Hacke, vielleicht einen Rechen; fertig. Was wird ihm aufgeschwatzt? Das Hundertfache in tausenderlei Variationen und, so die Werbung, in jedem Fall bei vermindertem Körpereinsatz den Ernteertrag steigernd. Walter kommentiert das mit dem knappen Satz: „Wer nicht schwitzen will, soll sich keinen Gemüsegarten anlegen.”

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 17. Woche im April 2017)

Quergedanken Nr. 146

ape. In trauter Freundesrunde entbrannte neulich zu später Stunde ein, sagen wir: lebhafter Disput. Es ging um kugelige Pillchen und häufig geschüttelte Tröpfchen, um deren Wirksamkeit oder nicht. Kurzum: Die Homöopathie stand zur Kontroverse an. Keine einfaches Gespräch in einem Kreis recht gescheiter Leute, die in dieser Frage jedoch sehr verschiedene Blickwinkel einnehmen. Die eine Hälfte ist sicher, seit jeher am eigenen Leib gute Erfahrungen mit Globoli und Co. gemacht zu haben. Die andere Hälfte hält es mit der etablierten Wissenschaft, die eine objektive Wirkung der Mittel partout nicht nachweisen kann.

Was das infolge Weinseligkeit hoch motiviert geführte Palaver noch verkomplizierte: Beiden Fraktionen ist eine sonst begrüßenswerte Skepsis gegenüber allem und jedem gemeinsam. Was diesmal wenig half. Denn während die eine Seite Skepsis gegen schulwissenschaftliche Forschungsmethoden ins Gefecht führte, resultierte aus der Skepsis der anderen Seite ein Bombardement mit Granaten wie „Placeboeffekt”, „Einbildung”, „Autosuggestion”. Zwischen den Fronten saß in aller Gemütsruhe Freund Walter. Er müffelte ungerührt Oliven, Schafskäse, mit Knoblauchbutter bestrichene Fladen, süffelte ein Glas Roten aufs andere und widmete sich anbei hingebungsvoll seiner 15-Euro-Festtagszigarre.

Just als sich die Zimmerschlacht zum Stellungskrieg verfestigte, fuhr Walter überraschend dazwischen: „Mir ist es völlig egal, ob ein Medikament Wirkstoffe enthält oder nicht, wenn es denn wirkt. Auch ein Placeboeffekt ist ein Effekt, und wenn der heilsam ausfällt, soll's mir recht sein. Mir als Patient ist gleichgültig wie das funktioniert, wenn es nur funktioniert.” Schweigen am Tisch, warten, bis sich der Freund nachgegossen hatte und mit der Glut der Tabaksrolle zufrieden war. Dann von ihm ein Schwall mit Erläuterungen zu uralten bis brandaktuellen Erkenntnissen über die Macht der Wundermaschine Gehirn sowie deren Einfluss auf den Leib und seine Befindlichkeiten. „Geist und Seele können uns krank machen, also können sie uns auch gesunden lassen.”

Schließlich das Resümee: „Für die meisten Zipperlein und Regelkrankheiten hat die Evolution in uns selbst Heilpotenziale angelegt. Die große Frage ist: Wie aktiviert man sie? Das wäre eine zentrale Herausforderung für konventionelle Doctores wie landläufige Medizinmänner/frauen. Wer auch immer auf welchem Weg auch immer mein Hirn dazu bewegt, den körpereigenen Reparaturapparat ans Laufen zu bringen, macht einen guten Job.” So sprach Walter, und ich darf hinzufügen: Wer bei ihm diesen Job machen muss, kann auf Gutgläubigkeit nicht bauen; denn der Freund glaubt stets erstmal an gar nichts, außer an das, was er sieht, hört, riecht, greifen kann, spürt.

Dabei geht er durchaus davon aus, dass es zwischen Himmel und Erde mehr gibt als wir bis dato wissen und messen können. Weshalb er im Einzellfall stets dem Prinzip folgt: „Quod esset demonstrandum, ich will Wirkungen erkennen und handfeste Resultate sehen. Der Glaube allein versetzt mir zu viele falsche Berge an die falschen Stellen.” Da ist dann höchste Medizinerkunst gefragt – oder ersatzweise ein gutes Medikament, das alsbald durchgreifend hilft. Walter ist in dieser Sache ganz pragmatisch: „Wenn die Heiler es nicht schaffen, rechtzeitig die körpereigene Apotheke aufzuschließen, müssen eben die Pharmazie und/oder Großmutters Hausmittel ran. Alles andere wäre Religion.”

 

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 12./13. Woche im März 2017)

Quergedanken Nr. 145

ape. Walter ist unleidlich. Sehr unleidlich. Er muss liegen, im Bett oder auf dem Sofa, rund um die Uhr. „Männergrippe” sagt die Nachbarin und verdreht die Augen. Sie ist eine nette alte Dame, die den Freund nun schon seit zehn Tagen unnachgiebig mit Pefferminzöl beträufelt, mit Kamilledampfschüsseln drangsaliert, mit Hühnerbrühe, Rindssuppe, honigübersüßtem Kräutertee und munteren Verzählches über Gott und den Niedergang der Welt nudelt. Seit die passionierte Zeitungsleserin und Fernsehverächterin weiß, dass der „Trump” geschriebene Name „Tramp” gesprochen wird, schimpft die resolute Rhein-Mosel-Seniorin ausdauernd lautstark über das „amerikanische Trampeltier und seine aufgepumpte Mieze”. Was sie indes nicht dazu bringt, die handgreifliche Intensivpflege des kränkelnden Freundes auch nur für einen Moment zu unterbrechen.

Ich finde ja, der Begriff „Männergrippe” ist ein Unding. Zumindest in der verniedlichenden und spottenden Bedeutung wie vor allem Frauen ihn neuerdings benutzen. Und ich weiß, wovon ich rede. Denn kurz bevor die Virenarmee Walter niederwarf, hatte sie gut zwei Wochen lang meinen Körper verheert und mein Hirn in einen dumpfigen Kerker gesperrt. Ladies, das ist nicht zum Lachen! Das glasäugig blubbernde Schniefen und wie tödlich verwundete Stöhnen des Kranken hat mit Wehleidigkeit und Weinerlichkeit rein gar nichts zu tun. Ihr habt vielmehr vor euch das tatsächliche Elend des Mannes, den die Unbilden seiner heimtückisch attackierten Natur auch tatsächlich leidvoll und schmerzensreich daran hindern, seinen Mann zu stehen.

Gewiss: Die meisten grippal infizierten Frauen haben das Schlimmste schon nach drei bis sechs Tagen überstanden und gehen dann sogleich klaglos wieder ihren normalen Geschäften nach. Solch unterschiedliche Krankheitsverläufe gründen jedoch mitnichten in charakterlichen Unterschieden von Frau und Mann. Sie sind vielmehr pure Natur. Selbst die Wissenschaft hat inzwischen entdeckt, dass grippaler Infekt wie manch andere Krankheit je nach Geschlecht vapeerschiedene Schweren und Verläufe zeitigt. Demnach ist es in Wahrheit so: Freund Walter ficht in seiner Matrazengruft einen heldenhaften Kampf gegen das Virenheer – und manche Stund' wohl auch gegen die wenig mitleidige Erbarmungslosigkeit seiner Pflegerin.

Das nachbarliche Fürsorgeregiment verhängte zuerst ein Rauchverbot, dann ein Nachrichtenverbot. Ersteres war überflüssig. Denn Walter gestand mir verzweifelt: „Jede Zigarette, ja selbst die feinste Kuba-Zigarre schmeckt nur noch nach glimmendem Filz.” Da wusste ich: Der Freund ist richtig krank. Zwecks Nachrichtenverbot hat die Umsorgerin einfach allen Empfangsgeräten den Stecker gezogen. Mit der Begründung: „Jedesmal wenn unser Patient von neuen Dekreten, Äußerungen, Plänen dieses amerikanischen Trumpeltiers erfährt, schießt sein Fieber hoch, dass man fürchten muss, er qualmt gleich aus den Ohren und spuckt Feuer.”

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Also erzähle ich dem Freund zwecks Aufmunterung und Beitrag zur Gesundung: Der liberale Teil des US-Volkes habe massiv in einen Verteidigungsmodus gegen den Präsidenten geschaltet. Zugleich mache sich unter halbwegs vernünftigen Verfassungskonservativen allmählich das Erkennen breit, welch faules Ei sie sich da ins Nest gelegt haben. „Du bindest mir gut gemeinte Fake-Bären auf”, hustet Walter. Ne, ne, mein Lieber, das sind begründete Hoffnungszeichen (hoffe ich jedenfalls).

 

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 9. Woche im Februar 2017)

 

Quergedanken Nr. 144

ape. Jeder kennt die Weisheit aus Omas Zeiten: „Es gibt kein falsches Wetter, nur falsche Kleidung.” Doch scheinen viele Leute von heute das für einen längst überholten Spruch zu halten. Als für Silvester und Folgetage plötzlich jahreszeitlich angemessene Temperaturen zwischen 7 und 15 Minusgraden angekündigt wurden, interessierte das kaum jemanden. Bis, ja bis die Kälte durch die Feinstrumpfhose unters Röckchen kniff, sich von strammen Jeans nicht hindern ließ, den Ar... auf Grundeis zu setzen, oder zart besockte Füße in Turnschühchen bläulich zu färben.

Übertrieben? Freund Walter jedenfalls, seines Zeichens Großstadtbewohner, berichtet von ihnen: den Jungen und den Schönsein-Wollenden, den Schicken und Hippen, den Trendies und Stylischen – die sich um Wetter nicht kümmern oder für die es an der Gürtellinie aufhört. Obenrum mit Pullovern, Jacken, Schals, Kappen, Hüten noch modisch eingemümmelt. Untenrum jedoch dem ultimativen Muss zum Sexappeal folgend: Frau hat Beinschönheit zu zeigen, Mann jeden Verdacht zu vermeiden, er könne einen „Liebestöter” untergezogen haben. Walter zeigt da keinen Deut Mitleid: „Wer trotz Eiseskälte sommerlich schön sein will, muss halt leiden.”

Jeder sollte eigentlich auch wissen, was es mit der Ansage „Eisregen und Blitzeis” auf sich hat. Da bleiben vernünftige Menschen daheim oder wo sie gerade sind, und warten ab, bis die Schweinerei vorüber ist. „Aber ich muss doch ….” zur Arbeit, zur Schule, zum Einkaufen, aufs Amt, in die Krankengymnastik. Nee, musst du nicht! Nutzt doch niemandem, wenn du dich gegen höhere Gewalt auflehnst, dann im Stau stillestehst, im Graben liegst oder dir als Fußgänger die Haxen brichst. Du kommst trotz blöder Heldenhaftigkeit Stunden zu spät oder gar nicht an.

Jeder kennt auch den Verkehrsfunk-Appell: Fahrweise dem Wetter anpassen! Es fielen beispielsweise an einem frühen Januarmorgen im Westerwald binnen kürzester Zeit fast zehn Zentimeter Pappschnee. Ergebnis: Der Berufsverkehr brach zusammen, die Kinder kamen nicht zur Schule und selbst auf den Autobahnen ums Dernbacher Dreieck ging für Stunden nichts mehr. Kann passieren, wenn Wetter ist. Da hilft kein ABS, kein Antischlupf, keine raffinierte Autoelektronik. Bei allgemeiner Verkehrsverstopfung nutzt selbst fahrerisches Können nichts. Da bleibt nur: Gasse bilden für Streufahrzeuge, abwarten und sich nicht aufregen. Allerdings bringen zwei Sachverhalte selbst gelassene Höhenbewohner in Rage: Fahrzeuge, die im Winter auf Sommersohlen unterwegs sind, und nassforsche Yuppies, die mit Schmackes an angemessen vorsichtig fahrenden Kolonnen vorbeidrängeln – um sich in der nächsten verschneiten Kurve oder Steigung querzulegen.

Walter kichert: „Immerhin braucht es bei euch im Westerwald für so ein Chaos etliche Zentimeter Schnee, bei uns unten am Rhein genügen dafür die sprichwörtlichen drei Flocken.” Die Folge dürfte in beiden Fällen die gleiche sein: Weit verbreitetes Meckern und Maulen entweder übers Sauwetter oder über die vermeintliche Unfähigkeit der Straßendienste, das öffentliche Leben nicht gänzlich unabhängig zu machen von Wettereinflüssen. Was soll man dazu sagen? Vielleicht dies: Seien wir doch froh, dass es wenigstens manchmal noch den natürlichen Unterschied gibt zwischen Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Und passen wir uns gegebenenfalls dem Wetter eben an – wie es die Menschen getan haben, seit es sie gibt.

 

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 3./4. Woche im Januar 2017)

 

Quergedanken Nr. 143

ape. 2016 war, pardon, ein Scheiß-Jahr. Eines Morgens bist du aufgewacht und meintest, im Schlafe weit in die Vergangenheit gerutscht zu sein. Der Kalte Krieg ist wieder da, die Türkei ein Sultanat und Britannien ein externes Inselreich. Überdies tönt ringsumher ein Wehgeschrei und Krakeel, die Welschen, also die Fremden von draußen, würden unsere Vorräte plündern und den roten Hahn auf die Kirchdächer setzen. Das jammert und schwadroniert wie anno 1794, als die „Froschschenkelfresser” in Koblenz einrückten. Damals musste der Kurfürst mitsamt Bagage Fersengeld geben. Dann hatten eine Weile erst die Revolutions-, nachher die Napoleonsfranzosen – jedenfalls der ”Erbfeind von drüben” – am Rhein-Mosel-Eck das Sagen.

Hat die Auffrischung hiesigen Blutes durch französisches den Koblenzern geschadet? Wohl kaum. Schließlich hat die grenzübergreifende Mesalliance ein gar edles Völkchen gezeugt: die „Schängel”. So nennen sich bis in unserer Tage stolz die Nachfahren damaliger Liebesfrüchte zwischen Heimischen und Welschen. Hat die Vertreibung des kurtrierisch-fürstbischöflichen Hofes die Stadt in kulturelle Finsternis gestürzt? Ach was, das republikanisierte Bürgertum am dazumal halt Französischen Eck nahm die kulturellen Angelegenheiten in die eigene Hand. Es setzte so manches Kulturding in die Welt, das bis heute Bestand hat und es dem Oberbürgermeister erlaubt, regelmäßig auszurufen: „Koblenz ist eine Kulturstadt!”

Und es ist eine Abendsausgehstadt. Das aber nur, weil sich hier Italiener, Griechen, Jugoslawen, Spanier, Türken, Südamerikaner, Asiaten, Afrikaner, ja sogar Saarländer, Schwaben und Bayern niedergelassen und Wirtshäuser eröffnet haben. Wie sähe sie denn aus, die Stadt an Rhein und Mosel, ohne all die Neu-Schängel? Au weh, dann hätte ein rein angloamerikanisch orientierter Markt die Sache geregelt und das kulinarische Nachtleben wäre eine Wüstenei aus Bouletten- und Hühnerflügelbratereien. Was für Koblenz gilt, gilt für alle anderen Städte auch, selbst die kleinen im Wald und auf der Höh': Simmern, Mayen, Bad Ems, Montabaur, Hachenburg, Altenkirchen e tutti quanti wären nicht nur gastronomisch längst tot ohne die frischen Kräfte von draußen.

„Deutschland den Deutschen”: welch gruselige Vorstellung – the walking dead. Die Städte kulinarisch und kulturell Einöden, weil uns nicht nur die Wirtshäuser fehlen würden. Den Orchestern, den Opern- und Ballettensembles etwa würde ein beträchtlicher Teil ihres Personals wegbrechen. Denn die sind alle so international wie die Rock- und Popszene, die Kinolandschaft, das Fernsehprogramm, die Wissenschaft …. Aber mit „dem Fremden kommt das Böse”, sagt leichtgläubiger Volksmund. Schon anno 1287 wurde über eine vom Rhein bei Bacharach angeschwemmte Jungenleiche die Mär erlogen, Juden hätten den Buben zu Ritualzwecken ermordet. Ergebnis: Hunderte Juden an Mittelrhein, Mosel und Niederrhein vom Mob totgeschlagen. Den Franzosen wurde später angedichtet, sie würden alles verzehren – Katzen, Hunde, kleine Kinder inklusive.

Gauner und Lumpen: Das sind für die Selbstgerechten stets nur die Anderen. Ach, Kinners, es ist so einfach, für jeden Verdruss jenen die Schuld zu geben, und darüber das simple Faktum zu verdrängen: Wo immer eine größere Zahl von Menschen beisammen ist, findet sich auch ein kleiner Anteil schlechter darunter – Hiesige und Zugereiste, Weiße und Farbige, Christen, Muselmanen und Gottlose ...

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website Woche 51/52 im Dezember 2016)

 

Infoanmerkung für Ortsfremde:

Schängel ist eine mundartliche Bezeichnung (Ortsneckname) für die in der Stadt Koblenz Geborenen (heute oft auch für langjährig hier Lebende). Der Begriff Schängel stammt aus der 20-jährigen Zugehörigkeit (1794–1814) der Stadt Koblenz zu Frankreich. Gemeint waren damit ursprünglich die von den Franzosen abstammenden Kinder deutscher Mütter. Der gängigste Name war damals Hans oder Johann, was dem französischen Jean entspricht. Die Koblenzer hatten aber Schwierigkeiten, Jean französisch auszusprechen, und in der Mundart der Koblenzer wurde daraus Schang. Hieraus entwickelte sich schließlich Schängel, eigentlich ein Diminutiv mit der Bedeutung Hänschen. Anfangs galt dies als Schimpfwort. Heute jedoch wird Schängel als Ehrenname verstanden.

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